BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 890/20 -
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn M ... , |
- Bevollmächtigter:
- ... -
gegen |
den Beschluss des Verwaltungsgerichts Gießen vom 29. April 2020 - 4 K 2860/17.GI.A - |
hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Vizepräsidentin König
und die Richter Müller,
Maidowski
gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der
Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473)
am 1. Juli 2021 einstimmig beschlossen:
- Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Gießen vom 29. April 2020 - 4 K 2860/17.GI.A - verletzt den Beschwerdeführer in seinem grundrechtsgleichen Recht aus Artikel 101 Absatz 1 Satz 2 Grundgesetz. Er wird aufgehoben
- Das Land Hessen hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten
I.
1. Der Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger. Seinen im September 2016 gestellten Asylantrag lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) durch Bescheid vom 23. März 2017 ab. Das hiergegen eingeleitete Klageverfahren übertrug die zuständige Kammer des Verwaltungsgerichts auf den Einzelrichter. Mit Schriftsatz vom 19. Februar 2020 lehnte der Beschwerdeführer den Einzelrichter wegen Besorgnis der Befangenheit ab. Zur Begründung berief er sich auf ein Urteil des abgelehnten Richters vom 9. August 2019 (4 K 2279/19.GI, juris), in dem dieser einer Klage der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD) gegen die Beseitigung eines Wahlplakats mit dem Slogan „Stoppt die Invasion: Migration tötet! Widerstand jetzt“ stattgegeben hatte. Es dränge sich der Eindruck auf, die Urteilsbegründung sei geeignet, rechtsextremistische, völkische und islamophobe Bestrebungen in der Bundesrepublik zu bestätigen und dadurch das teilweise asylfeindliche gesellschaftliche Klima zu verstärken. Insbesondere die Beschreibung der Situation im Herbst 2015, im Urteil als „Eindringen von außen in das Bundesgebiet“ und „invasive Einreise“ bezeichnet, lasse den Anfang 2016 eingereisten Beschwerdeführer befürchten, seine Klage werde bei diesem Richter unabhängig von seinem Klagevorbringen erfolglos bleiben.
2. Durch die vom Beschwerdeführer in Bezug genommene Entscheidung hat das Verwaltungsgericht festgestellt, dass die angegriffene Beseitigungsanordnung wegen eines Anhörungsmangels rechtswidrig sei (dort Rn. 18 bis 23). Im Anschluss daran (Rn. 39 bis 63) heißt es in der Entscheidung unter anderem: „Nach vorstehenden Ausführungen ist der Wortlaut des inkriminierten Wahlplakats der Klägerin ‚Migration tötet‘ nicht als volksverhetzend zu qualifizieren, sondern als die Realität teilweise darstellend zu bewerten. In der Tat hat die Zuwanderungsbewegung nach Deutschland ab dem Jahr 2014/2015 zu einer Veränderung innerhalb der Gesellschaft geführt, die sowohl zum Tode von Menschen geführt hat als auch geeignet ist, auf lange Sicht zum Tod der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu führen. […] Allein dem erkennenden Gericht sind Fälle bekannt, in denen Asylbewerber zu Mördern wurden. Zu nennen ist hier […]“.
3. In einer dienstlichen Erklärung führte der abgelehnte Richter aus, er halte sich nicht für befangen. Er unterscheide zwischen allgemeinen und indifferenten Wanderungsbewegungen einerseits und den individuellen guten Fluchtgründen eines Asylbewerbers andererseits, die er immer ernst nehme. Er hege für keine extremen Positionen oder Gewalt jedweder Art Sympathie, weder für rechts noch für links oder für religiösen Terror, die er allesamt ablehne.
4. Mit Beschluss vom 29. April 2020 wies das Verwaltungsgericht durch eine Kammerentscheidung ohne Mitwirkung des abgelehnten Richters das Ablehnungsgesuch des Beschwerdeführers zurück. Werde die Besorgnis der Befangenheit aus einer früheren Entscheidung des Richters hergeleitet, sei zu beachten, dass eine solche nicht allein deshalb begründet sei, weil der Richter bei der Würdigung des maßgeblichen Sachverhalts oder dessen rechtlicher Beurteilung eine andere Rechtsauffassung vertrete als ein Beteiligter. Das gelte selbst für irrige Ansichten, solange sie nicht willkürlich oder offensichtlich unhaltbar seien und damit Anhaltspunkte dafür böten, dass der Abgelehnte Argumenten nicht mehr zugänglich und damit nicht mehr unvoreingenommen sei. Das Ablehnungsverfahren diene – vom Ausnahmefall eines Verstoßes gegen das Willkürverbot abgesehen – nicht dazu, richterliche Entscheidungen auf ihre Richtigkeit zu überprüfen.
Der Bevollmächtigte des Beschwerdeführers berücksichtige in seiner Beurteilung des Urteils vom 9. August 2019, in dem in der Sache die Strafbarkeit eines Wahlplakats der NPD mit dem Slogan „Stoppt die Invasion: Migration tötet! Widerstand jetzt“ zu beurteilen gewesen sei, bereits nicht die gerade zu diesem Plakat vorliegende höchstrichterliche Rechtsprechung. So habe der Sächsische Verfassungsgerichtshof in einem die Entfernung dieses Plakats betreffenden Verfahren ausgeführt, dass die zugrundeliegenden angegriffenen Beschlüsse sächsischer Verwaltungsgerichte auf der Beurteilung schwieriger rechtlicher Fragen beruhten, bezüglich derer von einer gefestigten Rechtsprechung keine Rede sein könne. Vor allen Dingen habe das Bundesverfassungsgericht in seinem das Plakat und die vorgenannten verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen betreffenden Beschluss vom 24. Mai 2019 - 1 BvQ 45/19 - ausgeführt, es bestünden Zweifel an der Einschätzung der Verwaltungsgerichte, dass die Plakate als Volksverhetzung zu beurteilen seien. Schließlich habe das Thüringer...