Beschluss vom 03. März 2021 - 2 BvR 1400/20
Datum der Entscheidung: | 2021/03/03 |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 1400/20 -
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn M ... , |
- Bevollmächtigte:
- ... -
gegen |
a) |
den Beschluss des Verwaltungsgerichts Schwerin vom 15. Juli 2020 - 15 B 1110/20 SN -, |
b) |
den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 10. Juni 2020 - 8125141-160 - |
und | Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung |
und | Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung von ... , |
hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Vizepräsidentin König
und die Richter Müller,
Maidowski
am 3. März 2021 einstimmig beschlossen:
- Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Schwerin vom 15. Juli 2020 - 15 B 1110/20 SN - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 19 Absatz 4 Satz 1 in Verbindung mit Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes. Die Entscheidung wird aufgehoben. Die Sache wird an das Verwaltungsgericht Schwerin zurückverwiesen
- Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
- Das Land Mecklenburg-Vorpommern hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten. Damit erledigt sich der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe
- Der Gegenstandswert der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 15.000 (in Worten: fünfzehntausend) Euro festgesetzt.
I.
1. Der Beschwerdeführer ist russischer Staatsangehöriger tschetschenischer Volkszugehörigkeit. Seinen im Jahr 2015 im Bundesgebiet gestellten Asylantrag lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) mit Bescheid vom 1. Juni 2016 ab und drohte ihm die Abschiebung in die Russische Föderation an. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer fristgerecht Klage beim Verwaltungsgericht Schwerin.
2. Während des Klageverfahrens schrieben die russischen Behörden den Beschwerdeführer zur Fahndung aus und richteten ein Auslieferungsersuchen an die Bundesrepublik Deutschland. Dem Auslieferungsersuchen war ein Haftbefehl des Amtsgerichts von Atschchoi-Martan in der Tschetschenischen Republik vom 13. November 2017 beigefügt. Die Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation führte im Auslieferungsersuchen aus, dass dem Beschwerdeführer von der Untersuchungssektion der Abteilung des Ministeriums für Innere Angelegenheiten der Russischen Föderation für den Bezirk Atschchoi-Martan der Tschetschenischen Republik vorgeworfen werde, im Juni 2014 von Deutschland nach Syrien gereist und für den Islamischen Staat (IS) gekämpft zu haben. Dies sei nach Art. 208 Abs. 2 des Strafgesetzbuchs der Russischen Föderation („Beteiligung an einer bewaffneten Formation im Hoheitsgebiet eines ausländischen Staates, die durch Rechtsvorschriften dieses Staates nicht vorgesehen sind, begangen für Zwecke, die den Interessen der Russischen Föderation widersprechen“) strafbar.
3. Die Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation sicherte im Laufe des Auslieferungsverfahrens zu, dass gemäß den Völkerrechtsnormen dem Beschwerdeführer alle Verteidigungsmöglichkeiten gewährt werden würden, einschließlich des Beistandes von Rechtsanwälten. Der Beschwerdeführer werde keiner Folter und keiner grausamen, unmenschlichen, die menschliche Würde verletzenden erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung unterzogen. Das Auslieferungsersuchen habe keine politischen Motive und verfolge keine Zwecke im Zusammenhang mit der Rassenangehörigkeit, dem Glaubensbekenntnis, der Nationalität oder den politischen Anschauungen. Im Falle der Auslieferung werde der Beschwerdeführer in eine Anstalt verbracht, in der die Standards eingehalten würden, die in der EMRK und in den europäischen Strafvollzugsgrundsätzen beschrieben würden. Beamte der Deutschen Botschaft würden berechtigt sein, ihn zwecks Kontrolle der Einhaltung der erwähnten Gewährleistungen jederzeit zu besuchen. Deutsche Konsularbeamte dürften bei den Gerichtsverhandlungen anwesend sein und das Gerichtsverfahren beobachten. Nach Abschluss des Verfahrens werde der Botschaft oder dem entsprechenden deutschen Generalkonsulat in Russland auf Anfrage eine Kopie der endgültigen prozessualen Entscheidung übermittelt.
Unter Beachtung der Bitte der deutschen Seite, zuzusichern, dass die Ermittlungshandlungen außerhalb der Verwaltungsgrenzen des Föderationskreises Nordkaukasus stattfänden, teilte die Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation außerdem mit, dass das Ermittlungsdepartment des Ministeriums für Innere Angelegenheiten der Russischen Föderation das Strafverfahren am 22. März 2018 aus der Ermittlungssektion der Abteilung des Ministeriums für Innere Angelegenheiten der Russischen Föderation für den Bezirk Atschchoi-Martan entfernt und der Hauptermittlungsverwaltung der Hauptverwaltung des Ministeriums für Innere Angelegenheiten der Russischen Föderation für die Region Krasnodar zwecks Organisierung der weiteren Ermittlungen übergeben habe. Was die Feststellung der Haftanstalt angehe, werde die Verbüßung der Strafe im Falle der Auslieferung des Beschwerdeführers außerhalb der Verwaltungsgrenzen des Föderationskreises Nordkaukasus stattfinden.
4. Mit Beschluss vom 17. Juli 2018 erklärte das Oberlandesgericht Rostock die Auslieferung des Beschwerdeführers für unzulässig. Bei dem dem Beschwerdeführer gemachten Vorwurf, sich an einer illegalen bewaffneten Gruppierung in der Arabischen Republik Syrien beteiligt zu haben, handele es sich um eine politische Straftat, die nach Art. 3 Abs. 1 des Europäischen Auslieferungsabkommens in Verbindung mit § 6 Abs. 1 Satz 1 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen nicht auslieferungsfähig sei.
5. Mit Urteil vom 25. April 2019 wies das Verwaltungsgericht Schwerin nach Beiziehung der Akten aus dem Auslieferungsverfahren die Klage des Beschwerdeführers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, auf Gewährung subsidiären Schutzes und auf Feststellung von Abschiebungsverboten ab.
6. Den Antrag des Beschwerdeführers auf Zulassung der Berufung lehnte das Oberverwaltungsgericht Mecklenburg-Vorpommern mit Beschluss vom 16. Januar 2020 ab. Eine hiergegen erhobene Anhörungsrüge blieb erfolglos.
7. Eine vom Beschwerdeführer gegen das Urteil vom 25. April 2019 und den Beschluss vom 16. Januar 2020 erhobene Verfassungsbeschwerde (Aktenzeichen 2 BvR 273/20) wurde mangels Wahrung des Grundsatzes der Subsidiarität mit Beschluss vom 26. Februar 2020 nicht zur Entscheidung angenommen. Damit wurde der zeitgleich gestellte Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegenstandslos.
8. Mit Schreiben vom 21. April 2020 beantragte der Beschwerdeführer beim Bundesamt das Wiederaufgreifen des Verfahrens zu den Abschiebungsverboten und die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 3 EMRK.
Die Voraussetzungen des § 51 Abs. 5 in Verbindung mit § 48 Abs. 1 VwVfG für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens lägen vor. Der bestandskräftige Bescheid vom 1. Juni 2016 sei rechtswidrig, da kein Abschiebungsverbot zu seinen Gunsten festgestellt worden sei. Das Ermessen, das Verfahren wiederaufzugreifen und den Bescheid abzuändern, sei nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts auf Null reduziert, da er bei der Rückkehr in sein Herkunftsland einer extremen, individuellen Gefahrensituation ausgesetzt sei und deshalb ein Festhalten an der bestandskräftigen negativen Entscheidung über das Abschiebungsverbot zu einem schlechthin unerträglichen Ergebnis führen würde.
Da er wegen des Vorwurfs der Mitgliedschaft in einer terroristischen Gruppierung mit Haftbefehl eines tschetschenischen Gerichts gesucht werde, drohten ihm im Falle einer Rückkehr in die Russische Föderation unmenschliche oder erniedrigende Haftbedingungen in der Untersuchungs- und Strafhaft, Folter sowie ein rechtsstaatswidriges Strafverfahren. Die Lage in russischen Haftanstalten – sowohl im Nordkaukasus als auch in anderen Landesteilen – berge ohne jeden Zweifel die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung. Es seien keine Zusicherungen zu dem Gerichtsstandort des Strafverfahrens abgegeben worden, sodass davon ausgegangen werden müsse, dass das Strafverfahren gegen ihn am Gericht in Atschchoi-Martan in der Tschetschenischen Republik geführt werde. In der Vergangenheit habe durch Absprachen zwischen russischen und deutschen Behörden nicht verlässlich sichergestellt werden können, dass ausgelieferte Personen außerhalb der Tschetschenischen Republik verurteilt würden. Vor allem in der Tschetschenischen Republik sei er als mutmaßlicher Terrorist einem extrem hohen Risiko...
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