BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 1985/19 -
- 2 BvR 1986/19 -
über
die Verfassungsbeschwerden
der Frau S…, |
- Bevollmächtigter:
-
… -
gegen |
a) |
den Beschluss des Bayerischen Obersten Landesgerichts |
vom 2. Oktober 2019 - 206 StRR 1013/19, 206 StRR 1015/19 -, |
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b) |
das Urteil des Amtsgerichts Fürstenfeldbruck |
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vom 30. Januar 2019 - 3 Cs 42 Js 26676/18 - |
- 2 BvR 1985/19 -,
der Frau K…, |
- Bevollmächtigte:
-
… -
gegen |
a) |
den Beschluss des Bayerischen Obersten Landesgerichts |
vom 2. Oktober 2019 - 206 StRR 1013/19, 206 StRR 1015/19 -, |
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b) |
das Urteil des Amtsgerichts Fürstenfeldbruck |
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vom 30. Januar 2019 - 3 Cs 42 Js 26676/18 - |
- 2 BvR 1986/19 -
hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Richterin Hermanns,
den Richter Maidowski
und die Richterin Langenfeld
gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473)
am 5. August 2020 einstimmig beschlossen:
- Die Verfahren 2 BvR 1985/19 und 2 BvR 1986/19 werden zur gemeinsamen Entscheidung verbunden
- Die Verfassungsbeschwerden werden nicht zur Entscheidung angenommen
I.
1. Am 4. Juni 2018 gegen 23:00 Uhr entwendeten die beiden Beschwerdeführerinnen diverse Lebensmittel aus einem verschlossenen Abfallcontainer eines Supermarktes (sogenanntes „Containern“). Der Abfallcontainer, den die Beschwerdeführerinnen mit Hilfe eines mitgebrachten Vierkantschlüssels öffneten, befand sich in der Anlieferzone des Supermarktes und stand dort zur entgeltlichen Abholung durch den Abfallentsorger bereit.
2. Gegen die aufgrund dieses Sachverhalts erlassenen Strafbefehle vom 1. September 2018 legten die Beschwerdeführerinnen Einspruch ein. Eine von Gericht und Staatsanwaltschaft angeregte Einstellung der Verfahren gegen Leistung von acht Stunden gemeinnütziger Arbeit lehnten die Beschwerdeführerinnen ab.
3. Mit angegriffenem Urteil vom 30. Januar 2019 verwarnte das Amtsgericht F. die Beschwerdeführerinnen wegen gemeinschaftlich begangenen Diebstahls gemäß § 242 Abs. 1 StGB. Die Verurteilung zu einer Geldstrafe von 15 Tagessätzen zu je 15 Euro blieb vorbehalten. Mit Beschluss vom selben Tag setzte das Amtsgericht eine Bewährungszeit von zwei Jahren fest und legte den Beschwerdeführerinnen als Bewährungsauflage auf, acht Stunden gemeinnützige Arbeit bei einer Tafel zu leisten.
Der Filialleiter und der Bezirksleiter des Supermarktes hätten ausgesagt, dass in dem Container, der abends immer verschlossen werde, Lebensmittel entsorgt würden, deren Mindesthaltbarkeitsdatum abgelaufen sei oder die wegen ihres äußeren Erscheinungsbildes nicht mehr verkauft werden könnten. Für die Entsorgung bezahle der Supermarkt den Abfallentsorger. Grund für das Verschließen der Container seien der unbefugte Zugriff Dritter und hieraus resultierende mögliche Haftungsansprüche gewesen. Die Container seien jedoch immer wieder aufgebrochen worden.
Die Beschwerdeführerinnen hätten sich eines gemeinschaftlich begangenen Diebstahls schuldig gemacht. Entgegen ihrem Vorbingen hätten sich die Lebensmittel noch im Eigentum des Unternehmens befunden. Denn dieses sei für die in den Abfallcontainern entsorgte Ware haftungsrechtlich verantwortlich. Dass das Unternehmen nicht auf sein Eigentum verzichtet und dieses nicht dem Zugriff Dritter preisgegeben habe, komme auch durch das Verschließen der Container mit einem Schloss eindeutig zum Ausdruck. Eine Eigentumsaufgabe im Wege der sogenannten Dereliktion gemäß § 959 BGB habe jedenfalls nicht vorgelegen.
Bei der Strafzumessung sei zu berücksichtigen, dass die entwendete Ware für den Eigentümer wertlos gewesen sei. Zudem seien die nicht vorbestraften Beschwerdeführerinnen jedenfalls unmittelbar nach der Tatbegehung vollumfänglich geständig gewesen und hätten nicht in Bereicherungsabsicht, sondern einzig deshalb gehandelt, um auf den kritikwürdigen Umgang der Gesellschaft mit Lebensmitteln und anderen Ressourcen hinzuweisen.
4. Gegen die amtsgerichtliche Entscheidung legten die Beschwerdeführerinnen Sprungrevision ein.
Die Lebensmittel hätten nicht mehr im Eigentum des Supermarktes gestanden und seien daher nach dessen Eigentumsaufgabe nicht „fremd“ im Sinne des § 242 StGB, sondern herrenlos gewesen. Im vorliegenden Fall liege eine Eigentumsaufgabe durch den Supermarkt vor, denn wo, wenn nicht in einem Abfallcontainer, entledige man sich seines Eigentums.
Im Hinblick auf die Sozialbindung des Eigentums aus Art. 14 Abs. 2 GG sowie den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen nach Art. 20a GG bleibe auch offen, worin der Unrechtsgehalt der vorgeworfenen Handlungen liege. Bei einer Wegnahme von Joghurtbechern, Äpfeln oder Birnen aus einem für Abfall vorgesehenen Container sei nicht ersichtlich, inwiefern die Rechtsordnung hierdurch gefährdet werde.
5. Die Generalstaatsanwaltschaft beantragte mit ausführlich begründeter Stellungnahme vom 22. Mai 2019 die Verwerfung der Revisionen als unbegründet.
6. Mit angegriffenem Beschluss vom 2. Oktober 2019, den Beschwerdeführerinnen zugegangen am 9. Oktober 2019, verwarf das Bayerische Oberste Landesgericht die Revisionen der Beschwerdeführerinnen als unbegründet und berichtigte den Schuldspruch lediglich dahingehend, dass die Worte „gemeinschaftlich begangen“ entfielen.
Die Auffassung des Amtsgerichts, dass die Lebensmittel fremd gewesen seien, begegne keinen rechtlichen Bedenken. Fremd sei eine Sache, die nach bürgerlichem Recht im Eigentum (irgend)einer anderen Person stehe.
Auch die Wertlosigkeit einer Sache als solche gewähre Dritten nicht das Recht zur Wegnahme. Aus dem Umstand, dass die Lebensmittel zur Entsorgung in einen Abfallcontainer geworfen worden seien, folge nicht zwingend, dass dem Eigentümer das weitere Schicksal der Sache gleichgültig sei. Eine Eigentumsaufgabe komme vielmehr nur dann in Betracht, wenn der Wille vorherrsche, sich der Sache ungezielt zu entäußern. So liege der Fall hier jedoch nicht.
Bereits dadurch, dass der auf dem Unternehmensgelände und nicht etwa im öffentlichen Raum stehende Container abgesperrt gewesen sei, habe der Eigentümer für Dritte deutlich gemacht, dass das Unternehmen die Lebensmittel nicht dem Zugriff beliebiger Dritter habe anheimgeben wollen und dass keine Einwilligung mit einer Mitnahme bestanden habe. Hinzu komme, dass die Lebensmittel zur Abholung durch ein von dem Eigentümer gesondert bezahltes Entsorgungsunternehmen bereitgestellt worden seien. Ein Verzichtswille, der zur Herrenlosigkeit der Sache führe, liege dann nicht vor, wenn der Eigentümer das Eigentum nur zugunsten einer anderen Person oder Organisation aufgeben wolle. Dies gelte beispielsweise in Fällen, in denen der Entsorgende für eine ordnungsgemäße Abfallentsorgung verantwortlich sei, oder wenn der Entsorgende – wie hier – für die gesundheitliche Unbedenklichkeit der in den Verkehr gebrachten Lebensmittel einzustehen habe.
7. Mit Schriftsätzen vom 14. und 16. Oktober 2019 erhoben die Beschwerdeführerinnen Anhörungsrügen und rügten die fehlende Auseinandersetzung mit Verfassungsrecht sowie mit Fragen des subjektiven...