Beschluss vom 05. September 2024 - 2 BvL 3/17
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2024:lk20240905.2bvl000317 |
Judgement Number | 2 BvL 3/17 |
Date | 05 September 2024 |
Citation | BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 05. September 2024 - 2 BvL 3/17 -, Rn. 1-62, |
Court | Constitutional Court (Germany) |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvL 3/17 -
zur verfassungsrechtlichen Prüfung,
ob § 32 Absatz 6 Sätze 1 bis 3 Einkommensteuergesetz | ||
in der für das Jahr 2014 geltenden Fassung verfassungswidrig sind, | ||
- Aussetzungs- und Vorlagebeschluss des Niedersächsischen Finanzgerichts |
hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Richterinnen Langenfeld,
Fetzer
und den Richter Offenloch
gemäß § 81a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung
vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473)
am 5. September 2024 einstimmig beschlossen:
- Die Vorlage ist unzulässig
A.
Der Antrag auf konkrete Normenkontrolle nach Art. 100 Abs. 1 GG betrifft die Frage, ob der Kinderfreibetrag für das sächliche Existenzminimum eines Kindes nach § 32 Abs. 6 Satz 1 Halbsatz 1 Einkommensteuergesetz (EStG) für das Jahr 2014 der Höhe nach verfassungsrechtlichen Anforderungen gerecht wird.
I.
1. a) Die Regelung zum Kinderfreibetrag ist Teil des sogenannten Familienleistungsausgleichs (§ 31 EStG). Anliegen des Familienleistungsausgleichs (vgl. § 31 Satz 1 EStG) ist die steuerliche Freistellung des Existenzminimums eines Kindes einschließlich seiner Bedarfe für Betreuung und Erziehung oder Ausbildung. Zu diesem Zweck werden nach § 32 Abs. 6 EStG entweder der Kinderfreibetrag – dessen Höhe Gegenstand der Normenkontrolle ist – und der Freibetrag für den Betreuungs- und Erziehungs- oder Ausbildungsbedarf bei der Berechnung der Einkommensteuer berücksichtigt oder es wird stattdessen Kindergeld als Steuervergütung gewährt.
Ob Kindergeld gewährt wird oder die Freibeträge des § 32 Abs. 6 EStG zu berücksichtigen sind, richtet sich gemäß § 31 Satz 4 EStG nach einer Vergleichsberechnung (sog. Günstigerprüfung): Mindert sich die Einkommensteuer durch die Berücksichtigung der Freibeträge in einer Höhe, die das Kindergeld übersteigt, werden die – sich im höheren Maße steuermindernd auswirkenden – Freibeträge des § 32 Abs. 6 EStG gewährt, wobei der Anspruch auf das Kindergeld die tarifliche Einkommensteuer erhöht. Andernfalls verbleibt es bei dem – für den Steuerpflichtigen dann vorteilhafteren – Kindergeld. In diesem Fall soll das Kindergeld, soweit es nach dieser Berechnung nicht der steuerlichen Freistellung des Existenzminimums des Kindes dient, eine Förderung der Familie bewirken (vgl. § 31 Satz 2 EStG).
b) Ergibt sich nach der Günstigerprüfung eine Berücksichtigung der Freibeträge nach § 32 Abs. 6 EStG, sind bei der Ermittlung der Einkommensteuer für jedes Kind die in § 32 Abs. 6 Satz 1 EStG niedergelegten Freibeträge zum Abzug zu bringen. Das Gesetz sieht insoweit zum einen den Abzug eines Kinderfreibetrags vor, durch den das sächliche Existenzminimum eines Kindes von der Einkommensteuer freigestellt werden soll (vgl. § 32 Abs. 6 Satz 1 Halbsatz 1 EStG). Zum anderen ist für den Betreuungs- und Erziehungs- oder Ausbildungsbedarf eines Kindes ein weiterer Freibetrag abzuziehen (vgl. § 32 Abs. 6 Satz 1 Halbsatz 2 EStG).
Im gesetzlichen Regelfall sind hierbei zwei Steuerpflichtige unabhängig voneinander zum Abzug der Freibeträge berechtigt. Fehlt es hieran, weil die Eltern als Ehegatten zusammenveranlagt werden (vgl. § 32 Abs. 6 Satz 2 EStG) oder weil der andere Elternteil verstorben oder nicht unbeschränkt einkommensteuerpflichtig ist (vgl. § 32 Abs. 6 Satz 3 Nr. 1 EStG), verdoppeln sich die Freibeträge beim allein verbleibenden Steuerpflichtigen. Gleiches gilt in den Fällen, in denen der Steuerpflichtige allein das Kind angenommen hat oder es nur zu ihm in einem Pflegekindschaftsverhältnis steht (vgl. § 32 Abs. 6 Satz 3 Nr. 2 EStG). Im Ergebnis führt die gesetzliche Konzeption dazu, dass für eine Betrachtung der für jedes Kind insgesamt gewährten Kinderfreibeträge und Freibeträge für den Betreuungs- und Erziehungs- oder Ausbildungsbedarf das Doppelte der im Gesetz genannten Beträge maßgebend ist.
c) Ab dem Jahr 2009 waren so nach der Änderung durch das Gesetz zur Beschleunigung des Wirtschaftswachstums - Wachstumsbeschleunigungsgesetz - vom 22. Dezember 2009 (BGBl I S. 3950) jährlich ein Kinderfreibetrag in Höhe von 2.184 Euro (d.h. je Kind 4.368 Euro) und ein jährlicher Freibetrag für den Betreuungs- und Erziehungs- oder Ausbildungsbedarf in Höhe von 1.320 Euro (d.h. je Kind 2.640 Euro) zu berücksichtigen. Diese Freibeträge galten auch im hier maßgeblichen Jahr 2014, sodass je Kind Freibeträge in Höhe von insgesamt 7.008 Euro in Ansatz gebracht wurden. Mit dem Gesetz zur Anhebung des Grundfreibetrags, des Kinderfreibetrags, des Kindergeldes und des Kinderzuschlags vom 16. Juli 2015 (BGBl I S. 1202) wurde mit Wirkung ab dem Jahr 2015 der Kinderfreibetrag – nicht jedoch der Freibetrag für den Betreuungs- und Erziehungs- oder Ausbildungsbedarf – um 72 Euro auf jährlich 2.256 Euro angehoben, sodass sich die insgesamt je Kind zu berücksichtigenden Beträge um 144 Euro auf 7.152 Euro erhöhten.
2. Rechtstatsächlich liegen der Ermittlung des Kinderfreibetrags – ebenso wie der Ermittlung des Grundfreibetrags – die Berichte über die Höhe des steuerfrei zu stellenden Existenzminimums von Erwachsenen und Kindern zugrunde (Existenzminimumberichte). Sie gehen zurück auf einen Beschluss des Deutschen Bundestages vom 2. Juni 1995, mit dem die Bundesregierung aufgefordert worden war, alle zwei Jahre einen Bericht über die Entwicklung des Existenzminimums von Erwachsenen und Kindern vorzulegen (BT-Plenarprotokoll 13/42, S. 3410; BTDrucks 13/1558, S. 13).
Entsprechend diesem Beschluss leitete die Bundesregierung mit Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen vom 7. November 2012 dem Deutschen Bundestag den Neunten Existenzminimumbericht betreffend die für das Jahr 2014 steuerfrei zu stellenden Existenzminima von Erwachsenen und Kindern zu. In diesem wurde für das Jahr 2014 – anknüpfend an den im Sozialhilferecht konkretisierten Mindestbedarf – prognostisch ein altersunabhängig steuerfrei zu stellendes sächliches Existenzminimum für Kinder in Höhe von 4.440 Euro ermittelt (BTDrucks 17/11425, S. 4 ff.). Eine altersabhängige Staffelung des zu berücksichtigenden Betrags nach dem Alter des Kindes sei verfassungsrechtlich nicht geboten (BTDrucks 17/11425, S. 2, 4). Soweit die bei der Ermittlung des sächlichen Existenzminimums zu berücksichtigenden sozialhilferechtlichen Regelbedarfe und die typischen Bedarfe für Leistungen für Bildung und Teilhabe altersabhängig ausgestaltet seien, werde unter Berücksichtigung der bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres bestehenden Bedarfe ein mit der Anzahl der Lebensjahre gewichteter Durchschnittsbetrag gebildet (BTDrucks 17/11425, S. 4 ff.). Dieses Vorgehen bei der Ermittlung des altersunabhängigen Betrags entspreche dem Vorgehen der Bund-/Länder-Kommission, deren Berechnungen Grundlage des Beschlusses des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 29. Mai 1990 - 1 BvL 20, 26/84 und 4/86 - gewesen seien (BVerfGE 82, 60 <94 ff.>). Das Vorgehen sei mit dem einfachen Recht vereinbar, da im Familienleistungsausgleich Kinder grundsätzlich nur bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres zu berücksichtigen seien. Es handele sich um eine typisierende Betrachtung (BTDrucks 17/11425, S. 5). Im Ergebnis sei – so der Bericht – für das Jahr 2014 eine Erhöhung des zu diesem Zeitpunkt gesetzlich vorgesehenen Freibetrags in Höhe von 4.368 Euro auf einen Betrag von 4.440 Euro erforderlich, was die Bundesregierung rechtzeitig gesetzgeberisch auf den Weg bringen werde (BTDrucks 17/11425, S. 7). Hierzu kam es jedoch nicht.
II.
1. Die Klägerin des Ausgangsverfahrens ist verwitwet und alleinerziehende Mutter zweier in den Jahren 1993 und 1998 geborener Töchter. Im Streitjahr 2014 ging die ältere Tochter der Klägerin, die zu diesem Zeitpunkt das 18., aber noch nicht das 25. Lebensjahr vollendet hatte, einer erstmaligen Berufsausbildung nach und unterhielt einen eigenen Haushalt. Die jüngere Tochter der Klägerin, die im Streitjahr 2014 noch nicht das 18. Lebensjahr vollendet hatte, lebte im Haushalt der Klägerin.
2. Im Bescheid für 2014 über Einkommensteuer und Solidaritätszuschlag berücksichtigte das Finanzamt bei der Festsetzung dieser Steuern für beide Kinder die Freibeträge des § 32 Abs. 6 Satz 1 EStG in Höhe von insgesamt jeweils 7.008 Euro und erhöhte dementsprechend die tarifliche Einkommensteuer um den Anspruch der Klägerin auf Kindergeld. Für die ältere Tochter der Klägerin brachte das Finanzamt zudem zur Abgeltung des Sonderbedarfs eines sich in Berufsausbildung befindlichen, auswärtig untergebrachten volljährigen Kindes den Freibetrag nach § 33a Abs. 2 Satz 1 EStG in Höhe von 924 Euro in Abzug. Die Festsetzung erfolgte gemäß § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO vorläufig hinsichtlich der Höhe der kindbezogenen Freibeträge nach § 32 Abs. 6 Sätze 1 und 2 EStG.
Die Klägerin legte gegen den Bescheid Einspruch ein, den sie unter anderem – unter Beifügung eines von ihr mitverfassten Fachbeitrags – mit der Verfassungswidrigkeit der Höhe der Freibeträge nach § 32 Abs. 6 Satz 1 EStG begründete. Das Finanzamt wies den Einspruch der Klägerin insoweit mit Teil-Einspruchsentscheidung als unbegründet zurück.
3. Im nachfolgenden Klageverfahren setzte der 7. Senat des Niedersächsischen Finanzgerichts das Verfahren mit Beschluss vom 2. Dezember 2016 aus und legte dem Bundesverfassungsgericht die Frage vor, ob § 32 Abs. 6 Sätze 1 bis 3 Einkommensteuergesetz – die die Höhe der im Familienleistungsausgleich zu gewährenden Freibeträge...
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