Beschluss vom 06. November 2019 - 1 BvR 276/17
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2019:rs20191106.1bvr027617 |
Citation | BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 06. November 2019 - 1 BvR 276/17 -, Rn. (1-142), |
Judgement Number | 1 BvR 276/17 |
Date | 06 Noviembre 2019 |
Court | Constitutional Court (Germany) |
Leitsätze
zum Beschluss des Ersten Senats vom 6. November 2019
- 1 BvR 276/17 -
(Recht auf Vergessen II)
- Soweit die Grundrechte des Grundgesetzes durch den Anwendungsvorrang des Unionsrechts verdrängt werden, kontrolliert das Bundesverfassungsgericht dessen Anwendung durch deutsche Stellen am Maßstab der Unionsgrundrechte. Das Gericht nimmt hierdurch seine Integrationsverantwortung nach Art. 23 Abs. 1 GG wahr
- Bei der Anwendung unionsrechtlich vollständig vereinheitlichter Regelungen sind nach dem Grundsatz des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts in aller Regel nicht die Grundrechte des Grundgesetzes, sondern allein die Unionsgrundrechte maßgeblich. Der Anwendungsvorrang steht unter anderem unter dem Vorbehalt, dass der Schutz des jeweiligen Grundrechts durch die stattdessen zur Anwendung kommenden Grundrechte der Union hinreichend wirksam ist
- Soweit das Bundesverfassungsgericht die Charta der Grundrechte der Europäischen Union als Prüfungsmaßstab anlegt, übt es seine Kontrolle in enger Kooperation mit dem Europäischen Gerichtshof aus. Nach Maßgabe des Art. 267 Abs. 3 AEUV legt es dem Gerichtshof vor
- Wie die Grundrechte des Grundgesetzes gewährleisten auch die Grundrechte der Charta nicht nur Schutz im Staat-Bürger-Verhältnis, sondern auch in privatrechtlichen Streitigkeiten. Auf der Basis des maßgeblichen Fachrechts sind daher die Grundrechte der Beteiligten miteinander in Ausgleich zu bringen. Insoweit prüft das Bundesverfassungsgericht – wie bei den Grundrechten des Grundgesetzes – nicht das Fachrecht, sondern allein, ob die Fachgerichte den Grundrechten der Charta hinreichend Rechnung getragen und einen vertretbaren Ausgleich gefunden haben.
- Soweit Betroffene von einem Suchmaschinenbetreiber verlangen, den Nachweis und die Verlinkung bestimmter Inhalte im Netz zu unterlassen, sind in die danach gebotene Abwägung neben den Persönlichkeitsrechten der Betroffenen (Art. 7 und Art. 8 GRCh) im Rahmen der unternehmerischen Freiheit der Suchmaschinenbetreiber (Art. 16 GRCh) die Grundrechte der jeweiligen Inhalteanbieter sowie die Informationsinteressen der Internetnutzer einzustellen.
- Soweit das Verbot eines Suchnachweises in Ansehung des konkreten Inhalts der Veröffentlichung ergeht und dem Inhalteanbieter damit ein wichtiges Medium zu dessen Verbreitung entzieht, das ihm anderweitig zur Verfügung stünde, liegt hierin eine Einschränkung seiner Meinungsfreiheit.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 276/17 -
über
die Verfassungsbeschwerde
der Frau B…, |
- Bevollmächtigte:
- … -
gegen |
das Urteil des Oberlandesgerichts Celle vom 29. Dezember 2016 - 13 U 85/16 - |
hat das Bundesverfassungsgericht - Erster Senat -
unter Mitwirkung der Richterinnen und Richter
Vizepräsident Harbarth,
Masing,
Paulus,
Baer,
Britz,
Ott,
Christ,
Radtke
am 6. November 2019 beschlossen:
- Die Verfassungsbeschwerde wird zurückgewiesen.
A.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft einen gegenüber einem Suchmaschinenbetreiber geltend gemachten Anspruch auf Unterlassung der Anzeige eines Suchergebnisses, das bei Eingabe des vollständigen Namens der Beschwerdeführerin erscheint.
I.
1. Am 21. Januar 2010 strahlte der Norddeutsche Rundfunk einen Beitrag des Fernsehmagazins „Panorama“ mit dem Titel „Kündigung: Die fiesen Tricks der Arbeitgeber“ aus. Gegen Ende dieses Beitrags wurde der Fall eines gekündigten ehemaligen Mitarbeiters des von der Beschwerdeführerin als Geschäftsführerin geleiteten Unternehmens dargestellt. Ihr wurde in dem Beitrag in Anknüpfung an die geplante Gründung eines Betriebsrats ein unfairer Umgang mit dem Mitarbeiter vorgeworfen. Sie hatte für den „Panorama“-Beitrag ein Interview gegeben, in dem es unter anderem um die Kündigung dieses Mitarbeiters ging.
Der Norddeutsche Rundfunk stellte eine Datei mit einem Transkript des „Panorama“-Beitrags unter dem Titel „Die fiesen Tricks der Arbeitgeber - Das Erste“ auf seiner Internetseite ein. Bei Eingabe des vollständigen Namens der Beschwerdeführerin in die Suchmaske des im Ausgangsverfahren beklagten Suchmaschinenbetreibers Google Inc., mittlerweile Google LLC (im Folgenden: der Beklagte), wurde als eines der ersten Suchergebnisse die Verlinkung auf diese Datei angezeigt. Gegen die Anzeige dieses Links durch die Internetsuchmaschine wandte sich die Beschwerdeführerin.
Nachdem der Suchmaschinenbetreiber es abgelehnt hatte, die Anzeige des von der Beschwerdeführerin monierten Suchergebnisses zu unterlassen, erhob die Beschwerdeführerin Klage vor dem Landgericht und beantragte, ihn zu verurteilen, den bei Eingabe ihres Namens in die Suchmaschine angezeigten Link künftig nicht weiter nachzuweisen.
2. Mit Urteil vom 22. April 2016 verurteilte das Landgericht den Suchmaschinenbetreiber dazu, den bei Eingabe des Namens der Beschwerdeführerin angezeigten Link auf die Internetseite des Norddeutschen Rundfunks, auf dem die Datei mit dem Transkript des „Panorama“-Beitrags eingestellt ist, zu entfernen, eine Weiterleitung auf diese Internetseite zu unterlassen und durch geeignete Maßnahmen zu verhindern, dass der Link nach der Entfernung erneut erscheint. Dieser Anspruch stehe der Beschwerdeführerin aus §§ 823, 1004 BGB in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 GG zu.
Mehr als sechs Jahre nach dem Interview der Beschwerdeführerin stellten die Anzeige des streitbefangenen Suchergebnisses, der angezeigte Titel und die Weiterleitung auf die Internetseite mit dem Transkript des „Panorama“-Beitrags einen rechtswidrigen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Beschwerdeführerin in Form des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung dar. Demgegenüber sei der Pressefreiheit der den Beitrag erstellenden Redaktion und der Informationsfreiheit der Öffentlichkeit kein Vorrang mehr einzuräumen. Auch die Berücksichtigung der Berufsfreiheit des Suchmaschinenbetreibers nach Art. 12 GG führe im Rahmen der notwendigen Abwägung nicht zu einem anderen Ergebnis. Die Anzeige des Suchergebnisses und die abrufbaren Informationen berührten die Beschwerdeführerin in ihrer Privatsphäre, da insbesondere der Bezug zur Wertung „fies“ für den durchschnittlichen Internetnutzer auf einen unangenehmen, hinterlistigen, abstoßenden Charakter schließen lasse. Insofern sei es nachvollziehbar, dass das Suchergebnis auch Auswirkungen auf das Privatleben der Beschwerdeführerin habe und nicht nur auf die berufliche Tätigkeit beschränkt sei. Der Löschungsanspruch aus § 35 Abs. 2 Satz 2 des Bundesdatenschutzgesetzes in der bis zum 24. Mai 2018 geltenden Fassung (BDSG a.F.), der ein Schutzgesetz im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB sei, müsse hier zur Geltung gebracht werden. Unter Bezugnahme auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs Google Spain (EuGH, Urteil vom 13. Mai 2014, C-131/12, EU:C:2014:317), in dem der Gerichtshof durch Auslegung der Richtlinie 95/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. Oktober 1995 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr (ABl. L 281 vom 23. November 1995, S. 31 ff.; im Folgenden: DSRL 95/46/EG) und von Art. 7, Art. 8 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) Aussagen zur Löschung von Informationen aufgrund eines längeren Zeitablaufs (sogenanntes „Recht auf Vergessenwerden“) getroffen hat, sei in diesem Fall von der „Wohlverhaltensperiode“ in Anlehnung an die Restschuldbefreiung gemäß §§ 286 ff. der Insolvenzordnung (InsO), die sechs Jahre beträgt, auszugehen. Da seit dem von der Beschwerdeführerin gegebenen Interview mehr als sechs Jahre vergangen seien und die damaligen Informationen in dieser Zeit keine neue Aktualität gewonnen hätten, sei dem Antrag der Beschwerdeführerin stattzugeben.
3. Auf die Berufung des Suchmaschinenbetreibers wies das Oberlandesgericht mit von der Beschwerdeführerin angegriffenem Urteil vom 29. Dezember 2016 die Klage ab. Die Beschwerdeführerin könne weder aus § 35 Abs. 2 Satz 2 BDSG a.F. noch aus § 823 Abs. 1, § 1004 BGB in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 GG die Entfernung des Links zum Transkript des Fernsehbeitrags oder die Unterlassung der Weiterleitung auf diesen Link (im Weiteren auch: Auslistung) beanspruchen.
a) Ein Anspruch der Beschwerdeführerin auf Auslistung ergebe sich nicht aus § 35 Abs. 2 Satz 2 BDSG a.F. unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu Art. 12 Buchstabe b DSRL 95/46/EG. Die Speicherung des streitgegenständlichen Links sei zulässig. Dies ergebe sich aus § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BDSG a.F., weil die Daten aus allgemein zugänglichen Quellen – hier dem öffentlich zugänglichen Archiv des Norddeutschen Rundfunks – stammten und das schutzwürdige Interesse der Beschwerdeführerin am Ausschluss der Speicherung nicht offensichtlich überwiege.
Zwar könne sich der Suchmaschinenbetreiber nicht selbst auf die Presse- und Meinungsfreiheit und damit auch nicht auf das Medienprivileg des § 41 BDSG a.F. berufen, weil die bloße automatische Auflistung fremder redaktioneller Beiträge noch keine eigene journalistisch-redaktionelle Gestaltung darstelle. Jedoch sei jedenfalls dann, wenn der Suchmaschinenbetreiber einen zulässigerweise veröffentlichten Beitrag der Presse verlinke, in die Abwägung...
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