Beschluss vom 06. November 2019 - 1 BvR 16/13
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2019:rs20191106.1bvr001613 |
Judgement Number | 1 BvR 16/13 |
Citation | BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 06. November 2019 - 1 BvR 16/13 -, Rn. (1-157), |
Date | 06 Noviembre 2019 |
Court | Constitutional Court (Germany) |
Leitsätze
zum Beschluss des Ersten Senats vom 6. November 2019
- 1 BvR 16/13 -
(Recht auf Vergessen I)
- a) Unionsrechtlich nicht vollständig determiniertes innerstaatliches Recht prüft das Bundesverfassungsgericht primär am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes, auch wenn das innerstaatliche Recht der Durchführung des Unionsrechts dient
- b) Die primäre Anwendung der Grundrechte des Grundgesetzes stützt sich auf die Annahme, dass das Unionsrecht dort, wo es den Mitgliedstaaten fachrechtliche Gestaltungsspielräume einräumt, regelmäßig nicht auf eine Einheitlichkeit des Grundrechtsschutzes zielt, sondern Grundrechtsvielfalt zulässt.
- Es greift dann die Vermutung, dass das Schutzniveau der Charta der Grundrechte der Europäischen Union durch die Anwendung der Grundrechte des Grundgesetzes mitgewährleistet ist.
- c) Eine Ausnahme von der Annahme grundrechtlicher Vielfalt im gestaltungsoffenen Fachrecht oder eine Widerlegung der Vermutung der Mitgewährleistung des Schutzniveaus der Charta sind nur in Betracht zu ziehen, wenn hierfür konkrete und hinreichende Anhaltspunkte vorliegen.
- a) Der verfassungsrechtliche Maßstab für den Schutz gegenüber Gefährdungen durch die Verbreitung personenbezogener Berichte und Informationen als Teil öffentlicher Kommunikation liegt in den äußerungsrechtlichen Ausprägungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, nicht im Recht auf informationelle Selbstbestimmung.
- b) Bei der Entscheidung über einen Schutzanspruch kommt der Zeit unter den Kommunikationsbedingungen des Internets ein spezifisches Gewicht zu. Die Rechtsordnung muss davor schützen, dass sich eine Person frühere Positionen, Äußerungen und Handlungen unbegrenzt vor der Öffentlichkeit vorhalten lassen muss. Erst die Ermöglichung eines Zurücktretens vergangener Sachverhalte eröffnet den Einzelnen die Chance zum Neubeginn in Freiheit. Zur Zeitlichkeit der Freiheit gehört die Möglichkeit des Vergessens.
- c) Aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht folgt kein Anspruch, alle personenbezogenen Informationen, die im Rahmen von Kommunikationsprozessen ausgetauscht wurden, aus dem Internet entfernen zu lassen. Insbesondere gibt es kein Recht, öffentlich zugängliche Informationen nach freier Entscheidung und allein eigenen Vorstellungen zu filtern und auf die Aspekte zu begrenzen, die Betroffene für relevant oder für dem eigenen Persönlichkeitsbild angemessen halten.
- d) Für den Grundrechtsausgleich zwischen einem Presseverlag, der seine Berichte in einem Onlinearchiv bereitstellt, und den durch die Berichte Betroffenen ist zu berücksichtigen, wieweit der Verlag zum Schutz der Betroffenen die Erschließung und Verbreitung der alten Berichte im Internet – insbesondere deren Auffindbarkeit durch Suchmaschinen bei namensbezogenen Suchabfragen – tatsächlich verhindern kann.
- Von den äußerungsrechtlichen Schutzdimensionen ist das Recht auf informationelle Selbstbestimmung als eine eigene Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts zu unterscheiden. Auch dieses kann im Verhältnis zwischen Privaten Bedeutung entfalten. Seine Wirkungen unterscheiden sich hier von denen unmittelbar gegenüber dem Staat. Es gewährleistet hier die Möglichkeit, in differenzierter Weise darauf Einfluss zu nehmen, in welchem Kontext und auf welche Weise die eigenen Daten anderen zugänglich sind und von ihnen genutzt werden, und so über der eigenen Person geltende Zuschreibungen selbst substantiell mitzuentscheiden.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 16/13 -
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn T…, |
- Bevollmächtigte:
- … -
gegen |
das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 13. November 2012 - VI ZR 330/11 - |
hat das Bundesverfassungsgericht - Erster Senat -
unter Mitwirkung der Richterinnen und Richter
Vizepräsident Harbarth,
Masing,
Paulus,
Baer,
Britz,
Ott,
Christ,
Radtke
am 6. November 2019 beschlossen:
- Das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 13. November 2012 - VI ZR 330/11 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes.
- Es wird aufgehoben. Die Sache wird an den Bundesgerichtshof zurückverwiesen.
- Die Bundesrepublik Deutschland hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.
A.
Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen eine zivilrechtliche Entscheidung des Bundesgerichtshofs, mit der dieser die Klage des Beschwerdeführers gegen die Bereithaltung von mehr als 30 Jahre zurückliegenden Presseberichten in einem Onlinearchiv abwies, in denen unter namentlicher Nennung über dessen strafgerichtliche Verurteilung wegen Mordes berichtet wurde.
I.
1. Der Beschwerdeführer wurde im Jahr 1982 rechtskräftig wegen Mordes und versuchten Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Ihm wurde vorgeworfen, im Jahr 1981 an Bord der Yacht „A.“, die sich bei einer Atlantiküberquerung auf hoher See befand, zwei Menschen erschossen und einen dritten schwer verletzt zu haben. Im Jahr 2002 wurde er nach verbüßter Strafe aus der Haft entlassen.
Über den Fall veröffentlichte das Magazin DER SPIEGEL in den Jahren 1982 und 1983 unter Auseinandersetzung mit der Person des namentlich genannten Beschwerdeführers drei Artikel in seiner gedruckten Ausgabe. Seit 1999 stellt die Beklagte des Ausgangsverfahrens, die Spiegel Online GmbH (nachfolgend: Beklagte), die Berichte in einem Onlinearchiv kostenlos und ohne Zugangsbarrieren zum Abruf bereit. Gibt man den Namen des Beschwerdeführers in einem gängigen Internetsuchportal ein, werden die Artikel unter den ersten Treffern angezeigt.
2. Nachdem der Beschwerdeführer erstmals im Jahr 2009 Kenntnis von der Online-Veröffentlichung erlangt hatte, mahnte er die Beklagte wegen der identifizierenden Berichterstattung im Internet ab und erhob nachfolgend Unterlassungsklage mit dem Antrag, es der Beklagten zu untersagen, über die Straftat aus dem Jahr 1981 unter Nennung seines Familiennamens zu berichten. Das Landgericht gab der Klage statt, die hiergegen gerichtete Berufung zum Oberlandesgericht blieb erfolglos. Dem Beschwerdeführer stehe ein Unterlassungsanspruch gemäß §§ 823, 1004 BGB analog, Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG zu, denn die angegriffene Veröffentlichung verletze ihn rechtswidrig in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht.
Zwar sei die Tat derart spektakulär gewesen, dass losgelöst von dem zeitlichen Zusammenhang zu der Tat und dem Strafverfahren ein Informationsinteresse der Öffentlichkeit bestehe. Auch sei festzuhalten, dass die Berichterstattung zurückhaltend und sachbezogen sei. Gleichwohl gehe mit der Darstellung aufgrund des Detailreichtums der Schilderung des Geschehens eine stigmatisierende Wirkung einher. Hierdurch würden dem Leser lange Zeit nach der Tat die Straftaten facettenreich vor Augen geführt. Mit zeitlicher Distanz zur Straftat gewinne aber das Interesse des Täters, von einer Reaktualisierung seiner Verfehlung verschont zu bleiben, zunehmende Bedeutung. Hier seien zu dem Zeitpunkt, als die Beklagte die Artikel in ihr Onlinearchiv einstellte, bereits mindestens 18 Jahre verstrichen gewesen. Eine ganz erhebliche Breitenwirkung resultiere vorliegend aus der dauerhaften, zeitlich unbegrenzten Abrufbarkeit der Information, die weltweit mit äußerst geringem Aufwand ermittelbar sei und dazu führe, dass trotz der verstrichenen Zeit viele weitere Rezipienten erneut und erstmalig von den Taten des Beschwerdeführers erführen. Ein In-Vergessenheit-Geraten sei bei dauerhaft im Internet vorgehaltenen Informationen nicht möglich. Von diesem Dauerzustand gehe eine ganz erhebliche Eingriffsintensität aus.
3. Auf die Revision der Beklagten hob der Bundesgerichtshof mit Urteil vom 13. November 2012 das Urteil des Oberlandesgerichts auf, änderte das Urteil des Landgerichts ab und wies die Klage ab. Dem Beschwerdeführer stehe kein Unterlassungsanspruch zu. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Beschwerdeführers werde durch das Bereithalten der beanstandeten Informationen im Internet nicht verletzt. Im Rahmen der insoweit maßgeblichen Abwägung zwischen den sich gegenüberstehenden Grundrechten habe das Oberlandesgericht das von der Beklagten verfolgte Informationsinteresse der Öffentlichkeit und ihr Recht auf freie Meinungsäußerung mit einem zu geringen Gewicht in die Abwägung eingestellt.
Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung dürfe die Presse zur Erfüllung ihrer Aufgaben nicht grundsätzlich auf eine anonymisierte Berichterstattung verwiesen und müssten wahre Tatsachenbehauptungen in der Regel hingenommen werden, auch wenn sie nachteilig für den Betroffenen seien. Allerdings könne auch eine wahre Darstellung das Persönlichkeitsrecht des Betroffenen verletzen, wenn sie einen Persönlichkeitsschaden anzurichten drohe, der außer Verhältnis zu dem Interesse an der Verbreitung der Wahrheit stehe. Dies könne insbesondere dann der Fall sein, wenn die Aussagen geeignet seien, eine erhebliche Breitenwirkung zu entfalten und eine besondere Stigmatisierung des Betroffenen nach sich zu ziehen, so dass sie zum Anknüpfungspunkt für eine soziale Ausgrenzung und Isolierung zu werden drohten. Mit zeitlicher Distanz zum...
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...davon, ob daneben Unionsgrundrechte Geltung beanspruchen können (vgl. BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 6. November 2019 - 1 BvR 16/13 -, Rn. 39 – Recht auf Vergessen I). Unberührt bleibt hiervon die Frage, ob sich weitere rechtliche Anforderungen unmittelbar aus dem Sekundärrecht der......
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...zu bewirken geeignet ist (vgl. BVerfG, Urteil vom 5. Juni 1973 - 1 BvR 536/72 - BVerfGE 35, 202 ; Beschluss vom 6. November 2019 - 1 BvR 16/13 - BVerfGE 152, 152 Rn. 98). 18 Es ist nicht möglich, den sich durch Zeitablauf verdichtenden Schutzanspruch nach Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 ......
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