Beschluss vom 06. September 2021 - 1 BvR 1750/21
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2021:rk20210906.1bvr175021 |
Citation | BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 06. September 2021 - 1 BvR 1750/21 -, Rn. 1-32, |
Judgement Number | 1 BvR 1750/21 |
Date | 06 Septiembre 2021 |
Court | Constitutional Court (Germany) |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 1750/21 -
über
die Verfassungsbeschwerde
der Frau (…), |
gegen |
1. den Beschluss des Oberlandesgerichts Rostock |
|
vom 20. Juli 2021 - 10 UF 68/20 -, |
||
2. den Beschluss des Oberlandesgerichts Rostock |
||
vom 28. Juni 2021 - 10 UF 68/20 - |
h i e r: einstweilige Anordnung |
hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Präsidenten Harbarth,
die Richterin Britz
und den Richter Radtke
- Die Wirksamkeit der Regelung in Ziffer I. des Beschlusses des Oberlandesgerichts Rostock vom 28. Juni 2021 - 10 UF 68/20 - wird einstweilen bis zur Entscheidung der Hauptsache, längstens für sechs Monate ausgesetzt
I.
1. Die Beschwerdeführerin ist die Mutter eines im Oktober 2008 geborenen Kindes. Die nicht miteinander verheirateten Eltern übten die elterliche Sorge zunächst gemeinsam aus. Nach ihrer Trennung im Jahr 2013 strengten sie verschiedene gerichtliche Verfahren über das Sorge- und das Umgangsrecht an.
Im hier gegenständlichen Verfahren beantragten beide Eltern die Übertragung der elterlichen Sorge jeweils auf sich alleine. Die Haltung des Kindes gegenüber den Eltern änderte sich im Laufe der Verfahren. Bei einer Anhörung im März 2016 erklärte es noch, gerne bei der Mutter zu leben und nicht gerne zum Vater zu gehen. Am 28. Juni 2018 verließ das Kind allerdings den mütterlichen Haushalt, indem es sich an eine Ansprechpartnerin des freien Trägers der Jugendhilfe wandte, die den Vater informierte. Dieser holte das Kind von der Schule ab. Seitdem lebt das Kind ohne Kontakt zur Beschwerdeführerin bei ihm.
Das Amtsgericht holte daraufhin ein Gutachten der Sachverständigen Diplom-Psychologin W. ein. Der Vater verweigerte unter Berufung auf eine Weigerung des Kindes die weitere Mitwirkung an diesem Gutachten, das deswegen vorzeitig abgeschlossen wurde. Die Sachverständige gelangte zu dem Ergebnis, dass die Mutter besser in der Lage sei, das Kind zu betreuen und zu erziehen, weil die Eskalation des Elternkonflikts seit Jahren aus psychologischer Sicht einseitig vom Kindesvater betrieben und das Wohl des Kindes vernachlässigt werde. Sie ging von einer Unbeachtlichkeit des kindlichen Willens aus, weil es sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit um einen durch den Vater und professionelle Berater induzierten Willen handle. Nach der Erstattung des Gutachtens wandte sich die Sachverständige im Februar 2019 an das Familiengericht und wies darauf hin, dass für das Kind ihres Erachtens eine akute psychische Kindeswohlgefährdung vorliege und es nicht im Haushalt des Vaters bleiben, sondern zeitlich begrenzt extern untergebracht werden sollte.
Das Familiengericht beauftragte im April 2019 den Diplom-Psychologen A. mit dem Erstellen eines weiteren Gutachtens. Darin kam der Sachverständige A. zu dem Ergebnis, der Vater leide unter einer wahnhaften Störung und beziehe sein Kind in das Wahngeflecht ein. Bei einem Verbleib des Kindes im Haushalt des Vaters sei das Wohl des Kindes massiv gefährdet. Der Sachverständige empfahl, das Kind nicht sofort in den mütterlichen Haushalt zu überführen, sondern es zunächst in einer wohnortnahen Kinder- und Jugendpsychiatrie aufnehmen zu lassen, um therapeutische Maßnahmen einleiten zu können.
2. Mit Beschluss vom 23. April 2020 übertrug das Familiengericht der Beschwerdeführerin das alleinige Sorgerecht. Ferner gab es ihr auf, das Kind zunächst in einer Einrichtung der Kinder- und Jugendpsychiatrie in der Nähe ihres Wohnortes behandeln zu lassen.
Auf eine Beschwerde des Vaters und des Jugendamts änderte das Oberlandesgericht mit Beschluss vom 2. Juli 2020 die Entscheidung des Familiengerichts ab und übertrug dem Kindesvater das alleinige Sorgerecht. Unter Beachtung der Ausführungen des Jugendamtes sei dem Wohl des Kindes am besten bei einer Übertragung des Sorgerechts auf den Vater allein gedient. Die Grundlage der von der Sachverständigen W. angenommenen besseren Erziehungseignung der Mutter sei aufgrund der Angaben des Kindes in der vom Oberlandesgericht durchgeführten Anhörung entfallen. Die Schlussfolgerungen des Sachverständigen A. hielt das Oberlandesgericht nicht für schlüssig; diese seien auch nicht durch die Kindesanhörung bestätigt worden. Ein Einwirken des Vaters auf das Kind, das vor dem Wechsel zu diesem bei der Mutter gelebt habe, sei nicht plausibel. Für die Annahme einer psychischen Erkrankung des Vaters fehle es an plausiblen Anknüpfungstatsachen; der Sachverständige habe auch nicht schlüssig und nachvollziehbar darzulegen vermocht, auf welche Weise es zu einer Übertragung der angenommenen Störung auf das Kind kommen solle und welche konkreten kindeswohlgefährdenden Auswirkungen dies mit sich bringe.
Hiergegen erhob die Beschwerdeführerin Verfassungsbeschwerde, auf die die Kammer die Beschwerdeentscheidung wegen Verletzung der Rechte der Beschwerdeführerin aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG aufhob und die Sache an das Oberlandesgericht zurückverwies (BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 14. April 2021 - 1 BvR 1839/20 -). In der Entscheidung führte die Kammer aus, dass das Oberlandesgericht ohne verfassungsrechtlich tragfähige Begründung von der Einschätzung beider vorliegender Sachverständigengutachten über die dem Kindeswohl am besten entsprechende Entscheidung abgewichen sei (BVerfG, a.a.O., Rn. 22 ff.) und dass das Oberlandesgericht dem Kindeswillen maßgebliche Bedeutung zugemessen habe, ohne tragfähig zu begründen, dass dieser Kindeswille mit dem Kindeswohl vereinbar sei (BVerfG, a.a.O., Rn. 36 ff.).
Die Begründung für das Abweichen von den Sachverständigengutachten hat die Kammer als verfassungsrechtlich unzureichend angesehen, weil das Oberlandesgericht zwar ausgeführt habe, dass keine nachvollziehbaren oder plausiblen Anknüpfungstatsachen für die Annahme kindeswohlgefährdender Auswirkungen einer schweren psychischen Störung vorlägen, dabei aber nicht die im Verlauf des Verfahrens bekannt gewordenen Verhältnisse beachtet habe. Der Sachverständige A. habe die von ihm als wahnhaft eingestuften Vorstellungen des Vaters im Gutachten detailliert benannt. Diese Vorstellungen entbehrten jeglicher nachvollziehbaren Grundlage; das Oberlandesgericht benenne keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass diese Vorstellungen des Vaters einen Wahrheitsgehalt haben könnten. Der Sachverständige habe auch ‒ gestützt auf mehrere Quellen der psychologischen Fachliteratur ‒ ausgeführt, dass Kinder, die bei einem Elternteil mit psychischen Erkrankungen lebten, ein erhöhtes Risiko aufwiesen, selbst psychische Probleme zu entwickeln. Ebenso habe der Sachverständige ausführlich beschrieben, dass der Vater dem Kind ein schlechtes Bild von seiner Mutter vermittele und dadurch dessen Beziehung zu seiner vormals wichtigsten Bezugsperson beschädige. Im Hinblick auf den geäußerten Kindeswillen habe sich das Oberlandesgericht nicht mit den Ausführungen der Sachverständigen zum Vorliegen eines induzierten, nicht mit dem Kindeswohl vereinbaren Kindeswillen befasst. Es habe nicht erwogen, dass die vom Kind in der Anhörung gezeigten emotionalen Belastungen Ausdruck eines Loyalitätskonflikts sein könnten, wie dies von der Sachverständigen W. ausgeführt worden sei. Der Einschätzung beider Sachverständiger, dass der Kindeswille nicht mit dessen Wohl...
Um weiterzulesen
FORDERN SIE IHR PROBEABO AN-
Beschluss vom 13. Oktober 2021 - 1 BvR 1750/21
...- 1 BvR 1750/21 - In dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde der Frau (…), gegen 1. den Beschluss des Oberlandesgerichts Rostock vom 20. Juli 2021 - 10 UF 68/20 -, 2. den Beschluss des Oberlandesgerichts Rostock vom 28. Juni 2021 - 10 UF 68/20 - hier: Widerspruch gegen den Beschluss de......
-
Beschluss vom 13. Oktober 2021 - 1 BvR 1750/21
...- 1 BvR 1750/21 - In dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde der Frau (…), gegen 1. den Beschluss des Oberlandesgerichts Rostock vom 20. Juli 2021 - 10 UF 68/20 -, 2. den Beschluss des Oberlandesgerichts Rostock vom 28. Juni 2021 - 10 UF 68/20 - hier: Widerspruch gegen den Beschluss de......