Beschluss vom 07. November 2008 - 1 BvQ 43/08
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2008:qk20081107a.1bvq004308 |
Citation | BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 07. November 2008 - 1 BvQ 43/08 - Rn. (1-25), |
Judgement Number | 1 BvQ 43/08 |
Date | 07 Noviembre 2008 |
Court | Constitutional Court (Germany) |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvQ 43/08 -
über
den Antrag,
im Wege der einstweiligen Anordnung
unter Aufhebung des Beschlusses des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 7. November 2008 – 5 B 1668/08 – die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen die Verbotsverfügung des Polizeipräsidiums Aachen vom 29. Oktober 2008 nach Maßgabe des Beschlusses des Verwaltungsgerichts Aachen vom 4. November 2008 – 6 L 478/08 – wiederherzustellen
Antragsteller: R...
Deutzer Freiheit 92, 50679 Köln -
hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Präsidenten Papier
und die Richter Eichberger,
Masing
gemäß § 32 Abs. 1 in Verbindung mit § 93d Abs. 2 BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 7. November 2008 einstimmig beschlossen:
- Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Verbotsverfügung des Polizeipräsidiums Aachen vom 29. Oktober 2008 – ZA 31 – 57.02.01 – wird nach Maßgabe des Tenors des Beschlusses des Verwaltungsgerichts Aachen vom 4. November 2008 – 6 L 478/08 – wiederhergestellt.
- Das Land Nordrhein-Westfalen hat die notwendigen Auslagen des Antragstellers zu erstatten.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung betrifft ein für sofort vollziehbar erklärtes Versammlungsverbot. Die Kammer hat die Begründung ihrer Entscheidung gemäß § 32 Abs. 5 in Verbindung mit § 93d Abs. 2 BVerfGG nach Bekanntgabe des Beschlusses schriftlich abgefasst.
I.
1. Der Antragsteller meldete mit Schreiben vom 16. Oktober 2008 bei der Versammlungsbehörde der Stadt Aachen eine als Aufzug geplante Versammlung unter freiem Himmel an. Die Versammlung sollte am Sonnabend, den 8. November 2008 von 12.00 Uhr bis 22.00 Uhr unter dem Motto „Gegen einseitige Vergangenheitsbewältigung! Gedenkt der deutschen Opfer!“ in Aachen stattfinden. Der Antragsteller teilte mit, dass er mit zirka 150 Teilnehmern rechne. Am 24. Oktober 2008 fand ein Kooperationsgespräch zwischen der Versammlungsbehörde und dem Antragsteller statt. Darin erklärte dieser, dass der 8. November 2008 bewusst als Datum der Versammlung gewählt worden sei. Allerdings gehe es dabei nicht um einen Bezug zum 9. November 1938, sondern um andere historisch bedeutende Ereignisse, die sich am 8. oder 9. November ereignet hätten, so zum Beispiel der Putschversuch in München 1923 und der Mauerfall 1989.
2. Am 29. Oktober 2008 untersagte der Polizeipräsident Aachen als Versammlungsbehörde die Versammlung gestützt auf § 15 Abs. 1 VersG und ordnete die sofortige Vollziehung an. Zur Begründung führte er aus, dass die geplante Versammlung sowohl die öffentliche Sicherheit als auch die öffentliche Ordnung unmittelbar gefährde. Eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit ergebe sich daraus, dass bei der Durchführung der Versammlung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Teilnehmer der Versammlung Straftatbestände, namentlich nach § 86a, § 130 Abs. 3 und 4, § 189 StGB erfüllen würden. Ebenso sei damit zu rechnen, dass durch Versammlungsteilnehmer zur Beseitigung der freiheitlich demokratischen Grundordnung sowie der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Einrichtungen aufgerufen werde. Darüber hinaus sei ebenfalls mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass von der Art und Weise des geplanten Aufzugs unerträgliche Provokationen ausgehen würden, die das sittliche Empfinden der Bürgerinnen und Bürger erheblich beeinträchtigen und damit eine unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellen würden sowie die Menschenwürde der Opfer des NS-Regimes, deren am 8. und 9. November 2008 in Aachen gedacht werde, verletzen würden.
Der Polizeipräsident stützte seine Gefahrenprognose wesentlich auf Erkenntnisse über die Person des Antragstellers, den zu erwartenden Teilnehmerkreis sowie Motto und Datum der angemeldeten Versammlung. Der Antragsteller sei seit Jahren in exponierter Stellung in der rechtsextremen Szene aktiv und mehrfach einschlägig vorbestraft, unter anderem wegen Straftaten, die im Zusammenhang mit Versammlungen begangen worden seien. Ein von ihm mitbegründetes „Aktionsbüro“, das für die hier in Frage stehende Demonstration werbe, diene der Vernetzung mit den sogenannten Freien Nationalisten, die das „vorherrschende System in der BRD“ offen ablehnten. Infolgedessen sei bei der angemeldeten Demonstration mit einem Teilnehmerkreis zu rechnen, der für ein autoritäres politisches System eintrete und dessen Weltbild teilweise von nationalistischen und auch antisemitischen Anschauungen geprägt werde. Dafür, dass aus der Demonstration heraus der Umfang des Holocaust in Zweifel gezogen werde, spreche insbesondere, dass der Antragsteller im Kooperationsgespräch klar zu erkennen gegeben habe, dass für ihn nur der 8. November 2008 als Versammlungsdatum in Frage komme, da mit Rücksicht auf die höchstrichterliche Rechtsprechung bewusst nicht der 9. November 2008 als Versammlungstag gewählt worden sei.
Ein milderes Mittel als das Versammlungsverbot komme nicht in Betracht. Insbesondere sei die Erteilung von Auflagen nicht geeignet, die öffentliche Sicherheit und Ordnung hier hinreichend vor Gefahren zu schützen. Geeignete Auflagen wie zum Beispiel eine zeitliche Verlegung der Versammlung auf einen anderen Tag oder eine örtliche Verlegung des Aufzugs würden zu einem ähnlichen Erfolg wie die Verbotsverfügung führen und würden vom Antragsteller nicht toleriert. Auch die zu erwartende Störung des öffentlichen Friedens lasse sich nicht durch Auflagen ausschließen. Es sei ein Vertrauensverlust der Bevölkerung in den Rechtsstaat zu erwarten, wenn die Versammlung von rechtsextremen Demonstranten am Vortag des Gedenktages für die Opfer der Novemberpogrome von 1938 unter dem Schutz der Verfassung durchgeführt werden dürfe und von der Polizei zu schützen sei. Die Ausübung des Versammlungsrechts zum Kampf gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung stelle jedoch einen Grundrechtsmissbrauch dar, der nicht schützenswert sei.
3. Gegen die Verbotsverfügung wandte sich der Antragsteller mit einer Klage an das Verwaltungsgericht Aachen, verbunden mit dem Antrag, deren aufschiebende Wirkung wiederherzustellen. Zur Begründung führte er unter anderem aus, dass er mit der angemeldeten Versammlung vorrangig auf die Gefahren und Probleme hinweisen wolle, die aus seiner Sicht mit einem einseitigen Gedenken verbunden seien. So würden aus seiner Sicht insbesondere die Belange der deutschen Opfer vernachlässigt. Konkreter Anlass sei ein Tötungsdelikt vom 4. April 2008 zum Nachteil eines deutschen Heranwachsenden in der Nähe von Aachen. Er habe sich zudem um Kooperation bemüht, indem er für den Fall der Rücknahme des Verbots der Versammlung einen weiteren Versammlungsleiter benannt habe. Außerdem habe er nach der Ankündigung des Verbots dargelegt, dass hinsichtlich der Konzeptionierung der Versammlung Verhandlungsbereitschaft bestehe.
4. Mit Beschluss vom 4. November 2008 gab das Verwaltungsgericht Aachen dem Antrag teilweise statt. Es stellte die aufschiebende Wirkung der Klage mit der Einschränkung wieder her, dass der Antragsteller nicht selbst als Redner und Versammlungsleiter auftreten dürfe. Wenn der Antragsteller in diesen Funktionen agiere, würde es zu einem Verstoß gegen § 130 Abs...
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