BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 2160/09 -
- 1 BvR 851/10 -
über
die Verfassungsbeschwerden
der G... AG, vertreten durch den Vorstand P... und C...
Börsenplatz 1, 70174 Stuttgart -
1 gegen | das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 15. Juli 2009 - VIII ZR 225/07 - |
- 1 BvR 2160/09 -,
2. gegen a) | den Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 26. Januar 2010 - VIII ZR 312/08 -, |
b) | das Urteil des Kammergerichts vom 28. Oktober 2008 - 21 U 160/06 -, |
c) | das Urteil des Landgerichts Berlin vom 19. Juni 2006 - 34 O 611/05 - |
- 1 BvR 851/10 -
hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Richterin Hohmann-Dennhardt
und die Richter Gaier,
Paulus
gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 7. September 2010 einstimmig beschlossen:
Die Verfassungsbeschwerden werden nicht zur Entscheidung angenommen.
I.
Die Verfassungsbeschwerden betreffen die Wirksamkeit von Gaspreiserhöhungen zu Lasten von privaten Verbrauchern.
1. Die Beschwerdeführerin ist ein Gasversorgungsunternehmen. Sie wurde vom Land B... nach der deutschen Wiedervereinigung privatisiert. Anteilseigner sind heute der E...-Konzern (36,85 %), die G... S.A.S. (31,575 %) sowie die V... AG (31,575 %). Die Beschwerdeführerin beliefert rund 650.000 Haushalte und Kleingewerbekunden in B... mit Gas. Ihr Preissystem sah sowohl variable Tarife mit einer Preisanpassungsklausel als auch fixe Tarife mit einem Festpreis vor. In den Allgemeinen Geschäftsbedingungen für verschiedene variable Tarife war folgende Klausel enthalten:
§ 3
Preisanpassungen
1. Der Gaspreis folgt den an den internationalen Märkten notierten Ölpreisen. Insofern ist die G... berechtigt, die Gaspreise vorbehaltlich der Regelungen in §§ 16 bis 19 dieser AGB auch während der laufenden Vertragsbeziehung an die geänderten Gasbezugskosten der G... anzupassen. Die Preisänderungen schließen sowohl Erhöhung als auch Absenkung ein.
2. Die Anpassung des Tarifkundenpreises und der Sonderkundenpreise erfolgt entsprechend § 4 AVBGasV durch öffentliche Bekanntmachung.
Zum 1. Oktober 2005 und zum 1. Januar 2006 erhöhte die Beschwerdeführerin den Gaspreis in ihren variablen Tarifen jeweils um 0,5 Cent/kWh. Daraufhin klagten mehrere Kunden auf Feststellung der Unwirksamkeit dieser Erhöhungen.
a) Der Kläger des Ausgangsverfahrens, das der Verfassungsbeschwerde 1 BvR 2160/09 zugrunde liegt, begehrte die Feststellung, dass die beiden genannten Preiserhöhungen unwirksam seien. Dem gab das Amtsgericht Tiergarten statt. Auf die Berufung der Beschwerdeführerin wies das Landgericht Berlin die Klage ab. Auf die Revision des Klägers hob der Bundesgerichtshof mit Urteil vom 15. Juli 2009 (veröffentlicht unter anderem in BGHZ 182, 59) das Urteil des Landgerichts auf und wies die Berufung der Beschwerdeführerin zurück.
Zur Begründung stellte der Bundesgerichtshof darauf ab, dass der Kläger nicht Tarifkunde im Sinne der zur Zeit der Preiserhöhungen noch geltenden Allgemeinen Bedingungen für die Gasversorgung von Tarifkunden (AVBGasV) sei, sondern Normsonderkunde. Deshalb sei die Beschwerdeführerin nicht unmittelbar gemäß § 4 Abs. 1 und 2 AVBGasV zur Preisänderung befugt. Für die Wirksamkeit der vom Kläger beanstandeten Preiserhöhungen komme es daher darauf an, ob die Beschwerdeführerin sich in § 3 der Allgemeinen Geschäftsbedingungen wirksam ein Preisänderungsrecht vorbehalten habe. Das sei nicht der Fall, weil die beanstandete Klausel der Inhaltskontrolle nach § 307 Abs. 1 und 2 BGB nicht standhalte.
Bei dieser Inhaltskontrolle ging der Bundesgerichtshof davon aus, dass eine Preisanpassungsklausel in einem Sondervertrag, die das im Tarifkundenverhältnis bestehende gesetzliche Preisänderungsrecht nach § 4 Abs. 1 und 2 AVBGasV unverändert übernimmt, keine unangemessene Benachteiligung des Kunden darstelle. Mit § 310 Abs. 2 Satz 1 BGB habe der Gesetzgeber das Ziel verfolgt, es den Versorgungsunternehmen freizustellen, ihre Allgemeinen Geschäftsbedingungen mit Sonderabnehmern entsprechend den Allgemeinen Versorgungsbedingungen auszugestalten. Der Verordnung über die Allgemeinen Bedingungen für die Gasversorgung von Tarifkunden komme deshalb für Sonderkundenverträge eine „Leitbildfunktion im weiteren Sinne“ zu. Eine solche Leitbildfunktion bestehe allerdings nicht pauschal; vielmehr sei sie für jede einzelne Bestimmung zu prüfen. Für das Preisänderungsrecht nach § 4 Abs. 1 und 2 AVBGasV sei sie zu bejahen. Die Preisanpassungsklausel in § 3 der Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Beschwerdeführerin enthalte indes keine unveränderte Übernahme des Preisänderungsrechts nach § 4 AVBGasV, sondern weiche - jedenfalls bei der gebotenen kundenfeindlichsten Auslegung - zum Nachteil der Kunden davon ab und sei deshalb unwirksam.
§ 4 AVBGasV ermögliche nämlich die Weitergabe von gestiegenen Bezugspreisen an Tarifkunden nur insoweit, als die Kostensteigerung nicht durch rückläufige Kosten in anderen Bereichen ausgeglichen werde. Eine Preisanpassungsbefugnis müsse hiernach das Äquivalenzverhältnis wahren und dürfe dem Berechtigten nicht die Möglichkeit geben, über die Abwälzung konkreter Kostensteigerungen hinaus den zunächst vereinbarten Preis ohne Begrenzung anzuheben und so einen zusätzlichen Gewinn zu erzielen. Die von der Beschwerdeführerin verwendete Preisanpassungsklausel sehe aber die uneingeschränkte Weitergabe von Bezugskostensteigerungen vor und ermögliche damit eine Preiserhöhung wegen gestiegener Gasbezugskosten auch dann, wenn sich ihre Kosten insgesamt nicht erhöht hätten. Damit ermögliche die Klausel eine Verschiebung des vertraglich vereinbarten Äquivalenzverhältnisses zum Nachteil der Kunden. Aus der Bindung des Allgemeinen Tarifs an billiges Ermessen folge zudem, dass das Preisänderungsrecht des Gasversorgungsunternehmens nach § 4 AVBGasV mit der Rechtspflicht einhergehe, bei einer Tarifanpassung Kostensenkungen ebenso zu berücksichtigen wie Kostenerhöhungen und den Zeitpunkt einer Tarifänderung so zu wählen, dass Kostensenkungen nicht nach für den Kunden ungünstigeren Maßstäben Rechnung getragen werde als Kostenerhöhungen. Die gesetzliche Regelung umfasse daher auch eine Pflicht zur Preisanpassung, wenn dies für den Kunden günstig sei. Eine solche Verpflichtung enthalte § 3 Nr. 1 der Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Beschwerdeführerin aber nicht. Die unangemessene Benachteiligung der Kunden werde nicht durch die Einräumung eines Rechts zur Lösung vom Vertrag ausgeglichen.
Der Beschwerdeführerin sei nicht im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung ein Preisänderungsrecht entsprechend § 4 Abs. 1 und 2 AVBGasV zuzubilligen. Eine ergänzende Vertragsauslegung komme nur dann in Betracht, wenn sich die mit dem Wegfall einer unwirksamen Klausel entstehende Lücke nicht durch dispositives Gesetzesrecht füllen lasse und dies zu einem Ergebnis führe, das den beiderseitigen Interessen nicht mehr in vertretbarer Weise Rechnung trage, sondern das Vertragsgefüge völlig einseitig zugunsten des Kunden verschiebe. Das sei vorliegend nicht der Fall. Insoweit verweist der Bundesgerichtshof auf das Kündigungsrecht der Beschwerdeführerin mit einer Kündigungsfrist von einem Monat zum Ablauf der Mindestvertragslaufzeit von 18 Monaten und sodann zum Ablauf der um je zwölf Monate verlängerten Vertragslaufzeit. Soweit die Beschwerdeführerin in der Revisionsinstanz geltend gemacht habe, eine nicht mehr hinnehmbare grundlegende Störung des vertraglichen Gleichgewichts ergebe sich daraus, dass sie aus rechtlichen und politischen Gründen massenhafte Rückforderungen anderer Kunden zu gewärtigen habe, in deren Verträgen die unangemessene Preisanpassungsklausel ebenfalls enthalten sei, zeige sie entsprechenden Sachvortrag in den Instanzen nicht auf, obwohl dazu Anlass bestanden habe.
b) Die Kläger des Ausgangsverfahrens...