Beschluss vom 08. April 1998 - 1 BvR 1680/93
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:1998:rs19980408.1bvr168093 |
Citation | BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 08. April 1998 - 1 BvR 1680/93 - Rn. (1-110), |
Date | 08 Abril 1998 |
Judgement Number | 1 BvR 1680/93 |
Court | Constitutional Court (Germany) |
L e i t s a t z
zum Beschluß des Ersten Senats vom 8. April 1998
- 1 BvR 1680/93 -
- 1 BvR 183/94 -
- 1 BvR 1580/94 -
- Art. 233 § 2 a Abs. 8 Satz 1 EGBGB in der Fassung des Sachenrechtsänderungsgesetzes vom 21. September 1994 ist mit Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG unvereinbar, soweit er für die Zeit vom 22. Juli 1992 bis zum Ablauf des 31. Dezember 1994 einen gesetzlichen Anspruch des Grundstückseigentümers auf Nutzungsentgelt gegen den zum Besitz berechtigten Grundstücksnutzer nicht vorsieht.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 1680/93 -
- 1 BvR 183/94 -
- 1 BvR 1580/94 -
I. |
der Frau B... |
- Bevollmächtigter: Rechtsanwalt Herbert Korzetzek, Gessentalstraße 1, Gera -
1. |
unmittelbar gegen |
a) |
das Urteil des Bezirksgerichts Gera vom 26. August 1993 - 1 S 49/93 -, |
b) |
Art. 232 §§ 4, 4 a EGBGB in der Fassung des Registerverfahrensbeschleunigungsgesetzes vom 20. Dezember 1993 (BGBl I S. 2182), Art. 233 § 2 a Abs. 8 EGBGB in der Fassung des Sachenrechtsänderungsgesetzes vom 21. September 1994 (BGBl I S. 2457) und §§ 1, 2, 8 des Schuldrechtsanpassungsgesetzes vom 21. September 1994 (BGBl I S. 2538), |
2. |
mittelbar gegen Art. 233 § 2 a Abs. 3 Satz 1 EGBGB in der Fassung des Art. 8 des Zweiten Vermögensrechtsänderungsgesetzes vom 14. Juli 1992 (BGBl I S. 1257) |
- 1 BvR 1680/93 -,
II. |
des Herrn W... |
- Bevollmächtigte: Rechtsanwälte Joachim Heinle und Partner, Koblenzer Straße 99-103, Bonn
1. |
unmittelbar gegen |
a) |
das Teilanerkenntnis- und Schlußurteil des Oberlandesgerichts Rostock vom 21. Dezember 1993 - 4 U 25/93 -, |
b) |
das Urteil des Landgerichts Schwerin vom 15. Dezember 1992 - 1 O 225/92 -, |
2. |
mittelbar gegen Art. 233 § 2 a Abs. 1 EGBGB in der Fassung des Art. 8 des Zweiten Vermögensrechtsänderungsgesetzes vom 14. Juli 1992 (BGBl I S. 1257) |
- 1 BvR 183/94 -,
III. |
1. des Herrn S..., | |
2. |
der Frau S... |
- Bevollmächtigter: Rechtsanwalt Alfred Steiding, Präsidentenstraße 85, Neuruppin -
gegen |
1. |
das Urteil des Landgerichts Neuruppin vom 29. Juli 1994 - 4 S 52/93 -, |
2. |
Art. 233 § 2 a Abs. 8 EGBGB in der Fassung des Sachenrechtsänderungsgesetzes vom 21. September 1994 (BGBl I S. 2457) |
- 1 BvR 1580/94 -
hat das Bundesverfassungsgericht - Erster Senat - unter Mitwirkung
des Vizepräsidenten Papier,
der Richter Grimm,
Kühling,
der Richterinnen Seibert,
Jaeger,
Haas
und der Richter Hömig,
Steiner
am 8. April 1998 beschlossen:
- 1. Artikel 233 § 2 a Absatz 8 Satz 1 des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuch in der Fassung des Sachenrechtsänderungsgesetzes vom 21. September 1994 (Bundesgesetzblatt I Seite 2457) ist mit Artikel 14 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes unvereinbar, soweit er für die Zeit vom 22. Juli 1992 bis zum Ablauf des 31. Dezember 1994 einen gesetzlichen Anspruch des Grundstückseigentümers auf Nutzungsentgelt gegen den nach Artikel 233 § 2 a Absatz 1 des genannten Gesetzes Berechtigten nicht vorsieht
- Der Gesetzgeber ist verpflichtet, die verfassungswidrige Regelung spätestens bis zum 30. Juni 2000 durch eine verfassungsgemäße Regelung zu ersetzen
- 2. Im übrigen werden die Verfassungsbeschwerden zurückgewiesen
- 3. Die Bundesrepublik Deutschland hat den Beschwerdeführern zu I und III ihre notwendigen Auslagen zu erstatten.
A.
Die Verfassungsbeschwerden betreffen das sogenannte sachenrechtliche Moratorium für im Beitrittsgebiet belegene Grundstücke. Nutzer fremder Grundstücke haben danach gegenüber den Grundstückseigentümern bis zur Durchführung der Sachenrechtsbereinigung kraft Gesetzes ein Recht zum Besitz. Ein Entgelt für die Grundstücksnutzung hatten sie bis zum Ablauf des 31. Dezember 1994 nur auf vertraglicher Grundlage zu entrichten.
I.
1. a) Das Privateigentum an Grund und Boden hatte in der Deutschen Demokratischen Republik seine Funktion als Wirtschaftsfaktor im Laufe der Zeit immer mehr verloren (vgl. hierzu und zum folgenden BTDrucks 12/5992, S. 50 ff.; Heuer, Grundzüge des Bodenrechts der DDR 1949-1990, 1991, Rn. 1 ff.; Leutheusser-Schnarrenberger, DtZ 1993, S. 34 ff.; Schweizer/ Thöne, Das Recht der landwirtschaftlichen Betriebe in den neuen Ländern, 1993, S. 181 ff.). Zentrales Institut der Eigentumsordnung waren statt dessen das sozialistische Eigentum und unter dessen Erscheinungsformen neben dem genossenschaftlichen Gemeineigentum vor allem das gesamtgesellschaftliche Volkseigentum geworden, das als solches weder übertragen noch belastet werden konnte. Gleichzeitig gewann für die Grundstücksnutzung die staatliche Verleihung von Nutzungsrechten an volkseigenen Grundstücken an Bedeutung. Sie hatte, verstanden als Übertragung staatlicher Nutzungsbefugnisse und -pflichten, ihre gesetzliche Grundlage zuletzt im Zivilgesetzbuch der Deutschen Demokratischen Republik vom 19. Juni 1975 (GBl I S. 465; im folgenden: ZGB) gefunden. Mit der Verleihung erhielt der Berechtigte danach das Recht, auf dem volkseigenen Grundstück ein Eigenheim oder ein anderes persönlichen Bedürfnissen dienendes Gebäude zu errichten und persönlich zu nutzen (vgl. § 287 Abs. 1, § 288 Abs. 1 ZGB). Gleiches galt für die Zuweisung von Nutzungsrechten zur Bebauung genossenschaftlich genutzter Grundstücke durch die zuweisungsbegünstigten Bürger (vgl. §§ 291, 292 Abs. 1 ZGB). Hier wie dort war das Nutzungsrecht die Voraussetzung für den Erwerb selbständigen, vom Grundstückseigentum getrennten persönlichen Eigentums an dem errichteten Bauwerk (vgl. § 288 Abs. 4, § 292 Abs. 3 ZGB).
b) Besonderheiten galten für die landwirtschaftliche Bodennutzung. Diese lag seit dem Abschluß der Kollektivierung der Landwirtschaft im Jahre 1960 weitgehend in den Händen der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (im folgenden: LPG). Sie bewirtschafteten neben den von ihren Mitgliedern eingebrachten Flächen auch Flächen im Volkseigentum, die ihnen als Rechtsträgern zur Nutzung übergeben worden waren, sowie auf vertraglicher Grundlage Grund und Boden von Nichtmitgliedern. Dabei blieb nach § 19 Abs. 1 des LPG-Gesetzes vom 2. Juli 1982 (GBl I S. 443; im folgenden: LPG-G) der eingebrachte Boden Eigentum der Mitglieder. Doch hatte die LPG an allen ihr überlassenen Flächen gemäß § 18 LPG-G das umfassende und dauerhafte Nutzungsrecht (vgl. auch BVerfGE 95, 267 ). Es berechtigte ebenfalls zur Errichtung von Gebäuden und Anlagen, an denen die LPG nach § 27 LPG-G vom Eigentum am Boden unabhängiges Eigentum erwarb.
c) Mit der fortschreitenden Überführung von Grund und Boden in Volkseigentum und der weitgehenden kollektiven Bewirtschaftung der landwirtschaftlich genutzten Flächen war auf diese Weise ein System von Nutzungszuweisungen entstanden, das auch die Grundlage für Bebauungen bildete. Sie erfüllten weitgehend die Funktion von Grundstücksbelastungen als dinglicher Rechte im Sinne des Bürgerlichen Gesetzbuchs. Auf den Erwerb von Rechten an Grundstücken und die Eigentumsverhältnisse kam es deshalb aus der Sicht der Beteiligten immer weniger an.
d) Die Rechtswirklichkeit in der Deutschen Demokratischen Republik stimmte nicht immer mit der geschriebenen Rechtslage überein. Häufig wurde - mit Billigung staatlicher Stellen oder gesellschaftlicher Organe - gebaut, obwohl der überbaute Grund und Boden nicht in Volkseigentum überführt und ein Nutzungsrecht nicht eingeräumt worden war. Die oft nur faktisch begründeten Nutzungsverhältnisse und die anschließende Bebauung von fremdem Grund und Boden wurden jedoch im allgemeinen von den Beteiligten als rechtmäßig angesehen.
2. Noch vor der Wiedervereinigung kam es zu einer grund-legenden Neuordnung des Agrarrechts der Deutschen Demokratischen Republik. Ziel war es unter anderem, das Grundeigentum an den von den LPG genutzten Flächen als Wirtschaftsgut wiederherzustellen. Dazu wurde zunächst durch § 7 Nr. 6 des Gesetzes über die Änderung oder Aufhebung von Gesetzen der Deutschen Demokratischen Republik vom 28. Juni 1990 (GBl I S. 483) das Bodennutzungsrecht der LPG nach § 18 LPG-G beseitigt. Sodann wurden in § 1 des Landwirtschaftsanpassungsgesetzes vom 29. Juni 1990 (GBl I S. 642; im folgenden: LwAnpG) das Privateigentum an Grund und Boden und die auf ihm beruhende Bewirtschaftung wiederhergestellt. § 64 LwAnpG sah (und sieht in der geltenden Fassung) die Neuordnung des Eigentums an den Flächen vor, die auf der Grundlage eines durch Rechtsvorschriften geregelten Nutzungsrechts mit im selbständigen Eigentum der LPG oder Dritter stehenden Gebäuden und Anlagen bebaut wurden.
3. Mit dem Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik Deutschland stellte sich dem Bundesgesetzgeber die Aufgabe, die verschiedenen Eigentumsformen und Nutzungsverhältnisse zu vereinheitlichen. Dies geschah in mehreren Schritten.
a)...
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