Beschluss vom 09. Juni 2020 - 2 BvE 2/19
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2020:es20200609.2bve000219 |
Judgement Number | 2 BvE 2/19 |
Date | 09 Junio 2020 |
Citation | BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 09. Juni 2020 - 2 BvE 2/19 -, Rn. 1-57, |
Court | Constitutional Court (Germany) |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvE 2/19 -
über
den Antrag festzustellen,
dass das Betreten und das Durchsuchen der Abgeordnetenräume des Antragstellers, Zimmer 2013 und 2015 in dem Objekt … am 29. September 2018 den Antragsteller in seinen Rechten aus Artikel 38 Absatz 1 Satz 2 des Grundgesetzes in Verbindung mit Artikel 40 Absatz 2 Satz 2 des Grundgesetzes und Artikel 47 des Grundgesetzes verletzt. |
Antragsteller: |
Michel Brandt, |
- Bevollmächtigter:
-
… -
Antragsgegner: |
Präsident des Deutschen Bundestages, |
- Bevollmächtigter:
-
… -
hat das Bundesverfassungsgericht - Zweiter Senat -
unter Mitwirkung der Richterinnen und Richter
Präsident Voßkuhle,
Huber,
Hermanns
Müller
Kessal-Wulf
König
Maidowski
Langenfeld
am 9. Juni 2020 beschlossen:
- Der Antragsgegner hat den Antragsteller in seinem Recht aus Artikel 38 Absatz 1 Satz 2 des Grundgesetzes dadurch verletzt, dass die Polizei beim Deutschen Bundestag die Abgeordnetenräume des Antragstellers, Zimmer 2013 und 2015 in dem Objekt … am 29. September 2018 betreten hat
A.
Der Antragsteller gehört als Mitglied der Fraktion DIE LINKE dem Deutschen Bundestag an. Er wendet sich dagegen, dass die Polizei beim Deutschen Bundestag die Abgeordnetenräume betreten hat, die ihm im Parlamentsgebäude zugewiesen sind. Der Antragsteller macht eine Verletzung seiner Rechte aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG in Verbindung mit Art. 40 Abs. 2 Satz 2 und Art. 47 GG geltend.
I.
1. § 4 der Hausordnung des Deutschen Bundestages (nachfolgend: Hausordnung) vom 7. August 2002 (BGBl I S. 3483) in der Fassung der Bekanntmachung vom 31. Mai 2017 (BGBl I S. 1290) lautet auszugsweise wie folgt:
§ 4
Verhalten in Gebäuden
(1) […]
(2) Es ist nicht gestattet, Spruchbänder oder Transparente zu entfalten, Informationsmaterial zu zeigen oder zu verteilen, es sei denn, es ist zur Verteilung zugelassen.
(3) bis (5) […]
2. Ferner besteht eine Dienstanweisung für den Polizeivollzugsdienst der Polizei beim Deutschen Bundestag (nachfolgend: DA-PVD). Eine förmliche Bekanntmachung ist nicht erfolgt. Auszugsweise lautet die in diesem Verfahren vorgelegte Fassung der DA-PVD wie folgt:
§ 1
Grundlagen
(1) 1 Die Präsidentin/Der Präsident des Deutschen Bundestages übt das Hausrecht und die Polizeigewalt im Gebäude des Deutschen Bundestages aus (Art. 40 Abs. 2 Grundgesetz, § 7 Abs. 2 Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages). 2 Dazu bedient sie/er sich des Polizei- und Sicherungsdienstes beim Deutschen Bundestag. 3 Die Ausübung der polizeilichen Befugnisse ist dem Polizeivollzugsdienst beim Deutschen Bundestag (Polizei) übertragen. 4 Gliederung, Aufsicht und Funktionsaufgaben der Polizei werden durch Organisationsplan festgelegt. 5 Bei der Ausübung des Hausrechts wirken außer der Polizei der Pfortendienst und die Ausweisstelle mit: Aufgaben und Befugnisse des Pfortendienstes und der Ausweisstelle werden in besonderen Dienstanweisungen geregelt.
(2) bis (4) […]
§ 7
Verantwortlichkeit für das Verhalten von Personen
(1) Verursacht eine Person eine Gefahr, so sind die Maßnahmen gegen sie zu richten.
(2) 1 Ist die Person noch nicht 14 Jahre alt, so können die Maßnahmen auch gegen denjenigen gerichtet werden, dem die Sorge über die Person obliegt. 2 Ist für die Person ein Betreuer bestellt, so können die Maßnahmen auch gegen den Betreuer im Rahmen seines Aufgabenbereichs gerichtet werden.
(3) Verursacht eine Person, die zu einer Verrichtung bestellt ist, die Gefahr in Ausführung der Verrichtung, so können Maßnahmen auch gegen die Person gerichtet werden, die die andere zu der Verrichtung bestellt hat.
§ 8
Verantwortlichkeit für den Zustand von Sachen
(1) Geht von einer Sache eine Gefahr aus, so sind die Maßnahmen gegen den Inhaber der tatsächlichen Gewalt zu richten.
(2) 1 Maßnahmen können auch gegen die Eigentümerin/den Eigentümer oder eine andere Berechtigte/einen anderen Berechtigten gerichtet werden. 2 Dies gilt nicht, wenn die Inhaberin/der Inhaber der tatsächlichen Gewalt diese ohne den Willen der Eigentümerin/des Eigentümers oder Berechtigten ausübt.
(3) Geht die Gefahr von einer herrenlosen Sache aus, so können die Maßnahmen gegen denjenigen gerichtet werden, der das Eigentum an der Sache aufgegeben hat.
§ 9
Unmittelbare Ausführung einer Maßnahme
(1) 1 Die Polizei kann eine Maßnahme selbst oder durch einen Beauftragten unmittelbar ausführen, wenn der Zweck der Maßnahme durch Inanspruchnahme der nach §§ 7 und 8 Verantwortlichen nicht oder nicht rechtzeitig erreicht werden kann. 2 Die/Der von der Maßnahme Betroffene ist unverzüglich zu unterrichten.
(2) Entstehen durch die unmittelbare Ausführung einer Maßnahme Kosten, ist der Vorgang dem Justitiariat zuzuleiten.
§ 10
Inanspruchnahme nicht verantwortlicher Personen
(1) Die Polizei kann Maßnahmen gegen andere Personen als die nach §§ 7 und 8 Verantwortlichen richten, wenn
1. eine gegenwärtige erhebliche Gefahr abzuwehren ist,
2. Maßnahmen gegen die nach §§ 7 und 8 Verantwortlichen nicht oder nicht rechtzeitig möglich sind oder keinen Erfolg versprechen,
3. sie die Gefahr nicht oder nicht rechtzeitig selbst oder durch Beauftragte abwehren kann und
4. die Personen ohne erhebliche Gefahr und ohne Verletzung höherwertiger Pflichten in Anspruch genommen werden können.
(2) Die Maßnahmen nach Absatz 1 dürfen nur aufrechterhalten werden, solange die Abwehr der Gefahr nicht auf andere Weise möglich ist.
§ 11
Allgemeine Befugnisse
(1) Die Polizei kann die notwendigen Maßnahmen treffen, um eine im Einzelfalle bestehende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung (Gefahr) abzuwehren, soweit nicht die §§ 13 bis 25 die Befugnisse der Polizei besonders regeln.
(2) 1 Zur Erfüllung der Aufgaben, die der Polizei durch andere Rechtsvorschriften zugewiesen sind (§ 3 Absatz 3), hat sie die dort vorgesehenen Befugnisse. 2 Soweit solche Rechtsvorschriften Befugnisse der Polizei nicht regeln, hat sie die Befugnisse, die nach dieser Dienstanweisung zustehen.
§ 23
Betreten und Durchsuchen von Räumen
(1) Die Polizei kann einen Raum ohne Einwilligung der Benutzerin/des Benutzers zur Abwehr einer Gefahr betreten.
(2) Die Polizei kann einen Raum ohne Einwilligung der Benutzerin/des Benutzers durchsuchen, wenn
1. Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sich in ihm eine Person befindet, die nach § 15 Absatz 3 vorgeführt oder nach § 17 in Gewahrsam genommen werden darf,
2. Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sich in ihm eine Sache befindet, die nach § 25 Nr. 1 sichergestellt werden darf oder
3. dies zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit einer Person oder für Sachen von bedeutendem Wert erforderlich ist.
(3) 1 Die Durchsuchung ist – außer bei gegenwärtiger erheblicher Gefahr – nur mit Genehmigung der Präsidentin/des Präsidenten des Deutschen Bundestages zulässig. 2 Die Präsidentin/Der Präsident ist unverzüglich vom Ergebnis der Durchsuchung zu unterrichten.
II.
1. Von Donnerstag, dem 27. September 2018, bis Samstag, dem 29. September 2018, hielt sich der türkische Staatspräsident in Berlin auf. Im Zuge dieses Staatsbesuchs wurden Straßensperrungen im Regierungsviertel vorgenommen. Innerhalb des gesperrten Gebiets befand sich auch das Gebäude ... Im zweiten Obergeschoss dieses Gebäudes befinden sich die dem Antragsteller zugewiesenen Abgeordnetenräume.
2. Am Samstag, dem 29. September 2018, hingen an den zur Straße … gerichteten Fenstern der Abgeordnetenräume des Antragstellers (Zimmer 2013 und 2015) auf Papier gedruckte Abbildungen von Zeichen der kurdischen Volksverteidigungseinheiten YPG in Syrien, jeweils im Format DIN A4 (nachfolgend: Plakatierungen). Beamte der Polizei beim Deutschen Bundestag stellten diese Plakatierungen anlässlich eines Kontrollgangs um 16:07 Uhr fest. Zu diesem Zeitpunkt waren die Straßensperrungen im Bereich des Gebäudes … bereits wieder aufgehoben. Der Antragsteller hielt sich bei Entdeckung der Plakatierung durch die Polizeibeamten nicht in seinen Büroräumen auf. Versuche, ihn telefonisch oder auf anderem Wege zu erreichen, unternahm die Polizei beim Deutschen Bundestag nicht.
3. Die Beamten der Polizei beim Deutschen Bundestag betraten die Abgeordnetenräume und nahmen die Plakatierungen ab. In den Büroräumen hinterließen sie einen roten Hinweiszettel, der die Angabe enthielt, bei einem „routinemäßigen Kontrollgang“ seien in den Zimmern 2013/2015 „Plakatierungen“ festgestellt worden, die „gemäß § 4 Abs. 2 der Hausordnung anlässlich des Staatsbesuchs des türkischen...
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