Beschluss vom 09. Juni 2020 - 2 BvR 469/20
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2020:rk20200609.2bvr046920 |
Citation | BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 09. Juni 2020 - 2 BvR 469/20 -, Rn. 1-40, |
Judgement Number | 2 BvR 469/20 |
Date | 09 Junio 2020 |
Court | Constitutional Court (Germany) |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 469/20 -
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn L …, |
- Bevollmächtigte:
-
… -
gegen |
den Beschluss des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 12. Februar 2020 - 2 B 333/19 - |
und | Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung |
hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Präsidenten Voßkuhle,
die Richterin Kessal-Wulf
und den Richter Maidowski
am 9. Juni 2020 einstimmig beschlossen:
- Der Beschluss des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 12. Februar 2020 - 2 B 333/19 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 19 Absatz 4 Satz 1 des Grundgesetzes. Er wird aufgehoben. Die Sache wird an das Sächsische Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen
- Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
- Der Freistaat Sachsen hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen im Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten
- Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit für das Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 10.000 Euro (in Worten: zehntausend Euro) festgesetzt.
I.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Versagung einstweiligen Rechtsschutzes gegen die Entlassung aus dem Beamtenverhältnis auf Widerruf kraft Gesetzes wegen endgültigen Nichtbestehens einer Prüfung im Rahmen der polizeilichen Ausbildung gemäß § 22 Abs. 4 des Gesetzes zur Regelung des Statusrechts der Beamtinnen und Beamten in den Ländern (Beamtenstatusgesetz – BeamtStG) in Verbindung mit § 40 Abs. 1 des Sächsischen Beamtengesetzes (SächsBG). Die Normen lauten in der für das Ausgangsverfahren maßgeblichen Fassung (BeamtStG vom 17. Juni 2008, BGBl I S. 1010; SächsBG vom 18. Dezember 2013, SächsGVBl S. 970, 971):
§ 22 BeamtStG
Entlassung kraft Gesetzes
(4) Das Beamtenverhältnis auf Widerruf endet mit Ablauf des Tages der Ablegung oder dem endgültigen Nichtbestehen der für die Laufbahn vorgeschriebenen Prüfung, sofern durch Landesrecht nichts anderes bestimmt ist.
§ 40 SächsBG
Entlassung kraft Gesetzes
(1) Abweichend von § 22 Abs. 4 des Beamtenstatusgesetzes ist der Beamte auf Widerruf mit Ablauf des Tages aus dem Beamtenverhältnis entlassen, an dem ihm
1. das Bestehen oder endgültige Nichtbestehen der Prüfung oder
2. das endgültige Nichtbestehen einer vorgeschriebenen Zwischenprüfung
schriftlich bekannt gegeben wird.
1. Seit Oktober 2018 absolvierte der Beschwerdeführer als Beamter auf Widerruf den Vorbereitungsdienst zum Erwerb der Laufbahnbefähigung der Fachrichtung Polizei (Laufbahngruppe 2.1) an der Hochschule der Sächsischen Polizei (FH).
Im Rahmen der Laufbahnausbildung ist eine sogenannte Modulprüfung M3 – „Grundlagen des Polizeitrainings; Absolvierung der Kontrollübung Pistole“ – zu absolvieren, über deren Relevanz für die Modulnote und für das endgültige Nichtbestehen der Laufbahnprüfung Streit zwischen dem Beschwerdeführer und der Hochschule besteht. Uneins sind der Beschwerdeführer und die Hochschule auch hinsichtlich der Anforderungen an die konkrete Durchführung der Kontrollübung.
Anfang Juni 2019 nahm der Beschwerdeführer an der ersten Wiederholungsprüfung der Kontrollübung Pistole teil. Mit Bescheid vom 11. Juni 2019 teilte die Hochschule dem Beschwerdeführer das Nichtbestehen dieser Prüfung mit. Den dagegen eingelegten Widerspruch wies die Hochschule im August 2019 zurück. Die gegen den Widerspruchsbescheid erhobene Klage ist weiterhin bei dem Verwaltungsgericht Dresden anhängig (11 K 1739/19). Mitte Juni 2019 stellte der Beschwerdeführer einen Antrag auf Zulassung zu einer zweiten Wiederholungsprüfung wegen besonderer Härte gemäß § 45 Abs. 2 der Verordnung des Sächsischen Staatsministeriums des Innern über Ausbildung, Studium und Prüfung für die Laufbahnen der Fachrichtung Polizei (Sächsische Ausbildungs- und Prüfungsordnung für die Fachrichtung Polizei – SächsAPOPol), welchen die Hochschule mit Bescheid aus August 2019 ablehnte. Über den dagegen eingelegten Widerspruch ist noch nicht entschieden.
2. Im September 2019 teilte die Hochschule dem Beschwerdeführer mit, dass er die Modulprüfung M3 endgültig nicht bestanden habe und sein Studium mit Ablauf des Tages der schriftlichen Bekanntgabe des endgültigen Nichtbestehens gemäß § 45 Abs. 5 Satz 1 SächsAPOPol in Verbindung mit § 40 Abs. 1 Nr. 1 Alternative 2 des Sächsischen Beamtengesetzes (SächsBG) ende. Dagegen erhob der Beschwerdeführer Ende September 2019 Widerspruch. Gleichzeitig ersuchte er um verwaltungsgerichtlichen Eilrechtsschutz mit dem Hauptantrag, die Hochschule zu verpflichten, ihm unter erneuter Berufung in das Beamtenverhältnis auf Widerruf die Fortsetzung der Laufbahnausbildung vorläufig zu gestatten.
3. Sein Ersuchen um verwaltungsgerichtlichen Eilrechtsschutz blieb erfolglos.
a) Das Verwaltungsgericht Dresden lehnte den Antrag mit Beschluss aus November 2019 ab. Die Voraussetzungen für die mit der beantragten Regelungsanordnung einhergehende Vorwegnahme der Hauptsache – überwiegende Erfolgsaussichten in der Hauptsache und schlechthin unzumutbare Nachteile – seien nicht erfüllt.
Der Beschwerdeführer habe unabhängig von den Erfolgsaussichten seiner prüfungsrechtlichen Einwände keinen Anspruch auf vorläufige Fortsetzung seines Studiums, weder innerhalb noch außerhalb eines Beamtenverhältnisses auf Widerruf. Mangels Anordnungsanspruchs komme es daher nicht auf die Frage an, ob die zeitliche Verzögerung des Studienverlaufs einen Anordnungsgrund darstelle.
b) In seiner Beschwerde argumentierte der Beschwerdeführer, dass er einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht habe. Beim Zuwarten bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache entstünden ihm unzumutbare, nachträglich nicht mehr revidierbare Nachteile, da die bis dahin vergangene Zeit nicht nachgeholt werden könne und sich seine Ausbildung sowie die Aufnahme einer Berufstätigkeit erheblich verzögern würden. Ein allgemeines Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache könne es angesichts des Gebots effektiven Rechtsschutzes nicht geben.
Zudem sei das Verwaltungsgericht bei der Prüfung eines möglichen Anordnungsanspruchs von einem unzutreffenden Maßstab ausgegangen. Selbst wenn man dem Verwaltungsgericht darin zustimmte, dass es für die Entlassung allein auf die Bekanntgabe des endgültigen Nichtbestehens ankomme, sei „neben der Bekanntgabe im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes inzident zu prüfen (…), ob der Antragsteller einen Anspruch auf erneute Absolvierung der Prüfung“ habe. Denn auch das Verwaltungsgericht gehe davon aus, dass der Beschwerdeführer bei Erfolg des prüfungsrechtlichen Hauptsacheverfahrens einen Anspruch auf erneute Ernennung habe. Für die Erfolgsaussichten der Hauptsache komme es daher jedenfalls auf diesen Streit und die Einwände gegen die Prüfungsentscheidung und die Nichtzulassung zur Wiederholungsprüfung an.
Einen derartigen Anordnungsanspruch habe er auch glaubhaft gemacht. Der Bescheid aus September 2019 sei rechtswidrig. Die Voraussetzungen des § 45 SächsAPOPol lägen nicht vor. Dazu führt der Beschwerdeführer unter Darlegung verschiedener Argumente aus, dass das Nichtbestehen der Kontrollübung Pistole irrelevant sei für das endgültige Nichtbestehen einer Prüfung im Sinne des § 40 Abs. 1 SächsBG, § 22 Abs. 4 BeamtStG, § 45 SächsAPOPol. Zudem sei es verfassungswidrig, das Bestehen einer Prüfung und/oder die Fortsetzung des Studiums vom Bestehen einer für den weiteren Studienverlauf bedeutungslosen Leistung abhängig zu machen. Darüber hinaus sei seine Leistung in der Kontrollübung Pistole verfahrensfehlerhaft zustande gekommen.
Hilfsweise mache er einen Anspruch auf Zulassung zur Wiederholung der „Leistungsfeststellung Pistole“ geltend. Dem stünde auch nicht die Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts entgegen, dass hoheitliche Tätigkeiten nur im Rahmen eines Beamtenverhältnisses ausgeübt werden könnten. Denn bei der Leistungsfeststellung an sich handle es sich nicht um eine hoheitliche Tätigkeit; sie könne außerhalb eines Beamtenverhältnisses erfolgen.
c) Das Sächsische Oberverwaltungsgericht wies die...
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Beschluss vom 14. Januar 2022 - 2 BvR 1528/21
...Hinsicht führen (vgl. BVerfGE 61, 82 ; 67, 43 ; BVerfGK 1, 201 ; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 9. Juni 2020 - 2 BvR 469/20 -, Rn. 23). Das Bundesverfassungsgericht kann jedoch nur prüfen, ob die fachgerichtliche Auslegung und Anwendung Fehler erkennen lässt, die auf......
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