Beschluss vom 09. März 2020 - 2 BvR 103/20
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2020:rk20200309.2bvr010320 |
Judgement Number | 2 BvR 103/20 |
Date | 09 Marzo 2020 |
Court | Constitutional Court (Germany) |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 103/20 -
über
die Verfassungsbeschwerde
des Minderjährigen L…, gesetzlich vertreten durch die Eltern C… und L…, |
- Bevollmächtigte:
-
… -
gegen |
a) den Beschluss des Oberlandesgerichts München vom 27. Dezember 2019 - 3 Ws 1320/19, 3 Ws 1321/19, 3 Ws 1322/19, 3 Ws 1323/19, 3 Ws 1324/19, 3 Ws 1325/19 -, |
|
b) den Haftbefehl des Amtsgerichts Augsburg vom 9. Dezember 2019 - 33 Gs 1742/19 jug. - |
und | Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung |
hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Präsidenten Voßkuhle,
die Richterin Kessal-Wulf
und den Richter Maidowski
am 9. März 2020 einstimmig beschlossen:
- Der Beschluss des Oberlandesgerichts München vom 27. Dezember 2019 - 3 Ws 1320/19, 3 Ws 1321/19, 3 Ws 1322/19, 3 Ws 1323/19, 3 Ws 1324/19, 3 Ws 1325/19 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 in Verbindung mit Artikel 104 des Grundgesetzes
- Der Beschluss des Oberlandesgerichts München wird aufgehoben, soweit hierdurch die Untersuchungshaft gegen den Beschwerdeführer angeordnet wurde. Die Sache wird an das Oberlandesgericht zurückverwiesen
- Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen
- Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.
- Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.
- Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 10.000 Euro (in Worten: zehntausend Euro) festgesetzt.
A.
Der Beschwerdeführer wendet sich gegen die Anordnung und Aufrechterhaltung von Untersuchungshaft.
I.
1. Die Staatsanwaltschaft Augsburg führt gegen den 17-jährigen Beschwerdeführer ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Beihilfe zum Totschlag und der gefährlichen Körperverletzung. Der Beschwerdeführer wurde in dieser Sache am 8. Dezember 2019 vorläufig festgenommen. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft Augsburg erließ das Amtsgericht Augsburg am 9. Dezember 2019 Haftbefehle gegen den Beschwerdeführer und sechs weitere Beschuldigte.
Das Amtsgericht hält den Beschwerdeführer für dringend verdächtig, als Teil einer Gruppe von sieben Personen am 6. Dezember 2019 gegen 22.40 Uhr im Bereich des Königsplatzes in Augsburg auf die von einem Besuch des Weihnachtsmarkts kommenden Geschädigten S. und M. getroffen zu sein. Der Beschwerdeführer und die Mitbeschuldigten hätten bereits seit geraumer Zeit freundschaftliche Kontakte gepflegt und sich als Ausdruck der Zusammengehörigkeit gemeinsam mit weiteren Personen als Gruppe den Namen „Oberhausen 54“ gegeben. Nachdem sich zunächst ein Wortwechsel zwischen dem Geschädigten S. und einer oder mehrerer Personen aus der Gruppe entwickelt habe, hätten der Beschwerdeführer und die Mitbeschuldigten den Geschädigten S. umzingelt, um diesen einzuschüchtern. Alle Beschuldigten seien zu diesem Zeitpunkt jederzeit bereit gewesen, den Geschädigten S. entweder selbst gewaltsam zu attackieren oder ein anderes Gruppenmitglied bei jedweder Art auch massiver Gewalthandlungen gegen den Geschädigten zu unterstützen, sei es verbal, körperlich oder auch durch schiere physische Präsenz und Demonstration der Überlegenheit der Gruppe gegenüber dem allein in ihrer Mitte stehenden Geschädigten S. Auf diese Weise hätten der Zusammenhalt und die zahlenmäßige Überlegenheit der Gruppe jedem der Beschuldigten ein erhöhtes Sicherheitsgefühl vermittelt, einhergehend mit einer erhöhten Bereitschaft, Aggressionen gegenüber dem Opfer hemmungslos auszuleben und sich zu solchen durch die übrigen Gruppenmitglieder angestachelt zu fühlen. Dies sei auch jedem von ihnen bewusst gewesen.
Während der Geschädigte S. auf einen vor ihm stehenden, ihn bedrängenden Beschuldigten konzentriert gewesen sei und diesen von sich gestoßen habe, habe ihm der seitlich von ihm stehende Mitbeschuldigte S. – tödliche Verletzungen des Geschädigten billigend in Kauf nehmend – einen gezielten und derart wuchtigen Schlag mit der Faust gegen die linke Gesichtshälfte auf Höhe des Kinns versetzt, dass der Kopf des Geschädigten in solch hoher Geschwindigkeit in einer Rotationsbewegung nach rechts geschnellt sei, dass dessen Hirngrundschlagader eingerissen sei. Hierbei sei es zu einer schlagartigen massiven Blutansammlung im Gehirn des Geschädigten gekommen, weshalb dieser – wie der Beschuldigte S., aber auch alle anderen Beschuldigten billigend in Kauf genommen hätten – augenblicklich aufgrund einer Subarachnoidalblutung verstorben sei.
Der wenige Meter entfernt stehende Geschädigte M. sei, als er dies gesehen habe, in Richtung des Geschädigten S. geeilt, um diesem zu helfen. Daraufhin hätten alle sieben Beschuldigten entschieden, nunmehr den Geschädigten M. zu attackieren. Die Beschuldigten hätten ihm in der Folge – in der Absicht, ihm erhebliche Verletzungen und Schmerzen zuzufügen – zahlreiche Schläge gegen den Gesichtsbereich und diverse Schläge und Tritte gegen den Körper versetzt. Alle Beschuldigten hätten dabei die Schläge und Tritte der anderen jeweils gebilligt. Der Geschädigte M. habe durch die Attacken der sieben Beschuldigten insbesondere einen Jochbeinbruch, eine Platzwunde am linken Auge, eine Prellung am Oberschenkel sowie erhebliche Schmerzen erlitten und einer stationären Behandlung im Universitätsklinikum Augsburg bedurft.
Das Amtsgericht bewertete das Verhalten des Beschwerdeführers als Beihilfe zum Totschlag in Tatmehrheit mit gefährlicher Körperverletzung (§ 212, § 223 Abs. 1, § 224 Abs. 1 Nr. 4, § 53, § 25 Abs. 2, § 27 StGB) und stützte den dringenden Tatverdacht insbesondere auf die aus Videoaufzeichnungen gewonnenen Erkenntnisse.
Es stellte die Haftgründe der Flucht- und Verdunkelungsgefahr fest (§ 112 Abs. 2 Nr. 2, Nr. 3 StPO). Fluchtgefahr bestehe, da der Beschwerdeführer im Falle einer Verurteilung mit einer Freiheitsstrafe zu rechnen habe, die nicht mehr zur Bewährung ausgesetzt werden könne. Die Verdunkelungsgefahr sieht das Amtsgericht in dem Umstand begründet, dass der Beschwerdeführer und die Mitbeschuldigten Angehörige der Gruppierung „Oberhausen 54“ seien. Erfahrungsgemäß sei bei derartigen Zusammenschlüssen mit konspirativen Verhaltensweisen und einem unlauteren Einwirken auf Beteiligte zu rechnen. Schließlich sei der Beschuldigte einer der in § 112 Abs. 3 StPO genannten Straftaten dringend verdächtig.
2. Hiergegen legte der Verteidiger des Beschwerdeführers, sein hiesiger Verfahrensbevollmächtigter, am 10. Dezember 2019 Haftbeschwerde ein. Er wandte sich sowohl gegen den dringenden Tatverdacht als auch gegen die angenommenen Haftgründe. Fluchtgefahr bestehe nicht. Der Beschwerdeführer sei in Augsburg geboren, lebe in soliden Familienverhältnissen und befinde sich derzeit in einer Berufsausbildung. Er verfüge weder über die Kenntnisse noch die finanziellen Mittel, um sich einem Strafverfahren zu entziehen. Der Haftgrund der Verdunkelungsgefahr erscheine kurios. Zum einen existierten Videoaufnahmen. Darüber hinaus habe der Beschwerdeführer bereits Angaben zur Sache gegenüber den Ermittlungsbehörden gemacht. Alle sieben Personen seien identifiziert. Allein eine mögliche Zusammengehörigkeit zu einer Gruppierung „Oberhausen 54“ – 54 stehe für die letzten Ziffern der Postleitzahl des Stadtteils Oberhausen – lasse nicht zwangsläufig auf Verdunkelungsgefahr schließen. Es handele sich um eine Gruppierung, die sich besonders mit einem Stadtteil identifiziere. Ein unlauteres Einwirken auf Beteiligte – es werde nicht genannt, auf wen eingewirkt werden solle – erscheine im Hinblick auf den Stand der Ermittlungen und Inhaftierungen ungewöhnlich.
3. Das Amtsgericht half der Beschwerde am 13. Dezember 2019 nicht ab. Daraufhin hob das Landgericht Augsburg - Jugendkammer - den Haftbefehl durch Beschluss vom 23. Dezember 2019 auf. Das Landgericht verneinte einen dringenden Tatverdacht gegen den Beschwerdeführer.
a) Es legte dabei den folgenden Sachverhalt als Ergebnis der bisherigen Ermittlungen, insbesondere gestützt auf die Videoaufzeichnungen, die Angaben der Zeugen M. und R. sowie die nach seiner Auffassung unwiderlegten Angaben der Beschuldigten, zu Grunde:
Gegen 22.41 Uhr hätten die Geschädigten S. und M., deren Ehefrauen ihnen vorausgegangen seien, den Beschwerdeführer und vier weitere Beschuldigte passiert. Der Beschwerdeführer habe in diesem Moment den Geschädigten S. nach einer Zigarette gefragt, was dieser mit der knappen Äußerung „Schnauze“ quittiert habe. Als der Beschwerdeführer darauf mit der sinngemäßen Äußerung „Was, wieso Schnauze“ reagiert habe, habe sich der Geschädigte S. umgedreht, sei direkt auf den Beschwerdeführer zugelaufen und habe diesen gefragt, ob er ihn anpöbeln wolle. Der Geschädigte M. sei ihm langsam gefolgt. Der Beschwerdeführer und drei weitere Beschuldigte seien daraufhin stehengeblieben. Als der Geschädigte S. mit dem Beschwerdeführer Kopf an Kopf gestanden habe, habe der Beschwerdeführer zunächst einen Ausweichschritt nach hinten gemacht. Unmittelbar anschließend habe der Geschädigte S. ihn mit beiden Händen weiter von sich weggestoßen. In diesem Moment habe der Beschuldigte S. dem Geschädigten den tödlichen Schlag versetzt.
Der Geschädigte M., der direkt neben dem Geschädigten S. gestanden habe, habe...
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