Beschluss vom 10. Juni 2020 - 2 BvR 11/20
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2020:rk20200610.2bvr001120 |
Date | 10 Junio 2020 |
Citation | BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 10. Juni 2020 - 2 BvR 11/20 -, Rn. 1-24, |
Judgement Number | 2 BvR 11/20 |
Court | Constitutional Court (Germany) |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 11/20 -
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn E..., |
- Bevollmächtigte:
- ... -
gegen |
den Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin vom 30. Oktober 2019 - VG 9 L 679.19 A - |
u n d Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung von Rechtsanwalt ... |
hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Präsidenten Voßkuhle,
die Richterin Kessal-Wulf
und den Richter Maidowski
am 10. Juni 2020 einstimmig beschlossen:
- Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin vom 30. Oktober 2019 - VG 9 L 679.19 A - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 19 Absatz 4 Satz 1 des Grundgesetzes. Die Entscheidung wird aufgehoben. Die Sache wird an das Verwaltungsgericht Berlin zurückverwiesen
- Das Land Berlin hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten. Damit erledigt sich der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe
- Der Gegenstandswert der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 10.000 (in Worten: zehntausend) Euro festgesetzt
I.
1. Der Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger. Nachdem sein Antrag auf internationalen Schutz in Schweden abgelehnt worden war, stellte er am 11. September 2018 im Bundesgebiet einen weiteren Asylantrag.
2. Diesen lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) mit Bescheid vom 17. Oktober 2018 als unzulässig ab und ordnete die Abschiebung des Beschwerdeführers nach Schweden an. Nach Ablauf der Überstellungsfrist hob das Bundesamt diesen Bescheid auf.
3. Mit weiterem Bescheid vom 24. September 2019 lehnte das Bundesamt den Asylantrag gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 5 in Verbindung mit § 71a AsylG als unzulässig ab, stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorlägen und drohte dem Beschwerdeführer die Abschiebung nach Afghanistan an.
4. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer am 2. Oktober 2019 Klage beim Verwaltungsgericht Berlin und stellte zugleich einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung. Zur Begründung trug er unter Vorlage einer schwedischen Taufurkunde im Wesentlichen vor, dass er zum Christentum konvertiert sei und deshalb ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 3 EMRK gegeben sei.
5. Mit dem angefochtenen Beschluss vom 30. Oktober 2019 wies das Verwaltungsgericht den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung zurück. Der Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 71a Abs. 4, § 36 Abs. 3 Satz 1 AsylG sei unzulässig. Dem Beschwerdeführer fehle das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis. Nach der Berliner Weisungslage und Praxis für ausreisepflichtige Personen aus Afghanistan werde die nach § 58 Abs. 1 AufenthG gesetzlich angeordnete Abschiebung nicht durchgesetzt. Die im Land Berlin geltende Weisung „VAB E Afghanistan 1“ sehe Abschiebungen von ausreisepflichtigen Personen aus Afghanistan nur für Straftäter – Strafen von weniger als 50 Tagessätzen beziehungsweise 90 Tagessätzen nach aufenthaltsrechtlichen Vorschriften blieben außer Betracht –, Gefährder und Personen vor, die sich hartnäckig der Identitätsfeststellung verweigern. Eine Abschiebung sei zudem nur nach Zustimmung der Senatsverwaltung für Inneres und Sport zulässig, die von der Ausländerbehörde vor jeder beabsichtigten Abschiebung erbeten werden müsse. Danach drohe dem Beschwerdeführer keine Abschiebung nach Afghanistan. Dass die Ausländerbehörde in Berlin Personen, die nicht unter die oben genannten drei Gruppen fallen, zwangsweise nach Afghanistan zurückführe, sei nicht ersichtlich. Ebenso wenig sei ersichtlich, dass die Senatsverwaltung auch nur in einem einzigen Fall bei einer solchen Person eine Zustimmung zur Abschiebung erteilt habe oder erteilen werde. Dementsprechend heiße es in dem Schreiben des Beauftragten des Senats von Berlin für Integration und Migration vom 19. Mai 2017 an die Mitarbeiter von Beratungsstellen, Vereinen und Projekten, dass Abschiebungen nach Afghanistan in den letzten Jahren aus Berlin nicht erfolgt seien und jede vorgesehene Abschiebung unter dem Vorbehalt der Zustimmung stehe, was in den letzten Jahren zu keiner einzigen Rückführung geführt habe. Hiermit korrespondierten die Angaben des Pressesprechers des Senators für Inneres und Sport vom Juli 2018, wonach sich die SPD-Innenminister und -senatoren darauf verständigt hätten, auch weiterhin nur bestimmte Einzelpersonen ‒ namentlich Gewalttäter, Vergewaltiger und Gefährder ‒ nach Afghanistan abzuschieben. Anhaltspunkte dafür, dass die mit der Fassung vom 19. Juli 2019 in der Formulierung leicht geänderte Weisung hieran etwas geändert hätte, seien nicht ersichtlich. Für den Beschwerdeführer ergäbe sich aus der begehrten Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage auch sonst keine bessere Rechtsstellung. Werde dem Anordnungsantrag...
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