Beschluss vom 10. Oktober 2019 - 2 BvR 1380/19
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2019:rk20191010.2bvr138019 |
Citation | BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 10. Oktober 2019 - 2 BvR 1380/19 -, Rn. (1-30), |
Judgement Number | 2 BvR 1380/19 |
Date | 10 Octubre 2019 |
Court | Constitutional Court (Germany) |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 1380/19 -
über
die Verfassungsbeschwerde
des minderjährigen M …, |
- Bevollmächtigter:
- … -
gegen |
a) den Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichts Würzburg vom 25. Juli 2019 - W 4 S 19.50593 -, |
|
b) den Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichts Würzburg vom 8. Juli 2019 - W 4 S 19.50575 - |
und | Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung |
und | Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung von Rechtsanwalt … |
hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Präsidenten Voßkuhle,
die Richterin Kessal-Wulf
und den Richter Maidowski
am 10. Oktober 2019 einstimmig beschlossen:
- Die Beschlüsse des Bayerischen Verwaltungsgerichts Würzburg vom 8. Juli 2019 - W 4 S 19.50575 - und vom 25. Juli 2019 - W 4 S 19.50593 - verletzen die Rechte des Beschwerdeführers aus Artikel 19 Absatz 4 Satz 1 in Verbindung mit Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes. Die Entscheidungen werden aufgehoben und die Sache an das Bayerische Verwaltungsgericht Würzburg zurückverwiesen
- Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren und für das – mit Beschluss vom 4. September 2019 beschiedene – Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu erstatten. Damit erledigt sich der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe
- Der Gegenstandswert der anwaltlichen Tätigkeit wird für das Verfassungsbeschwerdeverfahren auf 10.000 (in Worten: zehntausend) Euro und für den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung auf 5.000 (in Worten: fünftausend) Euro festgesetzt
I.
1. Der am 20. April 2019 in Deutschland geborene Beschwerdeführer ist somalischer Staatsangehöriger.
Für seine Mutter hatte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) bereits am 18. Januar 2018 ein Übernahmeersuchen nach der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (Dublin III-Verordnung) an Italien gerichtet. Nachdem dieses Ersuchen unbeantwortet geblieben war, ging das Bundesamt mit Ablauf des 18. März 2019 von der Zuständigkeit Italiens für die Durchführung des Asylverfahrens der Mutter des Beschwerdeführers aus (Art. 22 Abs. 7 Dublin III-Verordnung). Der Asylantrag des Beschwerdeführers galt am 15. Mai 2019 als gestellt (§ 14a Abs. 2 Satz 3 AsylG). Seine Mutter hatte Gelegenheit, schutzwürdige Belange vorzutragen.
2. Mit Bescheid vom 24. Juni 2019 lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Beschwerdeführers als unzulässig ab (Ziffer 1), stellte fest, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 2), ordnete die Abschiebung des Beschwerdeführers nach Italien an (Ziffer 3) und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot auf sechs Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 4).
Italien sei für die Durchführung des Asylverfahrens des Beschwerdeführers zuständig, ohne dass für ihn ein eigenes Zuständigkeitsbestimmungsverfahren eingeleitet werden müsse; die Zustimmung Italiens im Dublin-Verfahren der Mutter gelte gemäß Art. 20 Abs. 3 Dublin III-Verordnung auch für den Beschwerdeführer. Zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote oder Gründe für die Ausübung des Selbsteintrittsrechts durch die Bundesrepublik Deutschland nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-Verordnung lägen nicht vor. Das italienische Asylsystem leide auch unter Berücksichtigung des sogenannten Salvini-Dekrets nicht an systemischen Mängeln. Allerdings könne es vorkommen, dass Asylsuchenden der Zugang zu einer Unterbringung erst nach der formellen Registrierung des Antrags ermöglicht werde. Es sei jedoch nicht zu befürchten, dass asylsuchende Kleinkinder beeinträchtigt würden. Eine individuelle Garantieerklärung Italiens vor einer Überstellung von Familien mit Kleinstkindern sei daher nicht erforderlich. Dass es bei Dublin-Rückkehrern in bestimmten Fällen zu einem Verlust des Unterkunftsanspruchs komme, begründe keinen Verstoß gegen Art. 3 EMRK. Inlandsbezogene Abschiebungshindernisse – insbesondere infolge der Anerkennung der Vaterschaft für den Beschwerdeführer – lägen ebenso wenig vor.
3. Der Beschwerdeführer erhob gegen den Bescheid vom 24. Juni 2019 am 2. Juli 2019 Klage beim Verwaltungsgericht Würzburg und beantragte, die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen. Zur Begründung führte er unter Verweis auf zahlreiche verwaltungsgerichtliche Entscheidungen und Berichte über die Situation in Italien aus: Als neugeborenes Kind gehöre er zu den besonders vulnerablen Personen im Sinne der Tarakhel-Rechtsprechung des EGMR (Urteil vom 4. November 2014, Tarakhel v. Switzerland, Nr. 29217/12), doch liege eine kon-kret-individuelle Zusicherung in seinem Fall nicht vor. Die allgemeine Zusicherung Italiens vom 15. April 2015 zur Unterbringung von Familien in den sogenannten SPRAR-Einrichtungen sei hinfällig, weil diese Einrichtungen nur noch für unbegleitete Minderjährige und anerkannte Asylbewerber vorgesehen seien. Auch die allgemeine Zusicherung Italiens vom 8. Januar 2019, wonach Dublin-Rückkehrer in anderen Aufnahmezentren (CARA und CAS) aufgenommen würden, in denen die Wahrung der Familieneinheit und der Schutz Minderjähriger gewährleistet seien, reiche nicht aus. Die Schweizerische Flüchtlingshilfe beobachte, dass insbesondere verletzliche Personen, die nach Italien überstellt würden, dort oftmals keine oder keine ausreichende Unterstützung erhielten. Zugang zum Aufnahmesystem erhielten Asylsuchende in Italien in der Regel erst nach Ausfüllen des Formulars C3; dieses wiederum erhielten sie nicht unmittelbar nach ihrer Ankunft, sondern erst beim normalerweise einige Wochen später stattfindenden zweiten Termin bei der Questura.
4. Mit Beschluss vom 8. Juli 2019 lehnte das Verwaltungsgericht den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage ab.
In Italien bestünden keine systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen. Zwar werde der bisherige humanitäre Schutzstandard durch das am 5. Oktober 2018 erlassene und am 7. November 2018 durch den Senat sowie am 28. November 2018 durch das Parlament bestätigte Dekret No. 113/2018 über Sicherheit und Migration (Salvini-Dekret) stark abgesenkt. Die Bedürfnisse von Familien sowie vulnerablen Personen würden jedoch auch künftig Berücksichtigung finden. So seien Plätze für Familien sowie alleinreisende Frauen (mit Kindern) vorgesehen, und neben den staatlichen Einrichtungen existierten karitative und kommunale Angebote zusätzlicher Unterkunftsmöglichkeiten. Lediglich in Einzelfällen...
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