Beschluss vom 11. März 2013 - 1 BvR 2853/11
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2013:rk20130311.1bvr285311 |
Judgement Number | 1 BvR 2853/11 |
Date | 11 Marzo 2013 |
Citation | BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 11. März 2013 - 1 BvR 2853/11 - Rn. (1-43), |
Court | Constitutional Court (Germany) |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 2853/11 -
über
die Verfassungsbeschwerde
der P... GmbH,
vertreten durch den Geschäftsführer …
Steinstraße 1/Kö, 40212 Düsseldorf -
gegen a) | den Beschluss des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 27. September 2011 - 4 A 186/10 -, |
b) | das Urteil des Verwaltungsgerichts Leipzig vom 20. August 2009 - 5 K 1216/06 -, |
c) | den Beschluss des Verwaltungsgerichts Leipzig (zweiter Befangenheitsantrag) vom 20. August 2009 - 5 K 1216/06 -, |
d) | den Beschluss des Verwaltungsgerichts Leipzig (erster Befangenheitsantrag) vom 20. August 2009 - 5 K 1216/06 - |
hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Vizepräsidenten Kirchhof,
den Richter Eichberger
und die Richterin Britz
am 11. März 2013 einstimmig beschlossen:
- Der Beschluss des Verwaltungsgerichts
Leipzig vom 20. August 2009 - 5 K 1216/06 - (erster
Befangenheitsantrag), der Beschluss des Verwaltungsgerichts
Leipzig vom 20. August 2009 - 5 K 1216/06 - (zweiter
Befangenheitsantrag) und das Urteil des Verwaltungsgerichts
Leipzig vom 20. August 2009 - 5 K 1216/06 - verletzen die
Beschwerdeführerin in ihrem grundrechtsgleichen Recht aus
Artikel 101 Absatz 1 Satz 2 des Grundgesetzes.
Die Entscheidungen werden aufgehoben und die Sache wird an das Verwaltungsgericht Leipzig zurückverwiesen.
Damit wird der Beschluss des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 27. September 2011 – 4 A 186/10 - gegenstandslos. - Der Freistaat Sachsen hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen zu erstatten.
- Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 8.000 € (in Worten: achttausend Euro) festgesetzt.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Verwerfung von Befangenheitsanträgen unter Mitwirkung der abgelehnten Kammervorsitzenden in einem verwaltungsgerichtlichen Verfahren.
I.
1. Die Rechtsvorgängerin der Beschwerdeführerin war Klägerin in einem verwaltungsgerichtlichen Verfahren. Im Rahmen der mündlichen Verhandlung vernahm die mit drei Berufsrichtern und zwei ehrenamtlichen Richtern besetzte Kammer des Verwaltungsgerichts einen Zeugen unter anderem zu der Verwaltungspraxis der Behörde, die den angegriffenen Bescheid erlassen hatte. Dabei weigerte sich der Zeuge, bestimmte Einzelheiten zu anderen Fällen mitzuteilen.
a) Im Verlauf der Beweisaufnahme lehnte der Prozessbevollmächtigte der Rechtsvorgängerin der Beschwerdeführerin die Kammervorsitzende mit folgender Begründung wegen Besorgnis der Befangenheit ab:
„(…)
Der Zeuge (…) hat sich auf ‚nicht näher darzulegende Umstände‘ im Rahmen seiner Zeugenaussage berufen. Als der Prozessbevollmächtigte der Klägerin insoweit nachfragte, erklärte die abgelehnte Richterin, es könnten insoweit datenschutzrechtliche Gründe maßgebend sein. Obwohl der Prozessbevollmächtigte der Klägerin den Zeugen insoweit nochmals befragte, hielt die abgelehnte Richterin nicht zur vollständigen Aussage an. Die abgelehnte Richterin meinte sogar, der Zeuge sollte weiter befragt werden.
(…)
Die Klägerin behält sich weiteren Sachvortrag nach Vorlage des Sitzungsprotokolls vor und auch dann, wenn die dienstliche Äußerung vorliegt.“
Daraufhin wurde die mündliche Verhandlung unterbrochen. Nach Wiedereintritt in die mündliche Verhandlung verkündete die Kammer den folgenden in unveränderter Besetzung getroffenen und mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Beschluss:
„Der von dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin gestellte Beweisantrag wird als unzulässig zurückgewiesen.
Er geht zum einen von Tatsachen aus, die so nicht stattgefunden haben. Der Zeuge (…) hat sich nicht verweigert Umstände offenzulegen, sondern Einzelfälle darzulegen. Im Übrigen ist offensichtlich ein Hinweis darauf, dass die einzelfallbezogene Darlegung anderer Fälle als des vorliegenden Falles datenschutzrechtlichen Bedenken begegnen könnte, nicht zu beanstanden. Schließlich ist es auch offensichtlich korrekt, wenn die Vorsitzende den Prozessbevollmächtigten der Klägerin bittet, konkrete Fragen zu stellen, damit der Zeuge auch konkret antworten kann, ggf. dann bezogen auf die konkrete Verwaltungspraxis zum vorliegenden Fall.
Dieser Beschluss ergeht in der Besetzung wie bisher verhandelt worden ist. Dies ist zulässig, weil der Beweisantrag als unzulässig abgewiesen wird.
(...)“
b) Daraufhin stellte die Rechtsvorgängerin der Beschwerdeführerin, vertreten durch ihren Prozessbevollmächtigten, einen weiteren Antrag, mit dem sie nunmehr sämtliche an der zuvor erwähnten Entscheidung beteiligten Richter der Kammer wegen Besorgnis der Befangenheit ablehnte. Sie begründete dies unter anderem wie folgt:
„Die Begründung des Befangenheitsgesuchs ergibt sich aus der Begründung des - soeben - abgelehnten Befangenheitsgesuchs (…). Der vorgenannte Antrag ist als solcher zulässig. Niemand kann in eigener Sache entscheiden. Jedenfalls durfte Frau (…) an dem vorgenannten Beschluss nicht mitwirken. Rechtliches Gehör wurde trotz Vorbehalts nicht gewährt.
(…)“
Nach erneuter Unterbrechung der mündlichen Verhandlung verkündete die Kammer daraufhin den weiteren in unveränderter Besetzung getroffenen und mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Beschluss folgenden Inhalts:
„Der zweite Befangenheitsantrag des Prozessbevollmächtigten der Klägerin wird als unzulässig zurückgewiesen.
Der Befangenheitsantrag ist dann rechtsmissbräuchlich, wenn er ausschließlich auf einer abweichenden rechtlichen Bewertung der Klägerseite gegenüber der Bewertung der Kammer beruht. Offensichtlich unbegründete Befangenheitsanträge können von der Kammer als solcher insgesamt abgelehnt werden, d.h. auch von dem Richter, der als befangen abgelehnt worden ist. Die Einschätzung des Beweisantrags als zulässig oder unzulässig ist eine Rechtsfrage, auf die allein ein Befangenheitsantrag nicht gestützt werden kann.
(…)“
2. Aufgrund der mündlichen Verhandlung erließ die Kammer in unveränderter Besetzung das mit der Verfassungsbeschwerde angegriffene Urteil, mit dem die Klage abgewiesen wurde.
3. Den Antrag auf Zulassung der Berufung lehnte das Oberverwaltungsgericht mit angegriffenem Beschluss vom 27. September 2011 ab. Im Hinblick auf den von der Beschwerdeführerin wegen der Behandlung ihrer Ablehnungsgesuche geltend gemachten Verfahrensmangel stand es zwar auf dem Standpunkt, dass die willkürliche Ablehnung eines Befangenheitsgesuchs einen Berufungszulassungsgrund darstellen könne. Es sah die Voraussetzungen hierfür jedoch nicht als gegeben an.
II.
Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin allein eine Verletzung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG wegen der aus ihrer Sicht zu Unrecht in unveränderter Kammerbesetzung erfolgten Zurückweisung der...
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