Beschluss vom 12. Februar 2008 - 2 BvR 2141/06
| ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2008:rk20080212.2bvr214106 |
| Citation | BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 12. Februar 2008 - 2 BvR 2141/06 - Rn. (1-34), |
| Judgement Number | 2 BvR 2141/06 |
| Date | 12 February 2008 |
| Court | Constitutional Court (Germany) |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 2141/06 -
über
die Verfassungsbeschwerde
des türkischen Staatsangehörigen S ...
Neusser Straße 2, 50670 Köln -
| gegen a) | den Beschluss des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 6. September 2006 - 15 A 3365/06.A -, |
| b) | das Urteil des Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom 18. Juli 2006 - 26 K 1744/06.A -, |
| c) | den Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 27. Oktober 2004 - 5013659-163 - |
hat die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Richter Broß,
die Richterin Lübbe-Wolff
und den Richter Gerhardt
gemäß § 93c in Verbindung mit § 93a Absatz 2 Buchstabe b BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 12. Februar 2008 einstimmig beschlossen:
Das Urteil des Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom 18. Juli 2006 - 26 K 1744/06.A - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 16a Absatz 1 des Grundgesetzes. Das Urteil wird aufgehoben. Die Sache wird an das Verwaltungsgericht Düsseldorf zurückverwiesen.
Damit wird der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen vom 6. September 2006 - 15 A 3365/06.A - gegenstandslos.
Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.
Das Land Nordrhein-Westfalen hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen - auch für das Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung - zu erstatten.
I.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Feststellung und Beurteilung des Charakters staatlicher Strafverfolgungsmaßnahmen als politische Verfolgung.
1. Der Beschwerdeführer ist ein 33 Jahre alter türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit. Er gibt an, im März 2003 von Istanbul nach Düsseldorf geflogen zu sein. Er stellte einen Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter.
2. Aus einer vom Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (nunmehr Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, im Folgenden: Bundesamt) beim Auswärtigen Amt eingeholten amtlichen Auskunft ergibt sich folgendes: Der Beschwerdeführer wurde im Februar 2000 zunächst in Polizeigewahrsam und dann in Untersuchungshaft genommen, da er der Mitgliedschaft in der Hizbullah verdächtigt wurde. Am 11. September 2001 wurde er durch das 1. Staatssicherheitsgericht Diyarbakir wegen Unterstützung der Hizbullah zu einer Freiheitsstrafe von 20 Monaten verurteilt. Die Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt, der Beschwerdeführer wurde aus der Haft entlassen. Auf das Rechtsmittel der Oberstaatsanwaltschaft hob die 9. Strafkammer des Kassationsgerichts das Urteil auf und verwies das Verfahren zurück. Im Juni 2002 erließ das 1. Staatssicherheitsgericht Diyarbakir zunächst Haftbefehl gegen den Beschwerdeführer und verurteilte ihn am 18. März 2003 in Abwesenheit zu einer Haftstrafe von zwölf Jahren und sechs Monaten wegen Mitgliedschaft in der Hizbullah. Die Revision hiergegen wurde zurückgewiesen. Es wird zur Vollstreckung der Haftstrafe nach dem Beschwerdeführer gefahndet.
Der Beschwerdeführer gab darüber hinaus an, dass er in den ersten Tagen des Polizeigewahrsams massiv gefoltert worden sei. Seine Hoden seien wiederholt gequetscht worden. Er habe Stromstöße an seinen Zehen und seinem Geschlechtsorgan erdulden müssen. Dies habe zum Verlust der Zeugungsfähigkeit geführt. Die Vorwürfe, dass er Mitglied der Hizbullah gewesen sei, stimmten nicht. Ein von ihm bei Beendigung des Polizeigewahrsams unterzeichnetes Geständnis entspreche nicht der Wahrheit. Er habe es in dem Glauben, den Erhalt persönlicher Gegenstände zu quittieren, unterschrieben.
3. Mit Bescheid des Bundesamtes vom 27. Oktober 2004 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf Anerkennung als Asylberechtigter abgelehnt. Es wurde ferner festgestellt, dass weder die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG noch Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG vorliegen: Der Beschwerdeführer bestreite zwar die Zugehörigkeit zur Hizbullah, jedoch sei es nicht Aufgabe des Bundesamtes, Strafurteile auf ihre Rechtmäßigkeit hin zu überprüfen. Damit gebe es einen hinreichenden Tatverdacht im Sinne von § 51 Abs. 3 Satz 2 AuslG, so dass eine Asylanerkennung ebenso wie die Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG ausscheide. Das türkische Strafverfahren weise ein Mindestmaß an rechtsstaatlicher Verfahrensweise auf, so dass es Grundlage für die Anwendung der genannten Vorschrift sein könne. Das Verfahren habe allein die Ahndung kriminellen Unrechts zum Gegenstand und könne deshalb nicht als politische Verfolgung eingestuft werden. Der Vortrag zur menschenrechtswidrigen Behandlung durch Folter sei nicht relevant, da der notwendige kausale Zusammenhang zwischen dem angeblichen Verfolgungsereignis im Februar 2000 und der Ausreise im März 2003 fehle; die Ausreise sei seit der Freilassung im September 2001 möglich gewesen.
4. Das Verwaltungsgericht wies die gegen diesen Bescheid erhobene Klage mit Urteil vom 18. Juli 2006 ab: Entgegen der Ansicht des Bundesamtes sei der Schutzanspruch des Beschwerdeführers allerdings nicht gemäß § 60 Abs. 8 Satz 2 AufenthG (entspricht § 51 Abs. 3 Satz 2 AuslG) ausgeschlossen, da eine von ihm ausgehende Gefahr nicht festgestellt werden könne. Dahinstehen könne, ob die Asylgewährung wegen Einreise auf dem Landweg ausscheide. Der Beschwerdeführer habe jedenfalls sein Heimatland nicht als politisch Verfolgter verlassen. Ihm drohe auch für den Fall seiner Rückkehr keine politische Verfolgung.
Die erlittene Folter in Polizeihaft sei nicht ausreiseauslösend gewesen. Der Beschwerdeführer sei unmittelbar nach seiner Entlassung aus der Untersuchungshaft in seiner Heimatregion verblieben. Daraus sei zu schließen, dass er seine Lage auf Grund des Erlebten nicht als ausweglos eingeschätzt habe. Er habe die Türkei vielmehr auf Grund der bevorstehenden Verurteilung verlassen. Sein Motiv, sich der Verbüßung einer langjährigen Haftstrafe zu entziehen, stehe in keinem ursächlichen Zusammenhang mit dem Erleben menschenrechtswidriger Behandlung in einem abgeschlossenen Verfahrensstadium, dessen Wiederholung nicht zu befürchten gewesen sei.
Die Strafverfolgung und die anstehende Strafhaft selbst stellten sich nicht als politische Verfolgung, sondern als Ahndung kriminellen Unrechts dar. Es gebe keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass die Verurteilung des Beschwerdeführers offen oder verdeckt gegen eine ihm eigene politische Überzeugung gerichtet gewesen sei. Er selbst habe angegeben, in der Türkei nicht politisch aktiv gewesen zu sein oder mit einer Organisation sympathisiert zu haben. Daher sei nicht ersichtlich, dass er als missliebige...
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Beschluss vom 04. Dezember 2012 - 2 BvR 2954/09
...erleidet (so genannter Politmalus; vgl. BVerfGE 80, 315 ; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 12. Februar 2008 - 2 BvR 2141/06 -, NVwZ-RR 2008, S. 643 ). Solange sich ein solcher „Politmalus“ nicht von vornherein ausschließen lässt, haben die Fachgerichte den diesbezüglic......
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Urteil, Gerichtsentscheidungen Bayern, VG Augsburg, 20-06-2023
...grundsätzlich einen nahen zeitlichen (Kausal-)Zusammenhang zwischen der Verfolgung und der Ausreise voraus (vgl. BVerfG, B.v. 12.2.2008 – 2 BvR 2141/06 – juris Rn. 20; VG Köln, U.v. 26.2.2014 – 23 K 5187/11.A – juris Rn. In Anwendung dieser rechtlichen Vorgaben ist den Klägern die Flüchtlin......
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Beschluss vom 29. April 2009 - 2 BvR 78/08
...Behandlung erleidet (sog. Politmalus; vgl. BVerfGE 80, 315 ; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 12. Februar 2008 - 2 BvR 2141/06 -, NVwZ-RR 2008, S. 643 ). Das Verwaltungsgericht nimmt weiter zu Recht an, dass eine besondere Intensität der Verfolgungsmaßnahmen Indiz für ......
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Urteil, Gerichtsentscheidungen Bayern, VG Augsburg, 08-04-2021
...einen nahen zeitlichen (kausal-) Zusammenhang zwischen der Verfolgung und der Ausreise voraus (vgl. BVerfG, B.v. 12.2.2008 - 2 BvR 2141/06 - juris Rn. 20; VG Köln, U.v. 26.2.2014 - 23 K 5187/11.A - juris Rn. Gemessen an diesen Maßstäben konnte die Klägerin eine individuelle Verfolgung nicht......
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Beschluss vom 04. Dezember 2012 - 2 BvR 2954/09
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