Beschluss vom 13. Oktober 2022 - 1 BvR 1019/22
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2022:rk20221013.1bvr101922 |
Date | 13 Octubre 2022 |
Judgement Number | 1 BvR 1019/22 |
Citation | BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 13. Oktober 2022 - 1 BvR 1019/22 -, Rn. 1-39, |
Court | Constitutional Court (Germany) |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 1019/22 -
über
die Verfassungsbeschwerde
der Frau (…), |
- Bevollmächtigte:
-
(…) -
gegen |
a) |
den Beschluss des Oberlandesgerichts Stuttgart |
vom 17. März 2022 - 16 UF 113/21 -, |
||
b) |
den Beschluss des Oberlandesgerichts Stuttgart |
|
vom 15. Februar 2022 - 16 UF 113/21 - |
und | Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwalts |
hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Richterin Britz
und die Richter Christ,
Radtke
am 13. Oktober 2022 einstimmig beschlossen:
- Der Beschluss des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 15. Februar 2022 - 16 UF 113/21 - verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Recht aus Artikel 103 Absatz 1 des Grundgesetzes.
- Der Beschluss wird aufgehoben und die Sache an das Oberlandesgericht zurückverwiesen.
- Damit wird der Beschluss des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 17. März 2022 - 16 UF 113/21 - gegenstandslos.
- Das Land Baden-Württemberg hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen im Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten. Damit erledigt sich der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung ihrer Bevollmächtigten für das Verfassungsbeschwerdeverfahren.
- Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit für das Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 10.000 Euro (in Worten: zehntausend Euro) festgesetzt.
I.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft eine Kostenentscheidung zu Lasten der Mutter des Kindes in einem Kindesunterhaltsverfahren, in dem sie als Vertreterin für dieses handelte.
1. Die Beschwerdeführerin ist die Mutter eines 2016 geborenen Sohnes. Sie war nicht mit dem Vater verheiratet. Das Sorgerecht üben die Eltern gemeinsam aus. Die Umgangskontakte des Sohnes mit den Eltern sind durch Entscheidung des Oberlandesgerichts aus dem Jahr 2019 dergestalt geregelt, dass der Vater Umgang mit seinem Sohn von Sonntagmorgen, 9 Uhr, bis Mittwochmorgen, 8 Uhr hat, dementsprechend die Beschwerdeführerin in der übrigen Zeit. In seiner Umgangsentscheidung bezeichnete das Oberlandesgericht dies als paritätisches Wechselmodell.
2. Im Ausgangsverfahren machte der Sohn, nach seinem Vorbringen gesetzlich durch die Beschwerdeführerin vertreten, gegen den Vater näher bezifferten Mindestunterhalt sowie Unterhaltsrückstände geltend. Die Voraussetzungen für eine gesetzliche Vertretung durch die Mutter lägen vor, weil ihr Betreuungsumfang mit 55,36 % höher sei als der des Vaters und damit bei ihr die Hauptverantwortung liege, weshalb der Vater allein barunterhaltspflichtig sei. Dem trat der Vater unter Hinweis auf die Entscheidung des Oberlandesgerichts zum Umgangsrecht mit der Einordnung der geregelten Betreuung als paritätisches Wechselmodell entgegen. § 1629 Abs. 2 Satz 2 BGB gelte daher nicht, so dass die Beschwerdeführerin den Sohn im Unterhaltsverfahren nicht vertreten könne.
a) Das Familiengericht hatte den Vater in geringerem Umfang als beantragt zur Zahlung eines monatlichen Kindesunterhalts sowie rückständigen Unterhalts verurteilt und die Anträge im Übrigen zurückgewiesen. Sie seien zulässig. Die Vertretungsbefugnis der Beschwerdeführerin folge aus § 1629 Abs. 2 Satz 2 BGB. Der Sohn befinde sich in ihrer Obhut im Sinne der genannten Vorschrift. Dafür reiche aus, dass der Anteil eines Elternteils an der Betreuung und Versorgung des Kindes den Anteil des anderen Elternteils nur geringfügig übersteige, was vorliegend der Fall sei. Ohne Berücksichtigung der Fremdbetreuung durch den Kindergarten entspreche die Betreuungsquote des Vaters 45 % und der Beschwerdeführerin 55 %. Folglich übersteige ihre Betreuungsquote die des Vaters. Bei der Beantwortung der Frage, ob ein echtes Wechselmodell vorliege, komme es auf die tatsächlichen Verhältnisse an. Angesichts der tatsächlichen Betreuungszeiten könne ungeachtet der Ausführungen des Oberlandesgerichts in dessen Beschluss zum Umgangsrecht nicht von einem echten Wechselmodell ausgegangen werden.
b) Gegen diese Entscheidung legte der Vater Beschwerde ein und machte unter anderem erneut geltend, die Beschwerdeführerin könne den Sohn nicht wirksam vertreten. Zugleich stellte er einen Antrag auf einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung aus dem angefochtenen Beschluss des Familiengerichts.
aa) Mit Beschluss vom 12. November 2021 stellte das Oberlandesgericht die Zwangsvollstreckung einstweilen ein. Der Antrag auf Gewährung von Unterhalt sei unzulässig, weil der Sohn nicht ordnungsgemäß vertreten sei. Er befinde sich nicht im Sinne von § 1629 Abs. 2 Satz 2 BGB in der Obhut der Beschwerdeführerin, weil zwischen den Eltern ein paritätisches Wechselmodell praktiziert werde. Abgesehen davon, dass dies im Beschluss des Oberlandesgerichts zum Umgangsrecht angeordnet worden sei und sich der Sohn nach wie vor in den im Beschluss genannten Zeiten beim Vater aufhalte, komme es vorliegend nicht entscheidend auf die Quantität, sondern auf die Qualität der elterlichen Betreuungsleistungen an, weil mit Rücksicht auf das damalige Alter des Sohnes von einem wöchentlichen Wechsel abgesehen worden sei und die Anzahl der Wochentage naturgemäß eine exakte Halbteilung nicht zulasse. Auch die Beschwerdeführerin sei ausweislich eines außergerichtlichen Schreibens vom Juni 2020, mit dem sie nur anteiligen Mindestunterhalt für den Sohn geltend gemacht habe, von einem paritätischen Wechselmodell ausgegangen.
bb) Nachfolgend wies das Oberlandesgericht durch Verfügung der Berichterstatterin vom 2. Dezember 2021 darauf hin, dass – wenn der Antrag nicht zurückgenommen werde – beabsichtigt sei, im schriftlichen Verfahren zu entscheiden. Zur Entscheidung über die Kosten verhielt sich die Verfügung nicht.
cc) Das Oberlandesgericht wies mit angegriffenem Beschluss vom 15. Februar 2022 unter Abänderung der familiengerichtlichen Entscheidung die Anträge des Sohns als unzulässig ab. Die Verfahrenskosten beider Instanzen legte es der Beschwerdeführerin auf. Die Anträge seien unzulässig, weil die Beschwerdeführerin den Sohn nicht nach § 1629 Abs. 2 Satz 2 BGB allein habe vertreten können. Zwischen den Eltern werde ein paritätisches Wechselmodell praktiziert, weshalb sich der Sohn nicht, wie von § 1629 Abs. 2 Satz 2 BGB verlangt, in der Obhut der Beschwerdeführerin befinde. Im Übrigen wiederholte das Oberlandesgericht seine Ausführungen aus dem Beschluss vom 12. November 2021.
Zu der Kostenentscheidung führte es aus, dass diese auf § 243 Satz 2 Nr. 1 FamFG beruhe. Bei einer wie hier fehlenden wirksamen Vertretung seien die Verfahrenskosten demjenigen aufzuerlegen, der den nutzlosen Verfahrensaufwand veranlasst habe. Insoweit bezog sich das Oberlandesgericht auf einen Beschluss des Bundesgerichtshofs (BGH, Beschluss vom 23. Februar 2017 - III ZB 60/16 -, Rn. 10). Veranlasserin in diesem Sinne sei vorliegend die Beschwerdeführerin, welcher der Mangel der Vertretungsbefugnis aufgrund des Beschlusses des Oberlandesgerichts zum Umgangsrecht bekannt gewesen sei.
c) aa) Gegen die Kostenentscheidung des Oberlandesgerichts erhob die Beschwerdeführerin eine Anhörungsrüge. Insoweit handele es sich um eine Überraschungsentscheidung. Das Gericht habe weder die Beteiligten des Ausgangsverfahrens noch die nicht beteiligte Beschwerdeführerin zuvor darauf hingewiesen, dass eine derartige Kostenentscheidung beabsichtigt sei. Ein vorheriger Hinweis sei geboten gewesen, weil auch in der Beschwerdeschrift kein Kostenantrag gestellt worden sei und das Gericht nicht auf Gesichtspunkte habe abstellen dürfen, mit denen eine Prozesspartei nicht habe rechnen müssen. Der Verweis des Oberlandesgerichts auf die Entscheidung des Bundesgerichtshofs sei im Hinblick auf die nicht ansatzweise vergleichbare Fallgestaltung abseitig. An einem Verschulden der Beschwerdeführerin fehle es bereits wegen der stattgebenden Entscheidung...
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