Beschluss vom 14. Mai 1996 - 2 BvR 1507/93
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:1996:rs19960514.2bvr150793 |
Citation | BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 14. Mai 1996 - 2 BvR 1507/93 - Rn. (1-149), |
Date | 14 Mayo 1996 |
Judgement Number | 2 BvR 1507/93 |
Court | Constitutional Court (Germany) |
L e i t s ä t z e
zum Urteil des Zweiten Senats vom 14. Mai 1996
- 2 BvR 1507/93 -
- 2 BvR 1508/93 -
- a) Art. 16a Abs. 3 in Verbindung mit Abs. 4 GG enthält keine Beschränkung des persönlichen Geltungsbereichs des Grundrechts aus Art. 16a Abs. 1 GG und seines Schutzziels, wohl aber eine Beschränkung seines verfahrensbezogenen Gewährleistungsinhalts
- b) Art. 16a Abs. 3 GG sieht eine "Arbeitsteilung" zwischen dem Gesetzgeber einerseits und den Behörden und Gerichten andererseits vor. Danach verbleibt den Behörden und den Gerichten die Prüfung, ob der einzelne Asylbewerber Tatsachen vorgetragen hat, welche entgegen der Vermutung, die an seine Herkunft aus einem sicheren Staat anknüpft, die Annahme begründen, er werde dort gleichwohl politisch verfolgt.
- a) Für die Bestimmung eines Staates zum sicheren Herkunftsstaat muß Sicherheit vor politischer Verfolgung landesweit und für alle Personen- und Bevölkerungsgruppen bestehen
- b) Die in Art. 16a Abs. 3 Satz 1 GG geforderte Gewährleistung der Sicherheit auch vor unmenschlicher oder erniedrigender Bestrafung oder Behandlung stellt in Anknüpfung an Art. 3 EMRK sicher, daß ein solches staatliches Handeln in die Prüfung einbezogen und so den fließenden Übergängen zu asylrechtlich erheblichen Verfolgungsmaßnahmen Rechnung getragen wird.
- Für die Bestimmung eines Staates zum sicheren Herkunftsstaat hat sich der Gesetzgeber anhand von Rechtslage, Rechtsanwendung und allgemeinen politischen Verhältnissen aus einer Vielzahl von einzelnen Faktoren ein Gesamturteil über die für politische Verfolgung bedeutsamen Verhältnisse in dem jeweiligen Staat zu bilden
- a) Das Gesetz, mit dem ein Staat zum sicheren Herkunftsstaat bestimmt wird, ist ein grundrechtsausfüllendes Gesetz. Es erfordert die Beurteilung der Verhältnisse in einem anderen Staat und - dem vorausgehend - die Erhebung der für die gesetzgeberische Feststellung notwendigen tatsächlichen Grundlagen.
- b) Bei der Erhebung und Aufbereitung der zugrunde zu legenden Tatsachen kommt dem Gesetzgeber, insbesondere hinsichtlich der dafür zu beschreitenden Wege, ein Entscheidungsspielraum zu.
- c) Beurteilt der Gesetzgeber, ob nach den ermittelten tatsächlichen Verhältnissen in einem Staat gewährleistet erscheint, daß dort weder politische Verfolgung noch unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung oder Behandlung stattfindet, und trifft er eine Prognose über die weitere Entwicklung in dem Staat innerhalb eines überschaubaren Zeitraums, so hat er einen Einschätzungs- und Wertungsspielraum.
- d) Die verfassungsgerichtliche Prüfung erstreckt sich auf die Vertretbarkeit der vom Gesetzgeber getroffenen Entscheidung; die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes nach Art. 16a Abs. 3 GG kann nur festgestellt werden, wenn eine Gesamtwürdi- gung ergibt, daß der Gesetzgeber sich bei seiner Entscheidung nicht von guten Gründen hat leiten lassen.
- Inhalt der in Art. 16a Abs. 3 Satz 2 GG aufgestellten Vermutung ist nicht, daß einem Ausländer aus einem sicheren Herkunftsstaat dort keine unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung oder Behandlung droht.
- Zur Ausräumung der Vermutung ist nur ein Vorbringen zugelassen, das die Furcht vor politischer Verfolgung auf ein individuelles Verfolgungsschicksal des Antragstellers gründet.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 1507/93 -
- 2 BvR 1508/93 -
1. |
der ghanaischen Staatsangehörigen B ..., |
gegen |
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a) |
den Beschluß des Verwaltungsgerichts Frankfurt am Main vom 19. Juli 1993 - 11 G 20051/93.A (1) -, |
|
b) |
mittelbar gegen § 29a Abs. 2 in Verbindung mit Anlage II (betreffend Ghana) des Asylverfahrensgesetzes - (AsylVfG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 27. Juli 1993 (Bundesgesetzblatt I Seite 1361) |
- 2 BvR 1507/93 -,
2. |
des ghanaischen Staatsangehörigen N. , |
gegen
a) |
den Beschluß des Verwaltungsgerichts Frankfurt am Main vom 20. Juli 1993 - 11 G 20045/93.A -, |
|
b) |
mittelbar gegen § 29a Abs. 2 in Verbindung mit Anlage II (betreffend Ghana) des Asylverfahrensgesetzes - (AsylVfG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 27. Juli 1993 (Bundesgesetzblatt I Seite 1361) |
- 2 BvR 1508/93 -
Bevollmächtigter zu 1. und 2.:
Rechtsanwalt Karl H. Bisping, Parcusstraße 8, Mainz
Beteiligt: Die Bundesregierung, vertreten durch das Bundesministerium des Innern, |
Bevollmächtigter: Prof. Dr. Kay Hailbronner
hat das Bundesverfassungsgericht - Zweiter Senat - unter Mitwirkung der Richterinnen und Richter
Präsidentin Limbach,
Böckenförde,
Klein,
Graßhof,
Kruis,
Kirchhof,
Winter,
Sommer
aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 21., 22. und 23. November und 5. Dezember 1995 durch
für Recht erkannt:
- Die zu gemeinsamer Entscheidung verbundenen Verfassungsbeschwerden werden zurückgewiesen.
- § 29a Absatz 1 des Asylverfahrensgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 27. Juli 1993 (Bundesgesetzbl. I Seite 1361) sowie die Aufnahme von Ghana in Anlage II (zu § 29a) sind mit dem Grundgesetz vereinbar.
- Das Land Hessen hat den Beschwerdeführern die notwendigen Auslagen für die Verfahren betreffend den Erlaß einstweiliger Anordnungen zu erstatten.
A.
Die Verfassungsbeschwerden betreffen die in Art. 16a Abs. 3 GG und § 29a Abs. 1 des Asylverfahrensgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 27. Juli 1993 (BGBl I S. 1361) - AsylVfG - enthaltenen Regelungen über Asylgewährung und Asylverfahren bei Asylbewerbern aus sicheren Herkunftsstaaten sowie die gesetzliche Bestimmung Ghanas zu einem solchen sicheren Herkunftsstaat.
I.
1. Der durch das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 28. Juni 1993 (BGBl I S. 1002) an Stelle von Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG a.F. in das Grundgesetz eingefügte Art. 16a GG wie auch das Gesetz zur Änderung asylverfahrens-, ausländer- und staatsangehörigkeitsrechtlicher Vorschriften vom 30. Juni 1993 (BGBl I S. 1062) gehen zurück auf den sogenannten Asylkompromiß zwischen CDU/CSU, SPD und F.D.P. vom 6. Dezember 1992 (vgl. Blätter für deutsche und internationale Politik, 1993, S. 114 ff.). Ziel des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. am 19. Januar 1993 eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (BTDrucks 12/4152) sollte es sein, "den wirklich politisch Verfolgten weiterhin Schutz und Zuflucht zu gewähren, aber eine unberechtigte Berufung auf das Asylrecht zu verhindern und diejenigen Ausländer von einem langwierigen Asylverfahren auszuschließen, die des Schutzes deswegen nicht bedürfen, weil sie offensichtlich nicht oder nicht mehr aktuell politisch verfolgt sind. Außerdem ist das Asylverfahren einschließlich des gerichtlichen Verfahrens weiter zu beschleunigen" (vgl. BTDrucks 12/4152, S. 3).
In der Begründung des Gesetzentwurfs heißt es weiter (a.a.O. S. 3 f.):
"Mit Rücksicht auf den Regelungsumfang wird ein eigener Asyl-Artikel geschaffen, der an die Stelle des bisherigen Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG tritt.
...
Absatz 1 übernimmt unverändert den Wortlaut des bisherigen Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG: Die Verbürgung des Schutzes vor politischer Verfolgung (Asyl) behält den Charakter eines Individualgrundrechts. Im Unterschied zum bisherigen Recht begrenzt die Verfassung indessen in Anknüpfung an die Schutzbedürftigkeit des jeweils Asylbegehrenden in den folgenden Absätzen den Schutzumfang und schreibt wichtige Teilbereiche des Verfahrens vor, das zur Gewährung oder Ablehnung von Asyl in der Bundesrepublik Deutschland führt.
...
Absatz 3 eröffnet dem Gesetzgeber die Möglichkeit, verfolgungsfreie Herkunftsländer zu bestimmen. Das Grundgesetz gibt die wichtigsten Kriterien vor, aus denen die Verfolgungsfreiheit geschlossen wird. Daneben sind noch andere Kriterien heranziehbar, zu denen z.B. die Quote der Anerkennung im Verwaltungsverfahren in einem überschaubaren Zeitraum gehört. Freiheit von politischer Verfolgung muß grundsätzlich landesweit bestehen.
Die gesetzliche Qualifizierung als sicherer Herkunftsstaat begründet eine widerlegbare Vermutung; der Ausländer kann geltend machen, entgegen der aus der gesetzlichen Bestimmung folgenden Regelvermutung ausnahmsweise politisch verfolgt zu sein. Eine dahin gehende Prüfung findet nur statt, wenn der Ausländer erhebliche Tatsachen substantiiert vorträgt.
Absatz 4 normiert für bestimmte Fälle qualifizierte Anforderungen an die Aussetzung der Vollziehung und ermächtigt den Gesetzgeber, sowohl den Prüfungsumfang als auch die Berücksichtigung verspäteten Vorbringens des Ausländers im gerichtlichen Verfahren einzuschränken. Nur wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der aufenthaltsbeendenden Maßnahme bestehen, wird im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes die Vollziehung ausgesetzt.
Dies gilt für die Fälle des Absatzes 3, d.h. für Asylbewerber aus einem sicheren Herkunftsland, für die die gesetzliche...
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