BVerfGE 7,198 ff.
- Die Grundrechte sind in erster Linie Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat; in den Grundrechtsbestimmungen des Grundgesetzes verkörpert sich aber auch eine objektive Wertordnung, die als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gilt
- Im bürgerlichen Recht entfaltet sich der Rechtsgehalt der Grundrechte mittelbar durch die privatrechtlichen Vorschriften. Er ergreift vor allem Bestimmungen zwingenden Charakters und ist für den Richter besonders realisierbar durch die Generalklauseln
- Der Zivilrichter kann durch sein Urteil Grundrechte verletzen (§ 90 BVerfGG), wenn er die Einwirkung der Grundrechte auf das bürgerliche Recht verkennt. Das Bundesverfassungsgericht prüft zivilgerichtliche Urteile nur auf solche Verletzungen von Grundrechten, nicht allgemein auf Rechtsfehler nach
- Auch zivilrechtliche Vorschriften können "allgemeine Gesetze" im Sinne des Art. 5 Abs. 2 GG sein und so das Grundrecht auf Freiheit der Meinungsäußerung beschränken
- Die "allgemeinen Gesetze" müssen im Lichte der besonderen Bedeutung des Grundrechts der freien Meinungsäußerung für den freiheitlichen demokratischen Staat ausgelegt werden
- Das Grundrecht des Art. 5 GG schützt nicht nur das Äußern einer Meinung als solches, sondern auch das geistige Wirken durch die Meinungsäußerung
- Eine Meinungsäußerung, die eine Aufforderung zum Boykott enthält, verstößt nicht notwendig gegen die guten Sitten im Sinne des § 826 BGB; sie kann bei Abwägung aller Umstände des Falles durch die Freiheit der Meinungsäußerung verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein.
- 1 BvR 400/51 - in dem Verfahren über
die Verfassungsbeschwerde
des Senatsdirektors Erich L. in Hamburg
gegen | das Urteil des Landgerichts Hamburg vom 22. November 1951 - Az. 15. O. 87/51 -. |
Das Urteil des Landgerichts Hamburg vom 22. November 1951 - Az. 15. O. 87/51 - verletzt das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 des Grundgesetzes und wird deshalb aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht Hamburg zurückverwiesen.
A.
Der Beschwerdeführer - damals Senatsdirektor undLeiter der Staatlichen Pressestelle der Freien und Hansestadt Hamburg - hat am 20. September 1950 anläßlich der Eröffnung der "Woche des deutschen Films" als Vorsitzender des Hamburger Presseklubs in einer Ansprache vor Filmverleihern und Filmproduzenten u. a. folgendes erklärt:
"Nachdem der deutsche Film im Dritten Reich seinen moralischen Ruf verwirkt hatte, ist allerdings ein Mann am wenigsten von allen geeignet, diesen Ruf wiederherzustellen: das ist der Drehbuchverfasser und Regisseur des Films 'Jud Süß'! Möge uns weiterer unabsehbarer Schaden vor der ganzen Welt erspart bleiben, der eintreten würde, indem man ausgerechnet ihn als Repräsentanten des deutschen Films herauszustellen sucht. Sein Freispruch in Hamburg war nur ein formeller. Die Urteilsbegründung war eine moralische Verdammung. Hier fordern wir von den Verleihern und Theaterbesitzern eine Haltung, die nicht ganz billig ist, die man sich aber etwas kosten lassen sollte: Charakter. Und diesen Charakter wünsche ich dem deutschen Film. Beweist er ihn und führt er den Nachweis durch Phantasie, optische Kühnheit und durch Sicherheit im Handwerk, dann verdient er jede Hilfe und dann wird er eines erreichen, was er zum Leben braucht: Erfolg beim deutschen wie beim internationalen Publikum."
Die Firma Domnick-Film-Produktion GmbH, die zu dieser Zeit den Film "Unsterbliche Geliebte" nach dem Drehbuch und unter der Regie des Filmregisseurs Veit Harlan herstellte, forderte daraufhin den Beschwerdeführer zu einer Äußerung darüber auf, mit welcher Berechtigung er die vorerwähnten Erklärungen gegen Harlan abgegeben habe. Der Beschwerdeführer erwiderte mit Schreiben vom 27. Oktober 1950, das er als "Offenen Brief" der Presse übergab, u. a. folgendes:
Das Schwurgericht hat ebensowenig widerlegt, daß Veit Harlan für einen großen Zeitabschnitt des Hitler-Reiches der 'Nazifilm-Regisseur Nr. 1' und durch seinen 'Jud Süß'-Film einer der wichtigsten Exponenten der mörderischen Judenhetze der Nazis war ... Es mag im In- und Ausland Geschäftsleute geben, die sich an einer Wiederkehr Harlans nicht stoßen. Das moralische Ansehen Deutschlands in der Welt darf aber nicht von robusten Geldverdienern erneut ruiniert werden. Denn Harlans Wiederauftreten muß kaum vernarbte Wunden wiederaufreißen und abklingendes Mißtrauen zum Schaden des deutschen Wiederaufbaus furchtbar erneuern. Es ist aus allen diesen Gründen nicht nur das Recht anständiger Deutscher, sondern sogar ihre Pflicht, sich im Kampf gegen diesen unwürdigen Repräsentanten des deutschen Films über den Protest hinaus auch zum Boykott bereitzuhalten."
Die Domnick-Film-Produktion GmbH und die Herzog-Film GmbH (diese als Verleiherin des Films "Unsterbliche Geliebte" für das Bundesgebiet) erwirkten nun beim Landgericht Hamburg eine einstweilige Verfügung gegen den Beschwerdeführer, durch die ihm verboten wurde,
1. die deutschen Theaterbesitzer und Filmverleiher aufzufordern, den Film "Unsterbliche Geliebte" nicht in ihr Programm aufzunehmen,
2. das deutsche Publikum aufzufordern, diesen Film nicht zu besuchen.
Das Oberlandesgericht Hamburg wies die Berufung des Beschwerdeführers gegen das landgerichtliche Urteil zurück.
Auf Antrag des Beschwerdeführers wurde den beiden Filmgesellschaften eine Frist zur Klageerhebung gesetzt. Auf ihre Klage erließ das Landgericht Hamburg am 22. November 1951 folgendes Urteil:
"Der Beklagte wird verurteilt, es bei Vermeidung einer gerichtsseitig festzusetzenden Geld- oder Haftstrafe zu unterlassen,
1. die deutschen Theaterbesitzer und Filmverleiher aufzufordern, den bei der Klägerin zu 1) produzierten und von der Klägerin zu 2) zum Verleih im Bundesgebiet übernommenen Film 'Unsterbliche Geliebte' nicht in ihr Programm aufzunehmen,
2. das deutsche Publikum aufzufordern, diesen Film nicht zu besuchen.
Der Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.
Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung von 110 000 DM vorläufig vollstreckbar."
Das Landgericht erblickt in den Äußerungen des Beschwerdeführers eine sittenwidrige Aufforderung zum Boykott. Ihr Ziel sei, ein Wiederauftreten Harlans "als Schöpfer repräsentativer Filme" zu verhindern. Die Aufforderung des Beschwerdeführers laufe sogar "praktisch darauf hinaus, Harlan von der Herstellung normaler Spielfilme überhaupt auszuschalten, denn jeder derartige Film könnte durch die Regieleistung zu einem repräsentativen Film werden". Da Harlan aber in dem wegen seiner Beteiligung an dem Film "Jud Süß" gegen ihn eingeleiteten Strafverfahren rechtskräftig freigesprochen worden sei und auf Grund der Entscheidung im Entnazifizierungsverfahren in der Ausübung seines Berufes keinen Beschränkungen mehr unterliege, verstoße dieses Vorgehen des Beschwerdeführers gegen "die demokratische Rechts- und Sittenauffassung des deutschen Volkes". Dem Beschwerdeführer werde nicht zum Vorwurf gemacht, daß er über das Wiederauftreten Harlans eine ablehnende Meinung geäußert habe, sondern daß er die Öffentlichkeit aufgefordert habe, durch ein bestimmtes Verhalten die Aufführung von Harlan-Filmen und damit das Wiederauftreten Harlans als Filmregisseur unmöglich zu machen. Diese Boykottaufforderung richte sich auch gegen die klagenden Filmgesellschaften; denn wenn der in der Herstellung befindliche Film keinen Absatz finden könne, drohe ihnen ein empfindlicher Vermögensschaden. Der objektive Tatbestand einer unerlaubten Handlung nach § 826 BGB sei damit erfüllt, ein Unterlassungsanspruch also gegeben.
Der Beschwerdeführer legte gegen dieses Urteil Berufung zum Oberlandesgericht Hamburg ein. Gleichzeitig hat er Verfassungsbeschwerde erhoben, in der er die Verletzung seines Grundrechts auf freie Meinungsäußerung (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG) rügt. Er habe am Verhalten Harlans und der Filmgesellschaften politische und moralische Kritik geübt. Dazu sei er berechtigt, denn Art. 5 GG verbürge nicht nur die Freiheit der Rede ohne Wirkungsabsicht, sondern gerade auch die Freiheit des Wirkens durch das Wort. Seine Äußerungen stellten Werturteile dar. Das Gericht habe irrigerweise geprüft, ob sie inhaltlich richtig seien und gebilligt werden könnten, während es nur darauf ankomme, ob sie rechtlich zulässig seien. Das aber seien sie, denn das Grundrecht der Meinungsfreiheit habe sozialen Charakter und gewähre ein subjektives öffentliches Recht darauf, durch geistiges Handeln die öffentliche Meinung mitzubestimmen und an der "Gestaltung des Volkes zum Staat" mitzuwirken. Dieses Recht finde seine Grenze ausschließlich in den "allgemeinen Gesetzen" (Art. 5 Abs. 2 GG). Soweit durch die Meinungsäußerung in das öffentliche, politische Leben hineingewirkt werden solle, könnten als "allgemeine Gesetze" nur solche angesehen werden, die öffentliches Recht enthielten, nicht aber die Normen des Bürgerlichen Gesetzbuchs über unerlaubte Handlungen. Was dagegen in der Sphäre des bürgerlichen Rechts sonst unerlaubt sei, könne durch Verfassungsrecht in der Sphäre des öffentlichen Rechts gerechtfertigt sein; die Grundrechte als subjektive Rechte mit Verfassungsrang seien für das bürgerliche Recht "Rechtfertigungsgründe mit Vorrang".
Dem Bundesminister der Justiz, dem Senat der Freien und Hansestadt Hamburg und den beiden Filmgesellschaften wurde Gelegenheit zur Äußerung gegeben. Der Senat hat mitgeteilt, daß er sich den Ausführungen der Verfassungsbeschwerde anschließe. Die Filmgesellschaften halten das Urteil des Landgerichts für zutreffend.
In der mündlichen Verhandlung waren der...