Beschluss vom 15. Januar 2020 - 2 BvR 1763/16
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2020:rk20200115.2bvr176316 |
Citation | BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 15. Januar 2020 - 2 BvR 1763/16 -, Rn. (1-66), |
Date | 15 Enero 2020 |
Judgement Number | 2 BvR 1763/16 |
Court | Constitutional Court (Germany) |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 1763/16 -
über
die Verfassungsbeschwerde
der Frau C…, |
- Bevollmächtigter:
- … -
gegen |
a) den Beschluss des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts vom 6. März 2017 - 1 Ws 509/16 (283/16), 1 Ws 90/17 (72/17) -, |
|
b) den Beschluss des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts vom 26. Januar 2017 - 1 Ws 509/16 (283/16) -, |
||
c) den Bescheid des Generalstaatsanwalts des Landes Schleswig-Holstein vom 23. November 2016 - 005 Zs 1107/14 A -, |
||
d) den Bescheid der Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Kiel vom 6. Juli 2016 - 598 Js 6159/13 - |
hat die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Richter Huber
und die Richterinnen Kessal-Wulf,
König
am 15. Januar 2020 einstimmig beschlossen:
- Der Bescheid der Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Kiel vom 6. Juli 2016 - 598 Js 6159/13 -, der Bescheid des Generalstaatsanwalts des Landes Schleswig-Holstein vom 23. November 2016 - 005 Zs 1107/14 A - sowie die Beschlüsse des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts vom 26. Januar 2017 - 1 Ws 509/16 (283/16) - und 6. März 2017 - 1 Ws 509/16 (283/16), 1 Ws 90/17 (72/17) - verletzen die Beschwerdeführerin jeweils in ihrem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 und Satz 2 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 Satz 2 des Grundgesetzes, soweit das Ermittlungsverfahren gegen die Beschuldigten Dr. K…, D… und Dr. S… eingestellt worden ist.
- Der Beschluss des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts vom 26. Januar 2017 - 1 Ws 509/16 (283/16) - wird hinsichtlich der Beschuldigten Dr. K…, D… und Dr. S… aufgehoben und die Sache insoweit an das Schleswig-Holsteinische Oberlandesgericht zurückverwiesen.
- Der Beschluss des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts vom 6. März 2017 - 1 Ws 509/16 (283/16), 1 Ws 90/17 (72/17) - wird dadurch in dem unter vorstehender Ziffer 2 genannten Umfang gegenstandslos.
- Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.
- Das Land Schleswig-Holstein hat der Beschwerdeführerin ihre notwendigen Auslagen im Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.
- Der Gegenstandswert der anwaltlichen Tätigkeit für das Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 10.000,00 Euro (in Worten: zehntausend Euro) festgesetzt.
I.
1. Die Beschwerdeführerin wendet sich gegen die Einstellung eines Ermittlungsverfahrens gegen insgesamt vier Beschuldigte, die – in verschiedenen (auch amtlichen) Funktionen – an ihrer Zwangsfixierung, -behandlung sowie vorläufigen Unterbringung nach dem schleswig-holsteinischen PsychKG beteiligt waren.
Die Beschwerdeführerin stürzte am Abend des 6. Juli 2012 vom Pferd und wurde wegen auftretender Gedächtnislücken sowie Schmerzen im Becken-, Hüft- und Nierenbereich in das Universitätsklinikum Kiel verbracht. Dort wurden ein Schädel-Hirn-Trauma sowie Prellungen des Beckens und der Nieren diagnostiziert und die Beschwerdeführerin mehrfach mittels Computertomographie (CT) auf Hirnverletzungen untersucht. Eine (weitere) CT um 3:00 Uhr ergab nach Angaben der Beschwerdeführerin, dass sich die Einblutungen, soweit sie bei der ersten CT vorhanden gewesen seien, vollständig zurückgebildet hätten.
Am Morgen des 7. Juli 2012 wollte die Beschwerdeführerin nach einer Auseinandersetzung mit dem Pflegepersonal sowie dem Stationsarzt entlassen werden. Als ihr dies verwehrt wurde, verließ sie mit ihrem Lebensgefährten das Klinikgebäude. Vor dem Gebäude trafen sie auf vom Stationspersonal herbeigerufene Polizeibeamte, die sie überredeten, zur Klärung der Angelegenheit nochmals auf die Station zurückzukehren. Dort waren am Bett der Beschwerdeführerin bereits Fixiergurte angebracht worden. Diese lehnte eine Fesselung energisch ab, wurde schließlich jedoch von Dr. K., dem Pfleger D. und den Polizeibeamten gemeinsam unter Anwendung körperlicher Gewalt auf das Bett gelegt und an den Armen, Beinen sowie im Hüftbereich fixiert.
Der Amtsarzt Dr. S., ein Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, gab in seinem Gedächtnisprotokoll an, sich am 7. Juli 2012 um 9:25 Uhr im Rahmen des amtsärztlichen Dienstes auf Ersuchen der Polizeileitstelle mit der Intensivstation der Anästhesiologie des Universitätsklinikums Kiel in Verbindung gesetzt zu haben. Der diensthabende Arzt habe ihm erklärt, dass sich die Beschwerdeführerin am Vorabend bei einem Sturz vom Pferd ein Schädel-Hirn-Trauma zugezogen habe. Bei der Magnetresonanztomographie (MRT) des Schädels sei eine Scherverletzung im Stammganglienbereich erkennbar, Nachblutungen seien grundsätzlich möglich und eine 24-stündige stationäre Beobachtung zwingend indiziert. Die Beschwerdeführerin sei verhaltensauffällig, sehr unruhig und versuche, die Station entgegen ärztlichem Rat zu verlassen. Dr. S. habe dem diensthabenden Stationsarzt geraten, sie gegebenenfalls zu fixieren, wenn es die Gesamtsituation notwendig machen sollte. Bei seinem Eintreffen im Universitätsklinikum Kiel habe er vor der Station den Lebensgefährten der Beschwerdeführerin angetroffen, der ihm erklärt habe, dass die Beschwerdeführerin eine Patientenverfügung und eine Vorsorgevollmacht ausgestellt habe, die er allerdings nicht bei sich habe. Dr. S. habe die Beschwerdeführerin in ihrem Zimmer fixiert vorgefunden. Er habe ihr wiederholt den medizinischen Sachverhalt und die Notwendigkeit einer 24-stündigen stationären Behandlung erklärt. Sie habe daraufhin jeweils nur gefragt, ob er sich nicht für ihre Würde interessiere. Dabei sei sie bewusstseinsklar, aber sehr aufgeregt, angespannt und unruhig gewesen.
Dr. S. erstellte hierauf ein ärztliches Gutachten, in dem er ein Schädel-Hirn-Trauma sowie ein Durchgangssyndrom mit Erregungszuständen diagnostizierte. In der Bildgebung sei ein Schertrauma im Stammganglienbereich erkennbar. Die Beschwerdeführerin zeige sich in Bezug auf ihre medizinische Situation und die potentielle Lebensbedrohlichkeit ihrer Verletzungen nicht einsichtig. Dr. S. ordnete daraufhin die vorläufige Unterbringung, längstens bis zum 8. Juli 2012, 24:00 Uhr, auf der Intensivstation der Anästhesiologie des Universitätsklinikums Kiel an und beantragte zugleich beim Amtsgericht Kiel den Erlass eines Beschlusses über die weitere Unterbringung in einer geeigneten Krankenanstalt.
Mit Beschluss vom 7. Juli 2012 ordnete Richterin am Amtsgericht S. die Unterbringung im geschlossenen Bereich eines Krankenhauses bis zum Ablauf des 8. Juli 2012 an. Es bestehe eine erhebliche Eigengefährdung gemäß § 7 PsychKG. In der Bildgebung sei ein Schertrauma diagnostiziert worden. Die Beschwerdeführerin bedürfe einer lückenlosen Überwachung, andernfalls bestehe Lebensgefahr. Die entsprechende Versorgung könne nur im Neurozentrum sichergestellt werden.
2. Gegen den Beschluss legte die Beschwerdeführerin am 7. Juli 2012 Beschwerde ein. Hierauf stellte das Landgericht Kiel mit Beschluss vom 16. September 2013 fest, dass die Beschwerdeführerin durch den Beschluss vom 7. Juli 2012 in ihren Rechten verletzt worden sei, weil im Unterbringungsverfahren kein Gutachten von einem Facharzt für Psychiatrie oder jedenfalls einem Arzt mit Erfahrung in der Psychiatrie eingeholt worden sei. Den Antrag vom 27. Mai 2013 verwies das Landgericht Kiel mit Beschluss vom 30. Oktober 2013 an das Schleswig-Holsteinische Verwaltungsgericht. Dieses stellte mit Urteil vom 1. Dezember 2016 fest, dass die Anordnung der vorläufigen Unterbringung durch den Amtsarzt Dr. S. rechtswidrig gewesen sei. Der Anordnung habe kein Gutachten zugrunde gelegen, das die Notwendigkeit der Unterbringung in gerichtlich nachvollziehbarer Weise begründet habe. Ohne eine für das Gericht nachvollziehbare Begründung sei eine psychische Störung diagnostiziert worden. Dabei sei schon nicht deutlich geworden, welche Symptome einer psychischen Störung zuzuordnen waren. Das Gutachten habe darüber hinaus weder Feststellungen zum Ausschluss der freien Willensbildung noch zum Schweregrad der psychischen Störung und der drohenden Gefahr enthalten.
3. In der Folge erstattete die Beschwerdeführerin Strafanzeige gegen Dr. K., Dr. S., den Pfleger D. und Richterin am Amtsgericht S. Mit Bescheid vom 6. Juli 2016 stellte die Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Kiel das Ermittlungsverfahren hinsichtlich der Beschuldigten Dr. S. und S. gemäß § 170 Abs. 2 StPO und hinsichtlich der Beschuldigten Dr. K. und D. gemäß § 153 Abs. 1 Satz 2 StPO ein.
a) Dr. S. machte im Ermittlungsverfahren von seinem Schweigerecht Gebrauch. Nach Ansicht der Staatsanwaltschaft bestätige sein Gutachten vom 7. Juli 2012 jedoch seine Darstellung, von einem „in der Bildgebung“ erkennbaren „Schertrauma im Stammganglienbereich“ ausgegangen zu sein. Auf welche Weise er zu dieser Diagnose gelangt sei, sei allerdings unklar und nicht mehr aufzuklären. Zu seinen Gunsten sei daher davon auszugehen, dass ihn kein Verschulden treffe.
Hiervon ausgehend sei Dr. S. ein strafrechtlich relevantes Verhalten nicht nachzuweisen beziehungsweise vorzuwerfen. Dies betreffe insbesondere die Strafbarkeit wegen versuchten Totschlags, Körperverletzung durch Unterlassen und unterlassener Hilfeleistung. Es fehle insofern an entsprechenden Tathandlungen oder Handlungspflichten sowie einem entsprechenden Tötungs- oder Schädigungsvorsatz. Eine fahrlässige Körperverletzung scheide mangels ihm zurechenbarer Gesundheitsnachteile aus. Die...
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