Beschluss vom 15. November 2021 - 2 BvR 336/20
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2021:rk20211115.2bvr033620 |
Citation | BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 15. November 2021 - 2 BvR 336/20 -, Rn. 1-46, |
Date | 15 Noviembre 2021 |
Judgement Number | 2 BvR 336/20 |
Court | Constitutional Court (Germany) |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 336/20 -
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn (…), |
- Bevollmächtigter:
-
Rechtsanwalt Martin Kubsch,
Kirchhoff Rechtsanwälte und Steuerberater,
Hegelallee 5, 14467 Potsdam -
gegen |
a) den Beschluss des Kammergerichts vom 18. März 2020 - 5 Ws 27/20 – 121 AR 34/20 -, |
|
b) den Beschluss des Kammergerichts vom 22. Januar 2020 - 6 Ws 205/19 – 121 AR 240/19 -, |
||
c) den Beschluss des Landgerichts Berlin vom 30. Oktober 2019 - (553 StVK) 212 Js 30/12 (210/19) - |
hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Vizepräsidentin König
und die Richter Müller,
Maidowski
am 15. November 2021 einstimmig beschlossen:
- Der Beschluss des Landgerichts Berlin vom 30. Oktober 2019 - (553 StVK) 212 Js 30/12 (210/19) - und der Beschluss des Kammergerichts vom 22. Januar 2020 - 6 Ws 205/19 – 121 AR 240/19 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 in Verbindung mit Artikel 104 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes.
- Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.
- Das Land Berlin hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.
- Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 10.000 (in Worten: zehntausend) Euro festgesetzt.
A.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die abgelehnte Aussetzung des Vollzugs einer Restfreiheitsstrafe zur Bewährung nach § 57 Abs. 1 StGB.
I.
1. Der Beschwerdeführer ist mehrfach wegen Betrugs, Computerbetrugs und Urkundenfälschung vorbestraft. Er befand sich seit dem 14. Oktober 2009 in Haft. Nachdem er eine Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten wegen gewerbsmäßigen Betrugs beziehungsweise gewerbsmäßigen Computerbetrugs und Urkundenfälschung in über hundert Fällen aus einem Urteil des Amtsgerichts Aschaffenburg vom 10. August 2010 verbüßt hatte, wurde seit dem 22. Juni 2019 der Rest einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und zehn Monaten aus einem Urteil des Landgerichts Arnsberg vom 18. Dezember 2012 wegen Betrugs in zwei Fällen vollstreckt.
Nach Vollverbüßung der Haftstrafe wurde der Beschwerdeführer am 18. September 2020 aus der Haft entlassen.
2. Die Ausgangsgerichte hatten bereits zuvor am 26. November 2018 (Landgericht Berlin) und am 17. Januar 2019 (Kammergericht) nach § 57 Abs. 1 Satz 1 StGB über eine Aussetzung der Restfreiheitsstrafe zur Bewährung entschieden. Die damaligen Entscheidungen wurden mit Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 4. Juni 2020 in dem Verfahren 2 BvR 343/19 – mithin nach Ergehen der hier angegriffenen Beschlüsse – aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Landgericht Berlin zurückverwiesen. Die angegriffenen Entscheidungen verstießen gegen das aus dem Freiheitsgrundrecht folgende Gebot bestmöglicher Sachaufklärung, da die Fachgerichte weder die Anstaltspsychologin noch den vormals für den Beschwerdeführer zuständigen Sozialarbeiter zu dessen Entwicklung während des Vollzugs angehört hatten, so dass ihre Prognoseentscheidung nicht auf einer ausreichenden Tatsachengrundlage beruhte.
3. Mit angegriffenem Beschluss vom 30. Oktober 2019 lehnte das Landgericht Berlin den Antrag des Beschwerdeführers vom 25. Juni 2019 auf Aussetzung der Restfreiheitsstrafe zur Bewährung ab.
a) Diese könne unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit nicht verantwortet werden (§ 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB). Dem vielfach einschlägig vorbestraften Beschwerdeführer könne keine günstige Prognose gestellt werden. Angesichts der Dichte und Intensität der von ihm seit 2004 begangenen Straftaten sei ein kritischer Maßstab an die Wahrscheinlichkeit des Wohlverhaltens anzulegen. Dies gelte umso mehr, als er seine Bewährungschance nicht genutzt, die hiesigen Taten während einer Haftunterbrechung begangen und ihn auch die Strafvollstreckung nicht von der Begehung weiterer Straftaten in der Haft abgehalten habe. Eine günstige Prognose setze in seinem Fall Tatsachen voraus, die es überwiegend wahrscheinlich machten, dass er die kritische Probe in Freiheit bestehe.
b) Obgleich sich der Vollzugsverlauf für ihn nunmehr positiv gestalte, bestehe derzeit keine tragfähige Tatsachenbasis, auf die sich eine entsprechende Prognose stützen ließe. Er befinde sich seit dem 26. August 2019 im offenen Vollzug, wobei sich der Vollzug beanstandungsfrei gestalte. Er führe sein Fernstudium der Wirtschaftswissenschaften fort und habe in erheblichem Umfang Maßnahmen getroffen, um den wirtschaftlichen Schaden seiner Taten zu begleichen. Auch habe er seit seiner Verlegung in die Justizvollzugsanstalt T. intensive therapeutische Gespräche geführt, die zu einer Aufarbeitung seiner Straftaten geführt haben mögen. In seiner Familie bestehe zudem ein aufnahmebereiter sozialer Empfangsraum.
c) Entgegen den aktuellen Einschätzungen der Justizvollzugsanstalten seien jedoch die Voraussetzungen des § 57 Abs. 1 StGB nicht gegeben. Für seine Führung in Freiheit ließen sich aus der äußerst kurzen Erprobungsphase beim bisherigen Vollzugsverlauf noch keine tragfähigen Schlüsse ziehen. Um zu belastbaren Aussagen im Hinblick auf das bestehende Rückfallrisiko zu kommen, bedürfe es einer längeren positiven Erprobung. Der Beschwerdeführer sei kein Erstverbüßer. Die hiesigen Taten seien während einer Haftunterbrechung begangen worden. Während der Haft seien weitere betrügerische Straftaten erfolgt, denen ein ganz erhebliches und planerisches Handlungsunrecht zugrunde gelegen habe.
Ob der Beschwerdeführer nicht nur den Willen, sondern auch die Fähigkeit habe, mit dem nunmehr erlernten Repertoire künftig Versuchungssituationen zu widerstehen, sei – trotz der zweifellos vorliegenden positiven Gesichtspunkte – nach Überzeugung des Gerichts anschließend an die Entscheidung vom 26. November 2018 noch offen. Im Rahmen der vorzunehmenden Gesamtbetrachtung gingen Zweifel zu seinen Lasten.
4. Der Beschwerdeführer legte gegen den Beschluss des Landgerichts Berlin am 5. November 2019 sofortige Beschwerde ein. Das Landgericht verkenne sowohl, dass Lockerungen keine grundsätzliche Voraussetzung für die Strafaussetzung seien, als auch, dass die Verzögerung der Erprobung durch Lockerungen außerhalb der Sphäre des Beschwerdeführers gelegen habe. Hinsichtlich des letzteren Aspekts liege ein gerichtlicher Aufklärungsmangel vor. Der Beschwerdeführer sei nach Einschätzung der Vollzugsbehörden austherapiert. Das Gericht sei erneut dadurch seiner Aufklärungspflicht nicht nachgekommen, dass es weder die Anstaltspsychologin noch den früheren Sozialarbeiter angehört habe.
5. Mit Beschluss vom 22. Januar 2020 verwarf das Kammergericht die sofortige Beschwerde. Das Gericht schloss sich der Begründung des Landgerichts Berlin an und führte hinsichtlich des Beschwerdevorbringens ergänzend aus: Der Beschwerdeführer habe die Vermutung, dass der Strafvollzug den Erstverbüßer beeindrucke und von weiteren Straftaten abhalten könne, durch die Delinquenzgeschichte und die Begehung weiterer Straftaten während des Vollzugs widerlegt. Zwar gebe es eine Reihe positiver Ansätze, insbesondere habe sich der Beschwerdeführer in einer psychotherapeutischen Behandlung mit sich und seinen Taten intensiv auseinandergesetzt und die Behandlung nach Einschätzung der Anstaltspsychologin erfolgreich abgeschlossen. Sein Vollzugsverhalten sei seit geraumer Zeit frei von Beanstandungen. Schließlich werde er seit dem 24. Juli 2019 in bisher beanstandungsfrei verlaufenden Lockerungen erprobt. Die positive Entwicklung habe jedoch weitgehend unter dem Schutz des Vollzugs stattgefunden. Tragfähige Schlüsse für das Verhalten in Freiheit ließen sich daraus noch nicht ziehen. Der Beschwerdeführer sei bislang noch nicht ausreichend in Vollzugslockerungen erprobt. Gerade vor dem Hintergrund der noch während der Haft begangenen Straftaten sei es unerlässlich, dass er sich über einen längeren Zeitraum in alltagsangenäherten Belastungssituationen im Rahmen von Vollzugslockerungen bewähre. Das Gericht verkenne nicht, dass Vollzugslockerungen möglicherweise erst verspätet gewährt worden seien. Dies begründe allerdings nicht schon für sich genommen eine Reststrafenaussetzung, wenn es im Übrigen an der gemäß § 57 Abs. 1 Satz 2 StGB erforderlichen günstigen Prognose fehle.
6. Gegen die Entscheidung des Kammergerichts erhob der Beschwerdeführer mit Schriftsatz vom 31. Januar 2020 Anhörungsrüge. Darin machte er geltend, das Kammergericht habe nicht zur Kenntnis genommen, dass die psychotherapeutische Behandlung des Beschwerdeführers diesen charakterlich stabilisiert habe. In diesem Zusammenhang habe sich das...
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Beschluss vom 24. Februar 2023 - 2 BvR 117/20
...(vgl. BVerfGE 18, 85 ; 72, 105 ; 74, 102 ; BVerfGK 15, 390 ; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 15. November 2021 - 2 BvR 336/20 -, Rn. 26; stRspr). d) Aus der besonderen Bedeutung des Freiheitsgrundrechts folgt, dass der verfassungsrechtliche Grundsatz der Verhältnismäß......
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