Beschluss vom 16. Oktober 2023 - 2 BvR 1330/23
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2023:rk20231016.2bvr133023 |
Judgement Number | 2 BvR 1330/23 |
Date | 16 Octubre 2023 |
Court | Constitutional Court (Germany) |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 1330/23 -
über
die Verfassungsbeschwerde
1.des Herrn (…), |
||
2.des Herrn (…), |
- Bevollmächtigter zu 1.:
-
(…) -
gegen |
a) den Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 23. August 2023 - StB 54/23, 2 BJs 16/23-4 -, |
|
b) den Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 14. August 2023 - 1 BGs 1188/23 -, |
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c) den Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 2. August 2023 - 1 BGs 1159/23 -, |
||
d) den Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 7. Dezember 2022 - 1 BGs 964/22 - |
und | Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung |
hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Vizepräsidentin König
und die Richter Maidowski,
Offenloch
gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung
vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473)
am 16. Oktober 2023 einstimmig beschlossen:
- Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen
- Mit der Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde wird der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegenstandslos (§ 40 Abs. 3 GOBVerfG)
Die Beschwerdeführer zu 1., ein in Untersuchungshaft befindlicher Beschuldigter in einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren, und sein Pflichtverteidiger, der Beschwerdeführer zu 2., wenden sich gegen haftgrundbezogene Beschränkungen während der Untersuchungshaft, konkret die Anordnung der Kontrolle ihres Schriftverkehrs durch einen Leserichter (vgl. § 148 Abs. 2, § 148a StPO) und das Verbot der Übergabe von Gegenständen.
I.
1. Der Beschwerdeführer zu 1. befindet sich aufgrund eines Haftbefehls des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom 5. Dezember 2022, der dem Bundesverfassungsgericht nicht vorgelegt wurde, seit dem 8. Dezember 2022 in Untersuchungshaft. Der Beschwerdeführer zu 2. ist sein Pflichtverteidiger im Ausgangsverfahren und vertritt ihn im Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht.
Gegenstand des Haftbefehls gegen den Beschwerdeführer zu 1. war zunächst der Vorwurf, er habe seit September 2022 eine Vereinigung unterstützt, deren Zwecke oder Tätigkeit auf die Begehung von Mord oder Totschlag gerichtet gewesen seien, strafbar gemäß § 129a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 5 Satz 1 StGB. Ausweislich des Haftfortdauerbeschlusses vom 13. Juli 2023, der die rechtlichen Ausführungen des Beschlusses vom 5. Dezember 2022 ergänzt, ist der Beschwerdeführer der nunmehr mitgliedschaftlichen Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung in Tateinheit mit der Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens dringend verdächtig. Nach dem gegenwärtigen Ermittlungsstand ist auf der Grundlage des Haftfortdauerbeschlusses vom 13. Juli 2023 im Sinne eines dringenden Tatverdachts von folgendem Sachverhalt auszugehen:
Der Beschwerdeführer zu 1. gehöre wie die Mitbeschuldigten und die im vorliegenden Ermittlungskomplex gesondert Verfolgten der sogenannten Reichsbürger- und QAnon-Bewegung an. Er habe sich spätestens ab September 2022 an einer von jenen im November 2021 gegründeten und auf längere Dauer angelegten Organisation beteiligt, die sich zum Ziel gesetzt habe, die bestehende staatliche Ordnung in Deutschland insbesondere unter Einsatz militärischer Mittel und Gewalt gegen staatliche Repräsentanten zu überwinden und durch eine eigene, bereits in Grundzügen ausgearbeitete Staatsform zu ersetzen. Sie alle lehnten die freiheitlich-demokratische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland und deren Institutionen ab. Auf der Grundlage einer entsprechenden gemeinsamen Gesinnung erwarteten sie an einem unmittelbar bevorstehenden, aber noch nicht festgelegten „Tag X“ einen Angriff auf die oberste Ebene der staatlichen Führung der Bundesrepublik Deutschland durch die „Allianz“, einen Geheimbund bestehend aus Angehörigen ausländischer Regierungen, Streitkräfte und Geheimdienste. Zum Zwecke der Umsetzung ihrer Umsturzpläne hätten die Angehörigen der Gruppierung organisatorische, hierarchische und verwaltungsähnliche Strukturen mit einem sogenannten Rat als zentralem Gremium und einem militärischen Arm geschaffen. Der engste Führungszirkel der Vereinigung habe das gewaltsame Eindringen einer bewaffneten Gruppe in das Reichstagsgebäude mit dem Ziel geplant, Abgeordnete, Kabinettsmitglieder und deren Mitarbeiter zu verhaften und abzuführen; hierfür sei der Führungszirkel bereits in konkrete Vorbereitungshandlungen eingetreten, an denen der Beschwerdeführer zu 1. nicht beteiligt gewesen sei. Die an der Planung und Vorbereitung der Vorhaben Beteiligten hätten jeweils mit der Tötung zahlreicher Menschen gerechnet und diese billigend in Kauf genommen; dem Führungszirkel, der das gewaltsame Eindringen in das Reichstagsgebäude geplant habe, sei bewusst gewesen, dass dieses Vorhaben nur durch Anwendung von tödlicher Waffengewalt gegen Polizisten und Sicherheitskräfte durchgeführt werden könnte. Der Beschwerdeführer zu 1. sei der Vereinigung, über dessen Struktur und personelle Zusammensetzung er informiert gewesen sei und deren Umsturzpläne er geteilt habe, spätestens im September 2022 beigetreten und habe an zahlreichen Treffen des militärischen Arms teilgenommen; er sei in dessen Strukturen fest eingebunden gewesen. In dieser Funktion habe er seinen deutschsprachigen Telegram-Kanal genutzt, um relevante Informationen und die in der Gruppierung verfolgten Umsturzszenarien innerhalb der Vereinigung und nach außen zu verbreiten und kostenpflichtige Online-Seminare mit identischen Inhalten anzubieten.
Bei der Gruppierung um den Beschuldigten, die Mitbeschuldigten und gesondert Verfolgten handele es sich hochwahrscheinlich um eine terroristische Vereinigung nach § 129 Abs. 2, § 129a Abs. 1 Nr. 1 StGB. Sie habe aus mehr als zwei Personen bestanden, sei auf längere Dauer angelegt gewesen, habe eine organisatorische Struktur gehabt und mit der Abschaffung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland sowie der Schaffung eines neuen deutschen Staatswesens ein übergeordnetes gemeinsames Interesse verfolgt. Dieses Ziel hätten die Mitglieder der Vereinigung mit Wissen und Billigung des Beschwerdeführers zu 1. nach dem gegenwärtigen Stand der Ermittlungen durch die Begehung von Katalogtaten nach § 129a Abs. 1 Nr. 1 StGB erreichen wollen. Der Beschwerdeführer zu 1. habe sich nach dem aus dem Aktenmaterial ersichtlichen Erkenntnisstand im September 2022 einvernehmlich in die Organisation eingegliedert. Er habe mit seinem Wirken innerhalb des militärischen Arms und durch das Betreiben seines Telegram-Kanals für die Zwecke der Gruppierung unmittelbar zur Durchsetzung der Ziele des Zusammenschlusses beigetragen. Somit habe er sich hochwahrscheinlich als Mitglied an der Vereinigung beteiligt. Darüber hinaus sei der Beschwerdeführer zu 1. der Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens gemäß § 83 Abs. 1 StGB dringend verdächtig.
Es bestehe der Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO sowie – auch bei der gebotenen restriktiven Auslegung des § 112 Abs. 3 StPO – derjenige der Schwerkriminalität. Die Ermittlungen hätten gezeigt, dass der Beschwerdeführer zu 1. in die Szene derer, die – als sogenannte Reichsbürger, Querdenker, Verschwörungstheoretiker oder Anhänger nationalsozialistischen Gedankengutes – die staatliche Verfasstheit der Bundesrepublik Deutschland und deren freiheitlich-demokratische Grundordnung ablehnten und deren Überwindung erstrebten, eng eingebunden und vernetzt sei. Er könne mit hoher Wahrscheinlichkeit auf ein Netzwerk von Sympathisanten und Gleichgesinnten zurückgreifen, die ihn im Falle einer Flucht beziehungsweise eines Untertauchens logistisch und finanziell unterstützen würden.
2. Mit Beschluss vom 7. Dezember 2022 traf der Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs Anordnungen für den Vollzug der Untersuchungshaft. Soweit mit der Verfassungsbeschwerde angegriffen, wurde in Ziffer 1 Buchstabe f angeordnet, dass die Übergabe von Gegenständen jeglicher Art, ausschließlich Wechselwäsche, untersagt sei. Die Verteidigerpost und der Schriftverkehr mit dem Personenkreis gemäß § 119 Abs. 4 Satz 1 und 2 StPO unterlägen gemäß § 148 Abs. 2, § 148a Abs. 1 Satz 1 StPO der Kontrolle durch den Leserichter des zuständigen Amtsgerichts (Ziffer 3 Buchstabe b des Haftstatuts). Gespräche mit der Verteidigung und mit dem Personenkreis gemäß § 119 Abs. 4 Satz 1 und 2 StPO seien nicht zu überwachen, bedürften jedoch einer Trennscheibe. Telefonate des Beschuldigten bedürften der richterlichen Erlaubnis und seien zu überwachen. Für Verteidigergespräche sei eine richterliche Erlaubnis hingegen nicht erforderlich und diese seien auch nicht zu überwachen. Der Beschwerdeführer zu 1. sei von verschiedenen, namentlich benannten weiteren Beschuldigten zu trennen.
Zur Begründung wurde unter Verweis auf den Haftbefehl vom 5. Dezember 2022 ausgeführt, der Beschwerdeführer zu 1. sei der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung dringend verdächtig und es bestehe der Haftgrund der Fluchtgefahr. Die besonderen Sicherungsmaßnahmen seien mit Rücksicht auf den Zweck der Untersuchungshaft geboten. Aufgrund der bisherigen Ermittlungsergebnisse bestehe die erhebliche Gefahr, dass der Beschuldigte Kontakte mit der Außenwelt oder mit anderen Gefangenen gleicher Gesinnung missbrauche. Dies gelte insbesondere vor dem Hintergrund der durch die Ermittlungen festgestellten konspirativen Kommunikation sämtlicher Beschuldigter sowie ihrer Vernetzung in die Szenen der Reichsbürger,...
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