Beschluss vom 17. April 2020 - 1 BvQ 37/20
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2020:qk20200417.1bvq003720 |
Date | 17 Abril 2020 |
Citation | BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 17. April 2020 - 1 BvQ 37/20 -, Rn. (1-29), |
Judgement Number | 1 BvQ 37/20 |
Court | Constitutional Court (Germany) |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvQ 37/20 -
über den Antrag,
im Wege der einstweiligen Anordnung
die Beschlüsse des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 14. April 2020 - 16 K 1905/20 - und des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 15. April 2020 - 1 S 1078/20 - aufzuheben und die Sache an den Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg zurückzuverweisen, |
Antragsteller: |
M…, |
|
|
- Bevollmächtigte:
- …,
hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Vizepräsidenten Harbarth,
die Richterin Baer,
und den Richter Radtke
gemäß § 32 Abs. 1 in Verbindung mit § 93d Abs. 2 BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 17. April 2020
einstimmig beschlossen:
- Die Stadt Stuttgart wird verpflichtet, über die Zulässigkeit der von dem Antragsteller angemeldeten Versammlung am 18. April 2020 unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung der Kammer zu entscheiden
- Trifft die Stadt Stuttgart keine Entscheidung, ist der Antragsteller berechtigt, die von ihm angemeldete Versammlung durchzuführen
- Das Land Baden-Württemberg und die Stadt Stuttgart haben dem Antragsteller die notwendigen Auslagen jeweils zur Hälfte zu erstatten.
I.
Der Antragsteller wendet sich mit einem isolierten Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen Eilentscheidungen des Verwaltungsgerichts Stuttgart und des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg betreffend die Zulässigkeit einer Versammlung.
1. Der Antragsteller meldete am 10. April 2020 bei der Stadt Stuttgart, der Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens, für den 15. und den 18. April 2020 jeweils eine Versammlung unter dem Motto „Wir bestehen auf die ersten 20 Artikel der Verfassung. Wir bestehen auf Beendigung des Notstands-Regimes“ an. Die Versammlungen sollten jeweils von 15.30 Uhr bis ca. 17.30 Uhr auf dem Schlossplatz in Stuttgart stattfinden. Die erwartete Teilnehmerzahl in der Spitze wurde mit je-weils 50 angegeben. Zum Ablauf wurde ausgeführt, die Versammlung werde „als Spaziergang mit Schildern durchgeführt“; alle Teilnehmer würden „vorab über die notwendigen Hygieneregeln informiert (insbesondere Abstand von 2 m)“.
Der Antragsteller trägt vor, ihm sei – anlässlich einer früheren Versammlungsanmeldung – am 8. April 2020 von einem Mitarbeiter der Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens telefonisch mitgeteilt worden, dass dort aktuell über Versammlungen nicht entschieden werde, weil diese verboten seien. Der Bevollmächtigte des Antragstellers teilt mit, er habe daraufhin ebenfalls bei diesem Mitarbeiter angerufen und um Übersendung eines ablehnenden Bescheids gebeten. Der Mitarbeiter habe daraufhin erklärt, ein Ablehnungsbescheid werde nicht ergehen, weil sich das Verbot von Versammlungen aus der Corona-Verordnung der Landesregierung ergebe.
Die baden-württembergische Verordnung der Landesregierung über infektionsschützende Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus SARS-Cov-2 (Corona-Verordnung – CoronaVO) vom 17. März 2020 (GBl. BW S. 120), zuletzt geändert durch Verordnung vom 9. April 2020 (notverkündet gemäß § 4 Satz 1 des Verkündungsgesetzes Baden-Württemberg durch öffentliche Bekanntmachung des Staatsministeriums Baden-Württemberg im Internet unter https://stm.baden-wuerttemberg.de/de/startseite/) enthält unter anderem die folgende Bestimmung:
§ 3
Verbot des Aufenthalts im öffentlichen Raum, von Veranstaltungen und sonstigen Ansammlungen
(1) Der Aufenthalt im öffentlichen Raum ist nur alleine, mit einer weiteren nicht im Haushalt lebenden Person oder im Kreis der Angehörigen des eigenen Haushalts gestattet. Zu anderen Personen ist im öffentlichen Raum, wo immer möglich, ein Mindestabstand von 1,5 Metern einzuhalten.
(2) Außerhalb des öffentlichen Raums sind Veranstaltungen und sonstige Ansammlungen von jeweils mehr als fünf Personen vorbehaltlich des Selbstorganisationsrechts des Landtages und der Gebietskörperschaften verboten. Ausgenommen sind Veranstaltungen und sonstige Ansammlungen, wenn deren teilnehmende Personen
1. in gerader Linie verwandt sind, wie beispielsweise Eltern, Großeltern, Kinder und Enkelkinder oder
2. in häuslicher Gemeinschaft miteinander leben
sowie deren Ehegatten, Lebenspartnerinnen oder Lebenspartner oder Partnerinnen oder Partner. Die Untersagung nach Satz 1 gilt namentlich für Zusammenkünfte in Vereinen, sonstigen Sport- und Freizeiteinrichtungen sowie öffentlichen und privaten Bildungseinrichtungen im außerschulischen Bereich.
(3) Ausgenommen von dem Verbot nach den Absätzen 1 und 2 sind Veranstaltungen, Ansammlungen und sonstige Zusammenkünfte, wenn sie
1. der Aufrechterhaltung des Arbeits- und Dienstbetriebs oder der Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung oder der Daseinsfür- oder -vorsorge oder
2.dem Betrieb von Einrichtungen, soweit er nicht nach dieser Verordnung untersagt ist,
zu dienen bestimmt sind. Satz 1 Nummer 1 gilt insbesondere für Veranstaltungen, Ansammlungen und sonstige Zusammenkünfte der Gerichte, Staatsanwaltschaften, der Notarinnen und Notare des Landes. Er gilt außerdem für Veranstaltungen, die der medizinischen Versorgung dienen wie beispielsweise Veranstaltungen zur Gewinnung von Blutspenden, wenn geeignete Maßnahmen zum Schutz vor Infektionen im Sinne von § 4 Absatz 5 getroffen werden.
(4) Veranstaltungen und sonstige Ansammlungen in Kirchen, Moscheen, Synagogen und die Zusammenkünfte anderer Glaubensgemeinschaften sind grundsätzlich untersagt. Das Kultusministerium wird gemäß § 32 Satz 2 IfSG ermächtigt, durch Rechtsverordnung unter Auflagen zum Infektionsschutz abweichende Regelungen von den Absätzen 1 und 2 für Veranstaltungen und sonstige Ansammlungen in Kirchen, Moscheen, Synagogen und Zusammenkünfte anderer Glaubensgemeinschaften sowie für alle Bestattungen, Totengebete, Leichenwaschungen sowie Aufbahrungen festzulegen.
(5) ...
(5a) ...
(6) Die zuständigen Behörden können aus wichtigem Grund unter Auflagen zum Schutz vor Infektionen Ausnahmen vom Verbot nach den Absätzen 1 und 2 zulassen. Ein wichtiger Grund liegt insbesondere vor, wenn
1.Versammlungen und sonstige Veranstaltungen der Aufrechterhaltung der kritischen Infrastruktur im Sinne von § 1 Absatz 6 dienen oder
2.es sich um gesetzlich vorgeschriebene Veranstaltungen handelt und eine Verlegung des Termins nicht möglich ist.
2. Der Antragsteller beantragte am 14. April 2020 bei dem Verwaltungsgericht Stuttgart, die Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens durch einstweilige Anordnung zu verpflichten, die angemeldeten Versammlungen zu genehmigen. Das Verwaltungsgericht lehnte den Antrag durch Beschluss vom 14. April 2020 ab. Die hiergegen gerichtete Beschwerde des Antragstellers wies der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg durch Beschluss vom 15. April 2020 zurück.
Zur Begründung führte der Verwaltungsgerichtshof im Wesentlichen aus, als Rechtsgrundlage des Antragsbegehrens in Betracht komme allein die in § 3 Abs. 6 CoronaVO vorgesehene Ermächtigung zur...
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