Beschluss vom 18. August 2000 - 1 BvQ 23/00
Court | Bundesverfassungsgericht (Deutschland) |
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2000:qk20000818.1bvq002300 |
Citation | BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 18. August 2000 - 1 BvQ 23/00 - Rn. (1-49), |
Date | 18 i 2000 |
Judgement Number | 1 BvQ 23/00 |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvQ 23/00 -
über
den Antrag,
unter Aufhebung der Beschlüsse des Verwaltungsgerichts Hamburg vom 17. August 2000 - 14 VG 3354/2000 - und des Hamburgischen Oberverwaltungsgerichts vom 18. August 2000 - 4 Bs 245/00 - im Weg der einstweiligen Anordnung die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen das Versammlungsverbot der Freien und Hansestadt Hamburg vom 16. August 2000 - Tgb-Nr. 211/2000 - wieder herzustellen,
Antragsteller: Herr W...
hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch den
Vizepräsidenten Papier,
und die Richter Hömig,
Hoffmann-Riem
gemäß § 32 Abs. 1 in Verbindung mit § 93 d Abs. 2 BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 18. August 2000 einstimmig beschlossen:
- Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs
des Antragstellers gegen die Verbotsverfügung der Freien
und Hansestadt Hamburg - Behörde für Inneres - vom 16.
August 2000 wird für die für den 20. August 2000
angemeldete Versammlung mit folgenden Maßgaben wieder
hergestellt:
a) Die Versammlung findet stationär auf dem Axel-Springer-Platz in der Zeit von 14.00 Uhr bis höchstens 16.00 Uhr statt.
b) Untersagt ist die Benutzung von Trommeln und Fahnen - außer der Bundesflagge - und von Transparenten strafbaren Inhalts, die Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen sowie das Tragen von Uniformen, Uniformteilen oder gleichartigen Kleidungsstücken als Ausdruck einer gemeinsamen politischen Gesinnung.
c) In Versammlungsreden und Spruchchören sowie auf Transparenten unterbleiben Aussagen zum Todestag von Rudolf Heß. - Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.
- Die Freie und Hansestadt Hamburg hat die Hälfte der notwendigen Auslagen des Antragstellers zu erstatten.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung betrifft ein für sofort vollziehbar erklärtes Versammlungsverbot. Die Kammer hat die Begründung ihrer Entscheidung gemäß § 32 Abs. 5 in Verbindung mit § 93 d Abs. 2 BVerfGG nach Bekanntgabe des Beschlusses schriftlich abgefasst.
I.
1. Der Antragsteller meldete mit Schreiben vom 3. August 2000 sein Vorhaben an, in Hamburg am 19. August 2000 von 14.00 Uhr bis ca. 18.00 Uhr eine Versammlung unter freiem Himmel durchzuführen. Sie sollte das Motto "Gegen Lügen und Hetze der BILD-Zeitung - Enteignet Springer!" tragen und aus einem etwa 2,6 km langen Aufzug durch die Innenstadt bestehen. Auftakt- und Abschlusskundgebung sollten auf dem Theodor-Heuss-Platz stattfinden. Die Hauptkundgebung war für den Axel-Springer-Platz geplant. Die Teilnehmerzahl wurde vom Antragsteller bei der Anmeldung auf ca. 100 bis 200 Personen geschätzt.
Mit Schreiben vom 12. August 2000 meldete der Antragsteller eine identische Veranstaltung für den 20. August 2000 für den Fall an, dass ein Verbot der für den 19. August 2000 angemeldeten Versammlung so spät ergehe, dass bis zum Versammlungstermin nicht mehr erfolgreich Rechtsschutz in Anspruch genommen werden könne oder dass eine nicht untersagte Gegendemonstration die Durchführung des angemeldeten Aufzuges unmöglich mache oder die Streckenführung unter Gefährdung des Demonstrationszwecks beeinträchtige.
2. Mit Bescheid vom 16. August 2000 untersagte die Freie und Hansestadt Hamburg die Durchführung beider Aufzüge sowie jeder Form von Ersatzveranstaltungen am 19. und 20. August 2000 im Bereich der Stadt und ordnete die sofortige Vollziehung dieser Regelungen an.
Die auf § 15 Abs. 1 VersG gestützte Verbotsverfügung war im Wesentlichen wie folgt begründet:
a) Es bestehe die Befürchtung, dass der Aufzug entgegen den Angaben in der Anmeldung als Gedenkveranstaltung zum 13. Todestag von Rudolf Heß am 17. August 2000 durchgeführt werde und Straftaten begangen würden. Zum Beleg führte die Versammlungsbehörde unter anderem aktuelle Plakatierungen im Raum Hamburg an, die, wenn auch ohne Bezug zur Versammlung, auf Rudolf Heß hinwiesen, und stellte die langjährig in diesem Zusammenhang stattfindenden Aktionen der rechtsextremistischen Szene näher dar. Außerdem wurde darauf hingewiesen, der Anmelder selbst habe von 1987 bis 1995, zum Teil als Mitorganisator, an Heß-Gedenkveranstaltungen und bis heute an zahlreichen anderen rechtsextremistischen Aktivitäten teilgenommen. Da in der Vergangenheit Versammlungen zum Todestag von Rudolf Heß regelmäßig mit Verherrlichungen des nationalsozialistischen Regimes, mit dem Äußern strafbarer Parolen und dem Zeigen verbotener Symbole einhergegangen seien, ergebe sich aus den gesamten Umständen, dass auch bei der angemeldeten Veranstaltung mit der Verwirklichung - näher bezeichneter - einschlägiger Straftatbestände zu rechnen sei. Vor diesem Hintergrund sei davon auszugehen, dass, falls der Aufzug nicht von vornherein als Heß-Gedenkveranstaltung geplant sei, der Anmelder dieser Entwicklung zumindest nicht mit Nachdruck entgegensteuern wolle und dies bei einer erhöhten Teilnehmerzahl auch nicht könne. Auch seitens der Polizei werde mangels ausreichender Kräfte keine Möglichkeit bestehen, eine derartige Umwidmung des Aufzuges zu verhindern.
b) Der Aufzug verletze in erheblicher Weise die öffentliche Ordnung. Der Kundgebungsplatz befinde sich in der unmittelbaren Nähe einer Grünfläche, von der ab dem 25. Oktober 1941 Personen jüdischer Religion, die in Hamburg lebten, in Ghettos und Vernichtungslager deportiert worden seien. Den Beginn und das Ende eines Aufzuges von Rechtsextremisten, bei dem Rudolf Heß, seine Rolle im "Dritten Reich" und das gesamte Naziregime einschließlich seiner verbrecherischen Judenverfolgung glorifiziert würden, in unmittelbarer Nähe dieses geschichtlich belasteten Ortes erleben zu müssen, stelle eine erhebliche Beeinträchtigung des sittlichen Empfindens aller Hamburgerinnen und Hamburger dar, insbesondere der ansässigen Jüdischen Gemeinde.
c) Unter dem Gesichtspunkt des polizeilichen Notstands sei der Aufzug zu verbieten, weil nach derzeitigen polizeilichen Erkenntnissen bis zu 1.500 Gegendemonstranten, darunter bis zu 200 Personen des gewaltbereiten Spektrums und eine nicht zu prognostizierende Anzahl von Mitgliedern ausländischer linksextremistischer Gruppen, besonders jugendlichen Ausländern, zu rechnen sei. Nach den mit rechtsextremistischen Aufzügen in Hamburg in den Jahren 1999 und 2000 gemachten Erfahrungen sei mit erheblichen, in der Verfügung im Einzelnen in Gestalt eines zu erwartenden Szenarios näher geschilderten, Gewalttätigkeiten von dieser Seite zu rechnen. Auf Grund der bestehenden Emotionalisierung im Zusammenhang mit der öffentlichen Diskussion gegen Rechtsextremismus sei davon auszugehen, dass Straftaten linksextremistischer Gewalttäter aus dem Bereich des bürgerlichen Protestes geduldet würden. Zudem berge die Marschstrecke nach Einschätzung der Polizei besondere - ortsbezogen näher benannte - Risiken. Diese seien nach polizeilicher Erfahrung nur mit einem starken Kräfteeinsatz der Polizei unter gleichzeitiger Einsatzdurchführung mit festen Sperrlinien unter Raumschutzaufträgen möglich. Ein hinreichender Schutz der Aufzugteilnehmer sowie unbeteiligter Dritter sei ohne diese Einsatzmaßnahmen auch bei großem Kräfteeinsatz der Polizei nicht zu erreichen. Hierfür seien 33 Hundertschaften notwendig. Diese stünden am 19. August 2000 nicht zur Verfügung, an dem die Polizei besonders viele andere Veranstaltungen zu schützen habe, darunter ein Fußballspiel der 2. Bundesliga und der Schlager-Move in St. Pauli mit erwarteten 300.000 Teilnehmern sowie weitere, im Bescheid aufgeführte Veranstaltungen. Für die Bildung der zur Durchführung des Aufzuges erforderlichen Einsatzabschnitte müssten ausschließlich geschlossene Einheiten eingesetzt werden. Aus Hamburger Kräften seien aber nur 11 Hundertschaften verfügbar. Auch nach mehreren bundesweiten Anfragen um Unterstützung stünden auf Grund anderer Ereignisse sowie der bundesweit zu verzeichnenden Betätigung im Rahmen von "Heß-Aktionswochen" nur fünf auswärtige Hundertschaften zur Verfügung. Es bestehe somit ein Fehlbestand von 17 Hundertschaften.
Die Sachlage sei nur geringfügig anders zu beurteilen, wenn die Marschstrecke des Aufzuges verlegt oder gekürzt bzw. auf eine stationäre Versammlung beschränkt werde. Hier konzentrierten sich die Aktionen gewaltbereiter Störer insbesondere auf den An- und...
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