Beschluss vom 18. August 2021 - 2 BvR 908/21
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2021:rk20210818.2bvr090821 |
Date | 18 Agosto 2021 |
Judgement Number | 2 BvR 908/21 |
Citation | BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 18. August 2021 - 2 BvR 908/21 -, Rn. 1-42, |
Court | Constitutional Court (Germany) |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 908/21 -
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn (…), |
- Bevollmächtigter:
-
Rechtsanwalt Philipp Marquort,
Exerzierplatz 32, 24103 Kiel -
gegen |
a) den Beschluss des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts |
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vom 1. Juni 2021 - 1 Ausl (A) 53/17 (54/17), 1 Ausl (A) 53/17 (6/18) -, |
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b) den Beschluss des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts |
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vom 15. April 2021 - 1 Ausl (A) 53/17 (54/17), 1 Ausl (A) 53/17 (6/18) - |
und | Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung |
hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Vizepräsidentin König
und die Richter Müller,
Maidowski
am 18. August 2021 einstimmig beschlossen:
- Der Beschluss des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts vom 15. April 2021 - 1 Ausl (A) 53/17 (54/17), 1 Ausl (A) 53/17 (6/18) - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, soweit die Auslieferung für zulässig erklärt wurde; er wird in diesem Umfang aufgehoben.
- Der Beschluss des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts vom 1. Juni 2021 - 1 Ausl (A) 53/17 (54/17), 1 Ausl (A) 53/17 (6/18) - wird damit gegenstandslos.
- Die Sache wird an das Schleswig-Holsteinische Oberlandesgericht zurückverwiesen.
- Das Land Schleswig-Holstein hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren und für das Verfahren über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu erstatten.
- Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird für das Verfassungsbeschwerdeverfahren auf 15.000 (in Worten: fünfzehntausend) Euro und für das einstweilige Anordnungsverfahren auf 7.500 (in Worten: siebentausendfünfhundert) Euro festgesetzt.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Auslieferung des Beschwerdeführers, eines rumänischen Staatsangehörigen, zur Strafvollstreckung nach Rumänien.
I.
1. Auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls des Amtsgerichts Urziceni (Rumänien) vom 26. Februar 2016 wurde der Beschwerdeführer am 24. Oktober 2017 festgenommen. Dem Haftbefehl liegt eine Entscheidung des Berufungsgerichts in Bukarest vom 18. Februar 2016 zugrunde, in der die Verurteilung des Beschwerdeführers wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis sowie Fahrens mit einem nicht zugelassenen Fahrzeug zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und vier Monaten in zweiter Instanz rechtskräftig bestätigt wurde. Mit Beschluss vom 27. Oktober 2017 ordnete das Schleswig-Holsteinische Oberlandesgericht die Auslieferungshaft gegen den Beschwerdeführer an, die vom 27. Oktober 2017 bis zum 28. Februar 2018 vollstreckt wurde.
2. Unter Verweis auf das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru, C-404/15 und C-659/15 PPU, EU:C:2016:198, ersuchte die Generalstaatsanwaltschaft des Landes Schleswig-Holstein das Amtsgericht Urziceni am 10. November 2017 um eine genaue Beschreibung der Haftbedingungen, die den Beschwerdeführer in Rumänien erwarten würden, insbesondere mit Blick auf die Größe des Haftplatzes, die Dauer der täglichen Unterbringung in der Zelle sowie die Abtrennung sanitärer Einrichtungen.
3. In einer Stellungnahme vom 23. November 2017 stellten die rumänischen Behörden die im Fall der Auslieferung zu erwartenden Haftbedingungen dar. Die Nationalverwaltung der Justizvollzugsanstalten versichere insbesondere, dass der Beschwerdeführer die Strafe höchstwahrscheinlich in der Justizvollzugsanstalt Constanta - Poarta Alba oder in einer anderen Vollzugsanstalt verbüßen werde, wo ihm im Fall der Strafvollstreckung in einem halboffenen oder offenen Haftregime ein individueller Mindestraum von 2 m2 , einschließlich Bett und Möbel, zur Verfügung stehen werde.
4. Mit Beschluss vom 20. Dezember 2017 erklärte das Schleswig-Holsteinische Oberlandesgericht die Auslieferung des Beschwerdeführers für zulässig. Gegen die beabsichtigte Bewilligung der Auslieferung würden mit der Maßgabe, dass die Freiheitsstrafe während ihrer gesamten Dauer ausschließlich in Haftanstalten vollzogen werde, die den Anforderungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und den Europäischen Strafvollzugsgrundsätzen entsprächen, sowie mit der Maßgabe, dass Angehörigen der Deutschen Botschaft jederzeit kurzfristig Gelegenheit gegeben werde, den Beschwerdeführer in der Haft aufzusuchen und sich über die konkreten Haftbedingungen zu informieren, keine Bedenken geltend gemacht. Die in Rumänien herrschenden Haftbedingungen ließen eine Auslieferung nicht als unzulässig erscheinen. Dem Senat sei aus mehreren Verfahren bekannt, dass Auslieferungshäftlinge zunächst einen Zeitraum von drei Wochen in einer zentralen Haftanstalt verbrächten und dann von dort in andere Haftanstalten verlegt würden, die insgesamt den Anforderungen entsprächen, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte als Mindeststandard fordere. Dass dies auch im vorliegenden Fall so sein werde, ergebe sich aus den ergänzenden Informationen, die das Amtsgericht Urziceni auf Bitte des Generalstaatsanwalts des Landes Schleswig-Holstein übersandt habe. Diesen Erklärungen dürfe im „gemeinsamen europäischen Rechtsraum des Vertrauens“ ohne Weiteres geglaubt werden. Es sei nicht bekannt, dass Erklärungen der rumänischen Behörden im Einzelfall nicht eingehalten worden seien. Ob das Bundesverfassungsgericht hinsichtlich der Zulässigkeit von Auslieferungen nach Rumänien unter dem Gesichtspunkt der Einhaltung der sich aus dem Grundgesetz ergebenden Grundrechte Anforderungen an die Haftbedingungen stellen werde, die über diejenigen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und der Europäischen Menschenrechtskonvention hinausgingen, stehe zurzeit nicht fest. Wenn eine Auslieferung zwischen Mitgliedstaaten der Europäischen Union für unzulässig, weil grundrechtswidrig, erklärt werden sollte, käme dies nach Auffassung des Senats im Übrigen einer Bankrotterklärung des deutschen Rechtshilferechts gleich.
5. Mit Beschluss vom 9. Mai 2018 - 2 BvR 37/18 - stellte die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts fest, dass der Beschluss des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts vom 20. Dezember 2017 den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt. Unter Aufhebung dieses Beschlusses wurde die Sache an das Oberlandesgericht zurückverwiesen. Mit Beschluss vom 29. Juni 2018 setzte das Oberlandesgericht das Verfahren bis zu einer Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union im Vorlageverfahren des Hanseatischen Oberlandesgerichts Hamburg in der Rechtssache Dorobantu, C-128/18 -, aus.
6. Mit Schriftsatz vom 27. Februar 2020 beantragte der Beschwerdeführer, das Verfahren weiterhin auszusetzen und dem Gerichtshof der Europäischen Union Fragen hinsichtlich der Mindestanforderungen an Einzelzellen vorzulegen. Der von den rumänischen Behörden zugesicherte persönliche Haftraum von 3 m² im geschlossenen Vollzug sei menschenunwürdig. Das vorhandene Mobiliar (Bett, Schrank, Tisch, Stuhl) in einem nur 3 m² großen Raum erlaube keine freie Bewegung in der Zelle. Von den rumänischen Behörden sei nicht mitgeteilt worden, ob die Unterbringung in einer Einzel- oder einer Gemeinschaftszelle erfolgen solle. Der im halboffenen Vollzug gewährleistete persönliche Raum von nur mindestens 2 m² in der Haftanstalt Jilava sei jedenfalls menschenunwürdig und könne durch die tagsüber bestehenden Bewegungsmöglichkeiten nicht kompensiert werden.
7. Mit Beschluss vom 28. April 2020 nahm das Schleswig-Holsteinische Oberlandesgericht das Verfahren wieder auf und erklärte die Auslieferung für zulässig. Die von den rumänischen Behörden geschilderten Haftbedingungen erwiesen sich noch nicht als menschenrechtswidrig. Dem Beschwerdeführer stünden in den genannten Haftanstalten ausreichend persönliche Freiräume zur Verfügung. Soweit der Raum in der Haftanstalt Jilava beengter sei, seien die dortigen Haftbedingungen in ihrer Gesamtheit nicht menschenunwürdig. Der mutmaßliche Aufenthalt des Beschwerdeführers im halboffenen Vollzug sei zeitlich befristet und er könne sich tagsüber außerhalb der Hafträume bewegen, täglich einer Arbeit nachgehen, sei medizinisch sowie sozial betreut und habe telefonische Kontakt- und Besuchsmöglichkeiten. Das Resozialisierungsinteresse komme bei einem Strafvollzug im Heimatland entscheidend zum Tragen. In seinem Heimatland könne sich der Beschwerdeführer anders als in der Bundesrepublik Deutschland sprachlich hinreichend ausdrücken und die für die Resozialisierung erforderlichen Kontakte würden erleichtert und gefördert. Dies sei in die Gesamtwürdigung der Haftbedingungen einzustellen. Eine Vorlage an den EuGH sei nicht erforderlich, da die Vorlagefragen auf der Annahme von Haftbedingungen basierten, die nach dem Inhalt der Auskunft der rumänischen Behörden „nicht eintreten werden“. Bewilligungshindernisse lägen nicht vor.
8. Am 15. Januar 2021 forderte die Generalstaatsanwaltschaft unter Bezugnahme auf den Beschluss des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 1. Dezember 2020 - 2 BvR 1845/18 und 2 BvR 2100/18 - die rumänischen Behörden zur Abgabe einer neuen Zusicherung auf.
9. Mit Schreiben vom 1. Februar 2021 teilten die rumänischen Behörden mit, dass „nach Überprüfung der Lage der...
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