Beschluss vom 18. August 2021 - 2 BvR 2181/20
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2021:rk20210818.2bvr218120 |
Citation | BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 18. August 2021 - 2 BvR 2181/20 -, Rn. 1-28, |
Date | 18 Agosto 2021 |
Judgement Number | 2 BvR 2181/20 |
Court | Constitutional Court (Germany) |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 2181/20 -
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn (…), |
gegen |
a) den Beschluss des Oberlandesgerichts Rostock |
|
vom 12. November 2020 - 20 Ws 206/20 -, |
||
b) den Beschluss des Landgerichts Rostock |
||
vom 2. Juli 2020 - 13 StVK 1137/19 (1) - |
und | Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwalts |
hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Vizepräsidentin König
und die Richter Müller,
Maidowski
am 18. August 2021 einstimmig beschlossen:
- Der Beschluss des Landgerichts Rostock vom 2. Juli 2020 - 13 StVK 1137/19 (1) - und der Beschluss des Oberlandesgerichts Rostock vom 12. November 2020 - 20 Ws 206/20 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Recht aus Artikel 19 Absatz 4 Grundgesetz und werden aufgehoben.
- Die Sache wird zur erneuten Entscheidung an das Landgericht Rostock zurückverwiesen.
- Das Land Mecklenburg-Vorpommern hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten. Damit erledigt sich der Antrag des Beschwerdeführers auf Gewährung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwalts.
Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen das Anhalten eines an den inhaftierten Beschwerdeführer adressierten Briefes.
I.
1. Mit Verfügung vom 23. Januar 2019 wurde dem Beschwerdeführer in der Justizvollzugsanstalt Bützow eine umfassende Postkontrolle gemäß § 34 Strafvollzugsgesetz Mecklenburg-Vorpommern (StVollzG M-V) wegen der unrechtmäßigen Weitergabe von Daten Mitgefangener an Dritte ohne deren Einverständnis sowie unerlaubter Rechtsberatung auferlegt. Gegen diese wandte er sich in einem anderweitigen Verfahren, das zum Zeitpunkt des Anhaltens seines Briefs anhängig war. Mit staatsanwaltlicher Verfügung vom 4. Dezember 2019 wurde das gegen den Beschwerdeführer eingeleitete Strafverfahren wegen Abfangens von Daten eingestellt. Der Landesbeauftragte für Datenschutz teilte unter dem 20. Januar 2020 mit, dass der Beschwerdeführer datenschutzrechtlich zur Weitergabe von Daten anderer Gefangener an eine Gefangenengewerkschaft aufgrund eines berechtigten Interesses befugt gewesen sei. Am 6. Oktober 2020 wurde der Beschwerdeführer in die Justizvollzugsanstalt Tegel verlegt.
2. Am 7. September 2019 schickte die Redaktionsgemeinschaft „der lichtblick“, die Redaktion einer Gefangenenzeitung, dem Beschwerdeführer per Post in einem Umschlag ein persönliches Schreiben sowie eine Mitteilung zu einer vom Beschwerdeführer erhobenen Verfassungsbeschwerde. Das persönliche Schreiben hatte folgenden Inhalt:
„Hallo A., natürlich haben wir uns gefreut, dich erneut bei uns begrüßen zu dürfen. Bei der großen Anzahl von mitgebrachten Dokumenten kommen wir erst jetzt langsam dazu die Auswertung zu beginnen. Natürlich haben wir wieder alle Originale beim Anwalt zur Aufbewahrung hinterlegt und für unsere Zwecke Kopien gefertigt. Insofern anbei deine Mitteilung als Kopie (Original beim Anwalt) zu deiner Verwendung. In Zusammenhang mit den verfassungs- und datenschutzrechtlichen Verstößen sind unsere Anwälte, aufgrund des durch eure Beamten gelieferten originalen Dienstschriftverkehrs in Vorbereitung unserer Klagen. Zu unser aller Erstaunen ist auf keinem Schriftstück so etwas wie ein Aufdruck „nur für den Dienstgebrauch“, „vertraulich“ oder die Untersagung der Kenntnisnahme des Inhalts durch „Unbefugte“. Das wird spaßig. Unsere Recherchen in Bezug auf die Verleumdung durch Mitinhaftierte, die von Bediensteten dazu angestiftet wurden, waren sehr fruchtbar. Es liegen hier zwischenzeitlich zwei eidesstattliche Erklärungen und ein Schuldanerkenntnis vor. Eigentlich fehlt nur noch, dass du als Sittich geoutet wirst, dann wäre der Kohl fett. Lass von dir hören, sobald du wieder telefonieren kannst und halte uns auf dem Laufenden über deine weiteren Schritte wegen der Strafanzeige, Dienstaufsichtsbeschwerden und Zivilklagen. Bleib kritisch und streitbar. Die Redaktionsgemeinschaft der lichtblick .“
3. Am 10. September 2019 wurde der Brief durch die Justizvollzugsanstalt kontrolliert und das persönliche Schreiben angehalten. Dem Beschwerdeführer wurden nur der Umschlag sowie die Mitteilung zu seiner Verfassungsbeschwerde ausgehändigt. Am 20. September 2019 teilte die Justizvollzugsanstalt Bützow der Redaktionsgemeinschaft mit, dass der Brief in Teilen angehalten worden sei. Das Schreiben erfülle die Tatbestandsvoraussetzungen nach § 35 Abs. 1 Nr. 3 StVollzG M-V. Nach dieser Vorschrift können Schreiben angehalten werden, wenn „sie grob unrichtige oder erheblich entstellende Darstellungen von Anstaltsverhältnissen oder grobe Beleidigungen enthalten“. Gemäß § 35 Abs. 3 StVollzG M-V werde das angehaltene Schreiben dem Absender zurückgegeben.
4. Mit Schreiben vom 26. September 2019 beantragte der Beschwerdeführer eine gerichtliche Entscheidung und begehrte die Feststellung, dass das Anhalten des Briefes rechtswidrig, ermessensfehlerhaft und verfassungswidrig sei. Es verletze seine Meinungsfreiheit und die allgemeine Informationsfreiheit. Eine Gefahr für die Sicherheit und Ordnung liege nicht vor.
5. Unter dem 7. Oktober 2019 wies das Landgericht darauf hin, dass dem Beschwerdeführer bereits wiederholt mitgeteilt worden sei, dass seine Anträge bezüglich der Kontrolle einzelner Schriftstücke und des damit einhergehenden Anhaltens der Post wegen doppelter Rechtshängigkeit unzulässig seien. Der Verfahrensgegenstand sei bereits von seinem anhängigen (weiteren) Antragsverfahren gegen die Postkontrolle umfasst.
6. In weiteren Schreiben führte der Beschwerdeführer aus, dass die Voraussetzungen des § 35 Abs. 1 Nr. 1 oder Nr. 3 StVollzG M-V weder vorlägen noch einzeln begründet worden seien. Auch weshalb die Presse „als gefährlich“ qualifiziert werde, sei nicht begründet worden. Dem Inhalt des angehaltenen Schreibens könne auch keine Rechtsberatung entnommen werden. Es liege deshalb „ein neuer Fall“ vor, über dessen Rechtmäßigkeit das Gericht entscheiden müsse.
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