Beschluss vom 20. April 2017 - 2 BvR 1754/14
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2017:rk20170420.2bvr175414 |
Judgement Number | 2 BvR 1754/14 |
Citation | BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 20. April 2017 - 2 BvR 1754/14 - Rn. (1-52), |
Date | 20 Abril 2017 |
Court | Constitutional Court (Germany) |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 1754/14 -
über
die Verfassungsbeschwerde
der Frau L..., |
gegen |
a) |
den Beschluss des Landgerichts Stralsund vom 20. Januar 2014 - 1 T 8/14 -, |
b) |
den Beschluss des Amtsgerichts Wolgast vom 17. Februar 2012 - 57 XIV 1/11 -, |
|
c) |
die gegen die Beschwerdeführerin durch die Bundespolizei nach § 39 Abs. 1 Nr. 3 BPolG angeordnete und vollzogene Freiheitsentziehung am 16. Dezember 2010 |
hat die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Richter Huber
und die Richterinnen Kessal-Wulf,
König
am 20. April 2017 einstimmig beschlossen:
- Der Beschluss des Landgerichts Stralsund vom 20. Januar 2014 - 1 T 8/14 - verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Recht aus Artikel 19 Absatz 4 Satz 1 des Grundgesetzes. Er wird aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht Stralsund zurückverwiesen.
- Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.
- Das Land Mecklenburg-Vorpommern hat der Beschwerdeführerin ihre notwendigen Auslagen zu erstatten.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die gerichtliche Kontrolle einer präventiven Ingewahrsamnahme der Beschwerdeführerin aufgrund von § 39 Abs. 1 Nr. 3 BPolG während eines Castor-Transports.
I.
1. Nach eigenen Angaben war die Beschwerdeführerin französische Meisterin im Sportklettern und nutzt ihre Fähigkeiten, um mit Kletteraktionen ihren Protest gegen Atomkraft zum Ausdruck zu bringen.
Am 16. Dezember 2010 gegen 8:30 Uhr, während eines Castor-Transports in das Zwischenlager Lubmin, begab sich die Beschwerdeführerin in einer Achter-Gruppe an den für den Transport vorgesehenen Gleisabschnitt Greifswald-Lubmin und bestieg - wie drei weitere Personen - mit Seilen gesichert einen in Nähe der Gleise befindlichen Baum. Dass auch die übrigen Angehörigen der Gruppe auf nahegelegene Bäume kletterten, konnte von der Polizei verhindert werden. Um 10:30 Uhr traf eine Spezialeinheit der Polizei ein, um die Beschwerdeführerin zu bergen. Die „Kletteraktivisten“ hatten zu diesem Zeitpunkt ein Transparent entrollt und sangen „Anti-Atomkraft-Lieder“. Als die Beschwerdeführerin auch nach Auflösung der Versammlung nicht vom Baum kletterte, wurde sie gegen 12:00 Uhr von der Spezialeinheit wieder auf den Boden geholt und in Gewahrsam genommen. Ihre Kletterausrüstung wurde sichergestellt. Gegen 14:00 Uhr traf sie in der Gefangenensammelstelle in Wolgast ein. Die Sammelstelle war in einer Lagerhalle eingerichtet worden, die mit Hilfe von hohen Gittern in einzelne Zellen unterteilt worden war. Gegen 20:00 Uhr kletterte die Beschwerdeführerin, um auf ihre Situation aufmerksam zu machen, an den Verstrebungen der Halle nach oben. Nachdem sie gegen 20:35 Uhr in ihre Zelle zurückgekehrt war, wurde sie gegen 20:50 Uhr entlassen. Eine richterliche Entscheidung wurde nicht eingeholt.
2. a) Die Beschwerdeführerin beantragte beim Amtsgericht Wolgast die Feststellung, dass die Ingewahrsamnahme sowohl dem Grunde nach als auch hinsichtlich der Art und Weise rechtswidrig gewesen sei.
Der Baum, den sie bestiegen habe, habe sich nicht auf der Bahnanlage, sondern außerhalb des in der Eisenbahnordnung definierten „Regellichtraums“ befunden. Sie habe dort lediglich Lieder gesungen und Fragen von Reportern beantwortet. Nachdem die Polizei sie vom Baum geholt habe, sei ihre Kletterausrüstung beschlagnahmt worden. In der Sammelstelle seien die Gefangenen „in Käfigen“ untergebracht worden. In der Halle sei es sehr laut und dauerbeleuchtet gewesen, sodass sie keine Ruhe habe finden können. Zum Essen sei „nur Wurst“, nichts Vegetarisches gereicht worden. Ihr Rucksack sei trotz der darin befindlichen Ausweispapiere einer anderen Person zugeordnet worden. Das darin mitgebrachte Essen habe sie deshalb erst nach mehrmaliger Forderung gegen 18:30 Uhr erhalten. Auf ihre wiederholte Frage nach einer richterlichen Entscheidung habe sie nur vage Antworten erhalten. Aus Protest gegen die Umstände des Gewahrsams sei sie an die Hallendecke geklettert. Nachdem sie wieder heruntergekommen sei, habe sich ihre Freilassung dadurch verzögert, dass die Polizei die beschlagnahmte Kletterausrüstung nicht habe finden können. Die Versammlung der „Kletteraktivisten“ sei nicht ordnungsgemäß aufgelöst, sondern von den sofort bei Eintreffen der Aktivisten herbeigeeilten Polizisten „gesprengt“ worden.
Ihre „Kletteraktion“ habe keine Gefahr für die Allgemeinheit begründet, weil „Aktionen mit Einsatz von Klettertechnik an und oberhalb der Bahnlinie außerhalb des Regellichtraumes“ weder eine Straftat noch eine Ordnungswidrigkeit darstellten. Auch sie selbst sei nicht gefährdet gewesen, weil sie durch Seile gesichert gewesen sei. Selbst wenn die Begehung einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit unmittelbar bevorgestanden hätte, wäre die Ingewahsamnahme zu deren Verhinderung nicht „unerlässlich“ im Sinne der polizeirechtlichen Ermächtigungsgrundlage gewesen. Die Beschwerdeführerin sei „amtsbekannt“. Deshalb wisse die Polizei, dass sie sich friedlich verhalte und sich stets professionell sichere. Nachdem ihre Kletterausrüstung beschlagnahmt war, habe ihr kein Sicherungsmaterial mehr zur Verfügung gestanden. Auf die Schnelle bis zur Durchfahrt des Zuges eine neue Ausrüstung zu besorgen, wäre nicht möglich gewesen. Als milderes Mittel hätte deshalb die Sicherstellung der Kletterausrüstung verbunden mit einem Platzverweis ausgereicht. Schließlich sei gegen den Richtervorbehalt und das Unverzüglichkeitsgebot verstoßen worden. Um Einhaltung dieser grundgesetzlichen Vorgaben habe sich die Polizei nicht einmal bemüht.
b) Mit angegriffenem Beschluss vom 17. Februar 2012 stellte das Amtsgericht - nach Anhörung der Beschwerdeführerin - fest, dass ihre Ingewahrsamnahme in der Zeit von 17:00 bis 20:00 Uhr rechtswidrig gewesen sei. Im Übrigen wies es den Antrag zurück.
Die Ingewahrsamnahme der Beschwerdeführerin sei im Sinne des § 39 Abs. 1 Nr. 3 BPolG unerlässlich gewesen, um die unmittelbar bevorstehende Begehung oder Fortsetzung einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit von erheblicher Bedeutung für die Allgemeinheit zu verhindern. Die acht Personen, zu denen die Beschwerdeführerin gehört habe, hätten eine umfangreiche Kletterausrüstung bei sich getragen. Aus der Art und Weise ihres Auftretens, insbesondere dem Ort des Geschehens, habe die Polizei schließen können, dass es ihnen darauf angekommen sei, den herannahenden Zug anzuhalten oder zumindest so lange wie möglich zu verzögern. Aus polizeilicher Vorsicht sei es geboten gewesen anzunehmen, dass sich die Gruppe nicht auf plakative Aktionen wie das Entrollen von Transparenten beschränken würde, sondern die mitgeführte Ausrüstung nutzen werde, um am Bahnkörper Hindernisse zu bereiten. Dies hätte den Tatbestand des § 315 Abs. 1 StGB erfüllt. Die Beschwerdeführerin könne sich nicht auf Art. 8 GG berufen. Es könne dahingestellt bleiben, ob die Beschwerdeführerin sich überhaupt friedlich habe versammeln wollen. Jedenfalls sei die Versammlung der acht Aktivisten nach § 15 Abs. 1 und 3 VersG aufgelöst worden. Ein milderes Mittel als die Ingewahrsamnahme habe der Polizei nicht zur Verfügung gestanden, um die Gefahr abzuwenden. Ein Platzverweis hätte nicht ausgereicht. Den Polizisten sei bekannt gewesen, dass die Beschwerdeführerin gegen den Transport war und sich trotz widriger Witterungsverhältnisse an das Gleis begeben hatte, um unter Einsatz ihres Körpers die Fahrt des Zuges zu stoppen oder zu verzögern. Es sei daher naheliegend gewesen anzunehmen, dass sie trotz eines Platzverweises erneut versuchen würde, das Gleis zu erreichen. Ob sie dies tatsächlich mit oder ohne weitere Kletterausrüstung vorgehabt habe, sei unerheblich.
Die Rüge der Zustände in der Gefangenensammelstelle sei unbegründet. Der Richter habe die Einrichtung selbst am Vortag besichtigt. Er könne bestätigen, dass die Abtrennungen mit Gittern den Untergebrachten keine persönliche Abgeschiedenheit erlaubt hätten, dies sei für den wenige Stunden dauernden Aufenthalt aber zumutbar. Eine speziell auf ihre Wünsche ausgerichtete Ernährung habe die Beschwerdeführerin nicht erwarten können.
Allerdings sei nicht erkennbar, warum die Beschwerdeführerin nach ihrem Eintreffen in der Gefangenensammelstelle entgegen § 40 BPolG nicht unverzüglich einem Richter vorgeführt worden sei. Unter normalen Umständen werde eine Zeit von zwei bis drei Stunden als ausreichend angesehen, um einen Antrag an das zuständige Amtsgericht zu stellen. Angesichts der besonderen Umstände wäre im Fall der Beschwerdeführerin auch eine Vorführung bis 17:00 Uhr noch als unverzüglich anzusehen gewesen. Denn zunächst habe die Beschwerdeführerin selbst ihre Vorführung vor einen Richter verzögert, indem sie den Baum nicht freiwillig verlassen, sondern sich von der Polizei habe herunterholen lassen. Eine weitere Verzögerung habe sich nach der Stellungnahme der Bundespolizei aus einem Widerstandsakt eines weiteren Mitglieds der Gruppe ergeben. Schließlich hätten die gerichtsbekannten schlechten Wetterverhältnisse den Transport der Beschwerdeführerin in die Gefangenensammelstelle verzögert. Lege man dann für die Aufnahme der Beschwerdeführerin in der Sammelstelle, ihre Vernehmung und die Antragstellung bei Gericht eine weitere Stunde zugrunde, hätte bis 17:00 Uhr ein Antrag an das Amtsgericht gestellt werden können. Eine rechtswidrige Ingewahrsamnahme der Beschwerdeführerin liege nicht mehr vor, solange sie aus ihrer Zelle entwichen sei und...
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