Beschluss vom 21.01.2019 - BVerwG 6 B 120.18

JurisdictionGermany
Judgment Date21 Enero 2019
Neutral CitationBVerwG 6 B 120.18
ECLIDE:BVerwG:2019:210119B6B120.18.0
CitationBVerwG, Beschluss vom 21.01.2019 - 6 B 120.18
Registration Date20 Febrero 2019
CourtDas Bundesverwaltungsgericht
Record Number210119B6B120.18.0

BVerwG 6 B 120.18

  • VG Stuttgart - 25.09.2014 - AZ: VG 1 K 1879/13
  • VGH Mannheim - 13.02.2018 - AZ: VGH 1 S 1468/17

In der Verwaltungsstreitsache hat der 6. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 21. Januar 2019
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Kraft, den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Heitz sowie
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Steiner
beschlossen:

  1. Die Beschwerden des Klägers und der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 13. Februar 2018 werden zurückgewiesen.
  2. Von den Kosten des Beschwerdeverfahrens trägt der Kläger vier Fünftel und die Beklagte ein Fünftel.
  3. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 6 250 € festgesetzt.
Gründe I

1 Der Kläger wurde im April 2013 im Freiburger Hauptbahnhof von Beamten der Bundespolizei einer Personenkontrolle unterzogen. Seine auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der dabei getroffenen polizeilichen Maßnahmen gerichtete Klage hatte vor dem Verwaltungsgericht keinen Erfolg. In Berufungsverfahren hat der Verwaltungsgerichtshof festgestellt, dass die Identitätsfeststellung, die Anwendung unmittelbaren Zwangs, der Datenabgleich und die Durchsuchung des Rucksacks im Rahmen einer Schleierfahndung rechtswidrig waren. Demgegenüber hat das Berufungsgericht die Aufforderung der Beamten an den Kläger, seine Hosentaschen zu leeren und die Betrachtung der vorgezeigten Gegenstände als Maßnahme der Eigensicherung für rechtmäßig erachtet und die Klage insoweit abgewiesen. Der Verwaltungsgerichtshof hat die Revision gegen sein Urteil nicht zugelassen. Dagegen wenden sich der Kläger und die Beklagte mit der Beschwerde.

II

2 Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision hat keinen Erfolg, da die geltend gemachten Zulassungsgründe der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) sowie des Vorliegens von Verfahrensmängeln (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) nicht durchgreifen (1.). Die auf die Grundsatzbedeutung der Anforderungen des sofortigen Vollzugs nach § 6 Abs. 2 VwVG gestützte Beschwerde der Beklagten hat wegen offensichtlicher Ergebnisrichtigkeit, § 144 Abs. 4 VwGO analog, keinen Erfolg (2.).

3 1. a) Die vom Kläger erhobenen Verfahrensrügen greifen nicht, denn sein Vorbringen belegt keinen Verfahrensmangel, auf dem die Entscheidung beruhen kann (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO).

4 (1) Die Beschwerde rügt zunächst, der Verwaltungsgerichtshof habe durch die Nichtzulassung der Revision gegen den Grundsatz des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) verstoßen. Er hätte mangels höchstrichterlicher Rechtsprechung zur Durchsuchung aus Eigensicherungsgründen die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung zulassen müssen. Das trifft nicht zu.

5 Die Beschwerde verkennt, dass mit "Entscheidung" in § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO die gerichtliche Entscheidung in der Sache selbst und nicht die vom Berufungsgericht darüber hinaus zu treffenden Nebenentscheidungen gemeint sind (BVerwG, Beschlüsse vom 12. Juni 1989 - 7 B 123.88 - NVwZ 1989, 975 <976> und vom 30. Juli 1990 - 7 B 104.90 - NJW 1991, 190). Eine Verkürzung des Rechtsschutzes ist damit nicht verbunden, denn das Bundesverwaltungsgericht hat bei seiner Entscheidung die geltend gemachten Zulassungsgründe eigenverantwortlich zu überprüfen (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 13. Oktober 2015 - 9 B 31.15 [ECLI:​DE:​BVerwG:​2015:​131015B9B31.15.0] - juris Rn. 9 und vom 7. März 2017 - 6 B 53.16 [ECLI:​DE:​BVerwG:​2017:​070317B6B53.16.0] - NVwZ-RR 2017, 468 Rn. 9).

6 (2) Einen weiteren Verstoß gegen den Grundsatz des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) erblickt die Beschwerde darin, dass der Verwaltungsgerichtshof mangels Zulassung der Revision als letztentscheidendes Gericht seine Vorlagepflicht aus Art. 267 AEUV verletzt habe. Dem Berufungsgericht hätte sich die Frage aufdrängen müssen, ob nicht auch die zum Zwecke der Eigensicherung durchgeführte "Hosentaschendurchsuchung" wegen des Rechtswidrigkeitszusammenhangs zu den als europarechtswidrig beurteilten Maßnahmen der sog. Schleierfahndung im Grenzgebiet in den Anwendungsbereich des Art. 67 Abs. 2 AEUV und dem damals noch geltenden Schengener Grenzkodex gefallen und deshalb ebenso unzulässig gewesen sei. Dieses Vorbringen führt nicht auf einen Verfahrensmangel.

7 Der Umstand, dass das Berufungsgericht keine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union über die vom Kläger aufgeworfene unionsrechtliche Frage eingeholt hat, kann nicht mit Erfolg als Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG gerügt werden. Art. 267 Abs. 3 AEUV verpflichtet das Berufungsgericht zur Anrufung des Gerichtshofs der Europäischen Union nur für den Fall, dass seine Entscheidung mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts nicht weiter angefochten werden kann. Bei der statthaften Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision nach § 133 Abs. 1 VwGO handelt es sich jedoch um ein derartiges Rechtsmittel (BVerwG, Beschlüsse vom 12. Oktober 2010 - 7 B 22.10 - juris Rn. 9 und vom 25. Januar 2018 - 6 B 38.18 [ECLI:​DE:​BVerwG:​2018:​250118B6B38.18.0] - juris Rn. 11).

8 (3) Die Gehörsrüge, mit der der Kläger das Vorliegen einer Überraschungsentscheidung geltend macht, da die Rechtsgrundlage für die "Hosentaschendurchsuchung" und deren Verhältnismäßigkeit nicht erörtert worden sei, hat keinen Erfolg.

9 Art. 103 Abs. 1 GG und § 108 Abs. 2 VwGO verpflichten das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Die Beteiligten müssen Gelegenheit erhalten, sich zu allen entscheidungserheblichen Tatsachen und Rechtsfragen äußern zu können. Der Anspruch auf rechtliches Gehör begründet indessen grundsätzlich keine Pflicht des Gerichts, den Beteiligten seine Auffassung vor dem Ergehen einer Entscheidung zu offenbaren. Denn die tatsächliche und rechtliche Würdigung des Prozessstoffs ergibt sich regelmäßig erst aufgrund der abschließenden Beratung. Eine Überraschungsentscheidung und damit ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG liegt deshalb erst dann vor, wenn das Gericht einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung macht und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf - selbst unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen - nicht zu rechnen brauchte (BVerwG, Urteil vom 31. Juli 2013 - 6 C 9.12 - Buchholz 421.2 Hochschulrecht Nr. 180 Rn. 38; Beschluss vom 29. Juni 2011 - 6 B 7.11 - Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 410 Rn. 8).

10 Diese Voraussetzungen sind hier schon deshalb nicht gegeben, da die Frage der richtigen Rechtsgrundlage für die polizeiliche Aufforderung, die Hosentaschen zu leeren, im Berufungsverfahren von der Beklagten (Schriftsatz der Beklagten vom 2. August 2017, S. 25 ff. = GA Bl. 947 ff.) und nach eigenem Bekunden des Klägers seitens des Gerichts in der Berufungsverhandlung angesprochen worden ist. Die Beschwerde überspannt die Reichweite gerichtlicher Hinweispflichten gegenüber den Beteiligten, wenn sie insoweit detailliertere Hinweise des Gerichts vor der abschließenden Beratung verlangt. Mit der Frage, ob die Aufforderung, den Inhalt der Hosentaschen vorzuweisen, das mildeste Mittel darstellte, hat sich das Berufungsgericht in seinem Urteil befasst (UA S. 46).

11 (4) Die Rüge, das...

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