Beschluss vom 21. Mai 2024 - 2 BvR 1694/23
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2024:rk20240521.2bvr169423 |
Judgement Number | 2 BvR 1694/23 |
Date | 21 Mayo 2024 |
Citation | BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 21. Mai 2024 - 2 BvR 1694/23 -, Rn. 1-71, |
Court | Constitutional Court (Germany) |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 1694/23 -
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn (…), |
- Bevollmächtigter:
-
(…),
gegen |
a) |
den Beschluss des Oberlandesgerichts Braunschweig vom 24. November 2023 - 1 AR (Ausl.) 19/22 -, |
b) |
die Verbalnote des Auswärtigen Amtes vom 9. November 2023 - 506-531.00/61139 TUR -, |
|
c) |
den Beschluss des Oberlandesgerichts Braunschweig vom 1. November 2023 - 1 AR (Ausl.) 19/22 -, |
|
d) |
den Beschluss des Oberlandesgerichts Braunschweig vom 13. März 2023 - 1 AR (Ausl.) 19/22 - |
und | Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung |
hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Vizepräsidentin König
und die Richter Offenloch,
Wöckel
gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung
vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473)
am 21. Mai 2024 einstimmig beschlossen:
- Die Beschlüsse des Oberlandesgerichts Braunschweig vom 13. März 2023 - 1 AR (Ausl.) 19/22 - und 1. November 2023 - 1 AR (Ausl.) 19/22 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 19 Absatz 4 Satz 1 Grundgesetz, soweit dessen Auslieferung an die türkischen Justizbehörden für zulässig erklärt wurde; sie werden in diesem Umfang aufgehoben.
- Der Beschluss des Oberlandesgerichts Braunschweig vom 1. November 2023 - 1 AR (Ausl.) 19/22 - im Übrigen und der Beschluss des Oberlandesgerichts Braunschweig vom 24. November 2023 - 1 AR (Ausl.) 19/22 - werden insoweit gegenstandslos.
- Die Sache wird im Umfang der Aufhebung an das Oberlandesgericht Braunschweig zurückverwiesen.
- Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.
- Das Land Niedersachsen hat dem Beschwerdeführer zwei Drittel der notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren sowie der notwendigen Auslagen für das Verfahren über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu erstatten.
- Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird für das Verfassungsbeschwerdeverfahren auf 15.000 (in Worten: fünfzehntausend) Euro und für das einstweilige Anordnungsverfahren auf 7.500 (in Worten: siebentausendfünfhundert) Euro festgesetzt.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Auslieferung eines türkischen Staatsangehörigen zum Zwecke der Strafvollstreckung an die Republik Türkei.
I.
1. Dem Auslieferungsverfahren liegen insgesamt vier Verurteilungen des Beschwerdeführers zugrunde.
Mit Urteil des 12. Strafgerichts erster Instanz von Bakirköy vom 16. April 2015 wurde der Beschwerdeführer zu einer Geldstrafe in Höhe von 10.600,00 TL wegen Diebstahls verurteilt.
Das 2. Strafgericht erster Instanz von Silivri verurteilte ihn am 25. November 2015, bestätigt durch den Beschluss der 2. Strafkammer des Kassationsgerichts vom 17. November 2020, zu neun Jahren Freiheitsstrafe wegen „Qualifizierten Diebstahls“. Die tatsächlich zu verbüßende Freiheitsstrafe wurde auf fünf Jahre, neun Monate und zwei Tage festgelegt.
Mit Urteil des 21. Strafgerichts erster Instanz von Küçükçekmece vom 20. Februar 2019 wurde er zu vier Jahren und zwei Monaten Freiheitsstrafe ebenfalls wegen „Qualifizierten Diebstahls“ verurteilt. Die tatsächlich zu verbüßende Freiheitsstrafe wurde auf zwei Jahre, neun Monate und dreizehn Tage festgelegt.
Schließlich verurteilte ihn das 11. Strafgericht erster Instanz von Küçükçekmece am 28. Mai 2019 erneut wegen „Qualifizierten Diebstahls“. Die tatsächlich zu verbüßende Freiheitsstrafe wurde auf ein Jahr festgelegt.
Bei einer späteren Gesamtstrafenbildung durch Beschluss des 2. Vollstreckungsgerichts von Silivri vom 21. März 2022 wurden die der Geldstrafe zugrundeliegenden 530 Tages- sätze in die Berechnung eingestellt, in eine Ersatzfreiheitsstrafe umgewandelt und eine zu verbüßende Gesamtfreiheitsstrafe von fünfzehn Jahren, zwei Monaten und 530 Tagen festgelegt. Die tatsächlich zu verbüßende Gesamtfreiheitsstrafe wurde auf zehn Jahre, elf Monate und 545 Tage bestimmt.
2. Mit Urteil des Landgerichts Braunschweig vom 7. Februar 2019 wurde der Beschwerdeführer in anderer Sache zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt, und es wurde die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet. Nach seinem Aufenthalt in der Entziehungsanstalt befand er sich in der stationären Unterbringung im Maßregelvollzugszentrum Niedersachsen.
3. Die Republik Türkei ersuchte mit Verbalnote vom 27. Juli 2022 die deutschen Behörden um Auslieferung des Beschwerdeführers. Nach den Angaben in der Übersetzung des Auslieferungsersuchens wurden die Urteile des 12. Strafgerichts erster Instanz von Bakirköy sowie des 21. und 11. Strafgerichts erster Instanz von Küçükçekmece in Abwesenheit des Beschwerdeführers verkündet.
4. Auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft ordnete das Oberlandesgericht Braunschweig am 23. August 2022 gegen den Beschwerdeführer die förmliche Auslieferungshaft an. Der Haftbefehl wurde nach der Entlassung des Beschwerdeführers aus dem Maßregelvollzug am 23. Februar 2023 in Vollzug gesetzt und der Beschwerdeführer in den Justizvollzugsanstalten Rosdorf und Wolfenbüttel inhaftiert.
5. Das Auswärtige Amt ersuchte mit Verbalnote vom 23. August 2022 die Botschaft der Republik Türkei um Übermittlung ausdrücklicher, völkerrechtlich verbindlicher und auf den Einzelfall bezogener Zusicherungen, dass der Beschwerdeführer im Falle seiner Auslieferung für die Dauer seiner Inhaftierung in einem Gefängnis inhaftiert werde, das den Anforderungen nach Art. 3 EMRK und den in den europäischen Strafvollzugsgrundsätzen des Ministerkomitees des Europarates festgelegten Mindeststandards entspreche, und er keiner Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK unterworfen werde. Die türkischen Behörden würden um Übermittlung einer ausdrücklichen und auf den Einzelfall bezogenen Zusicherung gebeten, dass der Beschwerdeführer im Falle seiner Auslieferung für die Dauer seiner Inhaftierung in der Justizvollzugsanstalt Yalvaç inhaftiert werde. Zudem wurde unter anderem um Auskunft gebeten, in welchem Umfang der Beschwerdeführer in den den Verurteilungen zugrundeliegenden Verhandlungen anwesend oder durch einen Verteidiger vertreten gewesen sei, ob ihm das Recht auf ein neues Verfahren eingeräumt werde, soweit die Urteile in seiner Abwesenheit ergangen seien, und ob ihm der Beschluss über die Bildung der Gesamtstrafe vom 21. März 2022 bekanntgemacht worden sei.
6. Mit Verbalnote vom 5. Oktober 2022 teilte die Botschaft der Republik Türkei mit, dass der Beschwerdeführer im Falle seiner Auslieferung in der Justizvollzugsanstalt Yalvaç untergebracht werde. Das Justizministerium der Republik Türkei sichere ausdrücklich zu, dass der Beschwerdeführer nach seiner Auslieferung für die Dauer seiner Inhaftierung in einer Justizvollzugsanstalt inhaftiert werde, die den Anforderungen nach Art. 3 EMRK und den in den europäischen Strafvollzugsgrundsätzen des Ministerkomitees des Europarates festgelegten Mindeststandards entspreche, und er keiner Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK unterworfen werde. Der für den Ort der Inhaftierung zuständigen deutschen Auslandsvertretung werde die Möglichkeit eingeräumt, den Beschwerdeführer zu besuchen und sich vor Ort über die bestehenden Verhältnisse zu informieren. Der Verbalnote war ein Schreiben der Staatsanwaltschaft Silivri vom 6. September 2022 beigefügt, in dem zu der Frage der Anwesenheit des Beschwerdeführers während der Gerichtsverfahren erklärt wurde, die Urteile des 12. Strafgerichts erster Instanz von Bakirköy und des 2. Strafgerichts erster Instanz von Silivri seien ihm „ins Gesicht gesprochen“ worden. Die beiden anderen Verurteilungen seien in seiner Abwesenheit erfolgt.
7. Der Beschwerdeführer machte mit Schriftsatz vom 2. November 2022 an das Oberlandesgericht geltend, von den dem Auslieferungsersuchen zugrundliegenden Urteilen keine Kenntnis gehabt zu haben. Sie seien unter Verstoß gegen Art. 6 EMRK zustande gekommen, da sie in seiner Abwesenheit ergangen seien und er auch nie eine förmliche Ladung erhalten habe. Zudem habe er die ihm vorgeworfenen Straftaten nicht begehen können, da er in den Jahren 2014 bis 2016 in der Türkei inhaftiert gewesen sei. Des Weiteren sei er behandlungsbedürftig psychisch krank. Die Straftaten erklärten sich alle aus seiner Drogenabhängigkeit. Er gehe davon aus, in der Türkei keine adäquate Behandlung erfahren zu können.
8. Mit Verbalnote vom 22. November 2022 erbat das Auswärtige Amt bei der Republik Türkei Auskünfte zum Aufenthaltsort des Beschwerdeführers in der Zeit von Dezember 2014 bis März 2016 und zu Haftaufenthalten in der Türkei. An die Beantwortung dieser Verbalnote erinnerte das Auswärtige Amt mit Verbalnote vom 7. Februar 2023 und bat zugleich um Mitteilung der Möglichkeiten der psychologischen Betreuung in der Haftanstalt Yalvaç. Beide Verbalnoten blieben unbeantwortet.
9. Am 28. Januar 2023 unternahm der Beschwerdeführer im Maßregelvollzugszentrum einen Suizidversuch. Er übergoss sich mit Rasierwasser und zündete sich selbst an. Er wurde von Mitarbeitern und Insassen zu Boden gebracht und das Feuer mittels eines Feuerlöschers...
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