Beschluss vom 21. Mai 1996 - 2 BvE 1/95
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:1996:es19960521.2bve000195 |
Judgement Number | 2 BvE 1/95 |
Citation | BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 21. Mai 1996 - 2 BvE 1/95 - Rn. (1-113), |
Date | 21 Mayo 1996 |
Court | Constitutional Court (Germany) |
L e i t s ä t z e
zum Beschluß des Zweiten Senats vom 21. Mai 1996
- 2 BvE 1/95 -
- a) Der verfassungsrechtliche Status eines Abgeordneten ist auch berührt, wenn die Legitimität seines Mandats im Rahmen einer Kollegialenquete in Abrede gestellt wird. Er gestattet nur in Ausnahmefällen die Einführung eines Verfahrens, mit dem der Bundestag zur Wahrung seiner Integrität und politischen Vertrauenswürdigkeit ein der Wahl vorausliegendes Verhalten von Abgeordneten untersuchen will
- b) Der Bundestag durfte als Folge des Übergangs von der Diktatur zur Demokratie in den neuen Ländern der Bundesrepublik ein Verfahren einführen, durch das Abgeordnete unter bestimmten Voraussetzungen auf ihre frühere Tätigkeit oder Verantwortung für das MfS/AfNS überprüft werden.
- Ein solches Verfahren muß von Verfassungs wegen Sicherungen zum Schutz des Abgeordnetenstatus enthalten. Dem betroffenen Abgeordneten müssen Beteiligungsrechte eingeräumt sein, die ihm gestatten, aktiv an der Herstellung des Beweisergebnisses mitzuwirken. Die abschließende Auskunft über den ermittelten Sachverhalt muß der Eigenart des gewählten Verfahrens sowie der zugelassenen Beweismittel Rechnung tragen
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvE 1/95 -
I. |
die Anträge festzustellen: Die Antragsgegner verletzen die Rechte des Antragstellers aus Artikel 38 Absatz 1 Satz 2 Grundgesetz und die Rechtsstaatlichkeit, |
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1. |
durch die Regelung und Ausgestaltung eines Verfahrens zur Überprüfung von Abgeordneten auf eine Tätigkeit für den Staatssicherheitsdienst der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik durch § 44b Abgeordnetengesetz sowie ergänzende Richtlinien und eine Absprache; |
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2. |
indem sie ein Verfahren gemäß § 44b Abgeordnetengesetz gegen den Antragsteller durchführen; |
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3. |
indem der Antragsgegner zu 2. am 2. Juni 1995 beschloß, die auf die Person des Antragstellers bezogene gutachterliche Stellungnahme des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik allen interessierten Presseorganen und Einzelpersonen zugänglich zu machen; |
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4. |
a) indem einzelne Mitglieder des Antragsgegners zu 2. direkt und indirekt Einfluß auf die Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik genommen haben, als von dieser im Auftrage der Antragsgegner eine gutachterliche Stellungnahme zur Person des Antragstellers erarbeitet wurde; |
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b) |
indem Mitglieder des Antragsgegners zu 2. und dessen Vorsitzender inhaltlich vor der Presse der gutachterlichen Stellungnahme Seriosität, ordnungsgemäße Verfahrensweise, Kompetenz und Sorgfalt zuerkannten, bevor der Antragsteller dazu Stellung nehmen konnte, und dadurch eine Vorverurteilung des Antragstellers aussprachen; |
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c) |
indem Mitglieder des Antragsgegners zu 1. den Antragsteller im Hinblick auf die gutachterliche Stellungnahme des Bundesbeauftragten aufgefordert haben, sein Abgeordnetenmandat niederzulegen oder ihm den Rücktritt nahegelegt haben oder erklärt haben, er habe sich als ungeeignet erwiesen, Politiker zu sein, bevor der Antragsteller Stellung nehmen konnte und bevor der Antragsgegner zu 2. als zuständiger Ausschuß über die von ihm zu treffenden Feststellungen beraten hatte; |
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II. |
den Antrag, im Wege des Erlasses einer einstweiligen Anordnung |
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das Ruhen des gegen den Antragsteller eingeleiteten Verfahrens gemäß § 44b Abgeordnetengesetz bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in der Hauptsache und die Geheimhaltung aller im Verfahren gemäß § 44b Abgeordnetengesetz gegen den Antragsteller gesammelten Informationen und Unterlagen durch den Antragsgegner zu 2. und seine Mitglieder anzuordnen. |
Antragsteller: |
Dr. Gregor G y s i , MdB, Walter-Flex-Straße 3, Bonn |
- Bevollmächtigter:
Prof. Dr. Helmut Rittstieg, Klein Flottbeker Weg 66, Hamburg -
Antragsgegner: |
1. |
Deutscher Bundestag, vertreten durch die Präsidentin, Bundeshaus, Görresstraße 15, Bonn, |
2. |
Ausschuß des Deutschen Bundestages für Immunität, Wahlprüfung und Geschäftsordnung, vertreten durch den Vorsitzenden, ebenda |
- Bevollmächtigter zu 1. und 2.: Prof. Dr. Wolfgang Löwer, Hobsweg 15, Bonn -
hat das Bundesverfassungsgericht - Zweiter Senat - unter Mit-wirkung der Richterinnen und Richter
Präsidentin Limbach,
Graßhof,
Kruis,
Kirchhof,
Winter,
Sommer,
Jentsch,
Hassemer
am 21. Mai 1996 beschlossen:
- Der Antrag zu I. 2. wird zurückgewiesen.
- Im übrigen werden die Anträge zu I. als unzulässig verworfen.
- Damit erledigt sich der Antrag zu II.
A.
Der Organstreit betrifft die Frage, ob das Verfahren nach § 44b Abs. 2 AbgG zur Überprüfung von Bundestagsabgeordneten auf eine Tätigkeit oder politische Verantwortung für den Staatssicherheitsdienst der DDR mit den Rechten der betroffenen Abgeordneten aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG vereinbar ist.
I.
1. a) Das Gesetz über die Rechtsverhältnisse der Mitglieder des Deutschen Bundestages (Abgeordnetengesetz - AbgG) vom 18. Februar 1977 (BGBl I S. 297) wurde durch Gesetz vom 20. Januar 1992 (BGBl I S. 67) um folgende Regelung ergänzt:
§ 44b AbgG
(1) Mitglieder des Bundestages können beim Präsidenten schriftlich die Überprüfung auf eine hauptamtliche oder inoffizielle Tätigkeit oder politische Verantwortung für den Staatssicherheitsdienst der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik beantragen.
(2) Eine Überprüfung findet ohne Zustimmung statt, wenn der Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung das Vorliegen von konkreten Anhaltspunkten für den Verdacht einer solchen Tätigkeit oder Verantwortung festgestellt hat.
(3) Das Verfahren wird in den Fällen der Absätze 1 und 2 vom Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung durchgeführt.
(4) Das Verfahren zur Feststellung einer Tätigkeit oder Verantwortung für das Ministerium für Staatssicherheit/Amt für Nationale Sicherheit der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik legt der Deutsche Bundestag in Richtlinien fest.
b) Die Richtlinien zur Überprüfung auf eine Tätigkeit oder politische Verantwortung für das Ministerium für Staatssicherheit/Amt für Nationale Sicherheit der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (im folgenden: Richtlinien) wurden vom 12. Deutschen Bundestag zusammen mit der Gesetzesänderung beschlossen. Der 13. Deutsche Bundestag übernahm sie unverändert mit Beschluß vom 10. November 1994 (BT-Plenarprotokoll 13/1, S. 14). In den Richtlinien heißt es:
1. Der Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung (1. Ausschuß) ist zuständig für Überprüfungen gemäß § 44b des Abgeordnetengesetzes.
Dem 1. Ausschuß sind die Mitteilungen des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (Bundesbeauftragter) und sonstige Unterlagen zur Überprüfung eines Mitgliedes des Bundestages unmittelbar zuzuleiten.
Er kann aus seiner Mitte Mitglieder mit der Durchsicht von Unterlagen beauftragen.
Entscheidungen nach § 44b Abs. 2 des Abgeordnetengesetzes, Entscheidungen über Ersuchen um zusätzliche Auskünfte des Bundesbeauftragten und Entscheidungen zur Feststellung des Prüfungsergebnisses trifft der 1. Ausschuß mit einer Mehrheit von zwei Dritteln seiner Mitglieder.
2. Der Präsident des Deutschen Bundestages ersucht den Bundesbeauftragten um Mitteilung von Erkenntnissen aus seinen Unterlagen über ein Mitglied des Bundestages und um Akteneinsicht, falls dieses Mitglied des Bundestages es verlangt.
Er ersucht den Bundesbeauftragten auch, falls der 1. Ausschuß konkrete Anhaltspunkte für den Verdacht der hauptamtlichen oder inoffiziellen Tätigkeit oder politischen Verantwortung eines Mitgliedes des Bundestages für das Ministerium für Staatssicherheit/Amt für Nationale Sicherheit (MfS/AfNS) der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik festgestellt hat.
Das Mitglied des Bundestages ist über das Ersuchen in Kenntnis zu setzen.
3. Der 1. Ausschuß trifft aufgrund der Mitteilungen des Bundesbeauftragten und aufgrund sonstiger ihm zugeleiteter oder von ihm beigezogener Unterlagen die Feststellung, ob eine hauptamtliche oder inoffizielle Mitarbeit oder eine politische Verantwortung für das Ministerium für Staatssicherheit/Amt für Nationale Sicherheit (MfS/AfNS) der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik als erwiesen anzusehen ist.
4. Vor Abschluß der Feststellungen gemäß Nummer 3 sind die Tatsachen dem betroffenen Mitglied des Bundestages zu eröffnen und mit ihm zu erörtern.
Das betroffene Mitglied kann Einsicht in die beim 1. Ausschuß befindlichen Unterlagen verlangen. Es kann sich einer Vertrauensperson bedienen.
Der Vorsitzende des 1. Ausschusses unterrichtet den Präsidenten des Deutschen Bundestages und den Vorsitzenden derjenigen Fraktion oder Gruppe, der das betroffene Mitglied des Bundestages angehört, über die beabsichtigte...
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