Beschluss vom 22. Dezember 2020 - 1 BvR 2740/20
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2020:rk20201222.1bvr274020 |
Date | 22 Diciembre 2020 |
Judgement Number | 1 BvR 2740/20 |
Citation | BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 22. Dezember 2020 - 1 BvR 2740/20 -, Rn. 1-31, |
Court | Constitutional Court (Germany) |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 2740/20 -
über
die Verfassungsbeschwerde
der A… SE, vertreten durch den Vorstand Dr. D…, B…, Dr. C…, Dr. D…, |
- Bevollmächtigte:
- … -
gegen |
den Beschluss des Landgerichts Berlin vom 27. Oktober 2020 - 27 O 374/20 - |
hier: | Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung |
hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Richter Paulus,
Christ
und die Richterin Härtel
am 22. Dezember 2020 einstimmig beschlossen:
- 1.Der Beschluss des Landgerichts Berlin vom 27. Oktober 2020 - 27 O 374/20 - verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem grundrechtsgleichen Recht auf prozessuale Waffengleichheit gemäß Artikel 3 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes. Seine Wirksamkeit wird bis zu einer Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde in der Hauptsache oder bis zu einer erneuten Entscheidung des Landgerichts, längstens jedoch für die Dauer von sechs Monaten ausgesetzt
- 2.Das Land Berlin hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen im Verfahren über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu erstatten
I.
Die Verfassungsbeschwerde und der damit verbundene Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung richten sich gegen eine einstweilige Verfügung, die die Pressekammer des Landgerichts Berlin ohne Anhörung der Beschwerdeführerin erlassen hat.
1. Das zugrundeliegende Verfahren betrifft die Zulässigkeit einer Berichterstattung der Beschwerdeführerin über das gegen den Antragsteller des Ausgangsverfahrens geführte Ermittlungsverfahren und die Anklageerhebung wegen der Verbreitung kinderpornographischer Schriften und des Besitzes kinder- und jugendpornographischer Schriften. Die zuständige Staatsanwaltschaft erhob Ende August 2020 nach Abschluss der Ermittlungen, in denen sich der Antragsteller des Ausgangsverfahrens über seinen damaligen Verteidiger zur Sache eingelassen hatte, Anklage. Das zuständige Amtsgericht veröffentlichte daraufhin am 4. September 2020 eine Presseerklärung, wonach gegen den namentlich genannten ehemaligen Profifußballer „wegen Verbreitung kinderpornographischer Schriften in 29 Fällen und Besitzes kinderpornographischer und jugendpornographischer Schriften in einem weiteren Fall“ eine Anklage eingegangen sei. Gegen die Veröffentlichung dieser Presseerklärung wandte sich der Antragsteller des Ausgangsverfahrens mit einem Eilantrag an das zuständige Verwaltungsgericht, das den begehrten Unterlassungsantrag abwies. Zur Begründung seines Beschlusses vom 14. September 2020 führte es aus, der Antragsteller sei seit Einleitung des Ermittlungsverfahrens namentlich bekannt gewesen. Zudem habe die Staatsanwaltschaft einen hinreichenden Tatverdacht bejaht, da sie sich auf sichergestellte Bilddateien, die Aussage einer Zeugin und nicht zuletzt auf die geständige Einlassung des Antragstellers stützen könne.
2. Die Beschwerdeführerin stützt ihre angegriffene Berichterstattung vom 15. September 2020 auf die Entscheidung des Verwaltungsgerichts und zitiert dabei in Auszügen aus dem Beschluss. Auf dem Titelblatt hieß es neben einem Bildnis des Antragstellers:
„Kinderporno-Anklage gegen Ex-Nationalspieler
[…]s Geständnis“
Auf Seite 3 der Ausgabe vom 15. September 2020 berichtete die Beschwerdeführerin unter anderem:
„Kinder- und Jugendporno-Dateien entdeckt - Ex-Nationalspieler legt Geständnis ab
Bei den Ermittlern brach […] sein Schweigen
Er hat gestanden. […] hat die Kinderpornografie-Vorwürfe eingeräumt. […]
Pikant: In der Urteilsbegründung des Verwaltungsgerichts wird erwähnt, dass […] längst ein Geständnis abgelegt hat!
Wörtlich heißt es: ‚Das in der Anklageschrift vom 27. August 2020 wiedergegebene Ermittlungsergebnis beruhte u.a. auf der geständigen Einlassung des Antragstellers, der Aussage einer Zeugin sowie sichergestellten Bilddateien.‘
Und weiter: ‚Denn - wie oben ausgeführt - liegt bereits ein Mindestbestand an Beweistatsachen, namentlich die geständige Einlassung des Antragstellers vor.‘“
3. Wegen dieser Berichterstattung ließ der Antragsteller des Ausgangsverfahrens die Beschwerdeführerin am 21. September 2020 mit einem zwanzigseitigen anwaltlichen Schriftsatz abmahnen. Diese reagierte auf das Abmahnschreiben nicht.
4. Mit Schriftsatz vom 6. Oktober 2020 beantragte der Antragsteller des Ausgangsverfahrens sodann beim Landgericht Berlin den Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen die Beschwerdeführerin. Der Antragsschriftsatz umfasste 42 Seiten und enthielt über das Abmahnschreiben hinausgehenden Vortrag, darunter zu der Frage, ob vorliegend, wie von der Beschwerdeführerin geschrieben, von einer „geständigen Einlassung“ oder einem „Geständnis“ des Antragstellers die Rede sein könne, wenn sich lediglich der damalige Verteidiger für den Antragsteller im Ermittlungsverfahren eingelassen habe, sowie zur Problematik eines vermeintlichen Verstoßes gegen § 353d StGB durch die Beschwerdeführerin. Dem Antrag beigefügt war ferner eine eidesstattliche Versicherung des aktuellen Verteidigers des Antragstellers, wonach sich in der gesamten Strafakte keine persönliche Einlassung des Antragstellers selbst befinde, sowie ein Kurzgutachten eines weiteren Rechtsanwalts zur Frage, ob die vom damaligen Verteidiger abgegebenen Erklärungen rechtlich zutreffend als „geständige Einlassung“ oder „Geständnis“ des Antragstellers gewürdigt werden könnten.
Allein dem Antragsteller des Ausgangsverfahrens erteilte das Landgericht Berlin am 8. Oktober 2020 den rechtlichen Hinweis, dass wohl ein hinreichendes Mindestmaß vorliege, um über den Vorwurf gegen den Antragsteller berichten zu dürfen. Der mögliche Mangel, dass die Erklärung seines Verteidigers als geständige Einlassung des Antragstellers selbst gewertet worden sei, lasse die äußerungsrechtliche Heranziehung als Beweisanzeichen nicht entfallen. Es komme aber eine eingeschränkte Unterlassungsverpflichtung in Betracht, weil der Sachverhalt unvollständig wiedergegeben sei und beim Leser das schiefe Bild entstehen lasse, dass der Antragsteller eine eigene Erklärung abgegeben habe, deren Verwertbarkeit unbestritten feststehe. Dem Antragsteller räumte die Pressekammer des Landgerichts Berlin Gelegenheit zur Stellungnahme binnen Wochenfrist ein. Mit Schriftsatz vom 22. Oktober 2020 modifizierte der Antragsteller seinen Antrag entsprechend.
5. Ohne vorherige Anhörung der Beschwerdeführerin erließ das Landgericht am 27. Oktober 2020 die angegriffene einstweilige Verfügung, die es der Beschwerdeführerin untersagt, über das „Geständnis“ des Antragstellers zu berichten, ohne darauf hinzuweisen, dass der Antragsteller selbst kein Geständnis abgelegt habe, vielmehr lediglich eine Einlassung seines Verteidigers gegenüber der Staatsanwaltschaft vorliege, deren Verwertbarkeit zum jetzigen Zeitpunkt nicht feststehe. Eine inhaltliche Begründung der einstweiligen Verfügung enthält der Beschluss nicht.
Nach der Zustellung der einstweiligen Verfügung legte die Beschwerdeführerin Widerspruch ein und stellte Antrag auf einstweilige Einstellung der...
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