Beschluss vom 22. Mai 2024 - 2 BvR 51/24
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2024:rk20240522.2bvr005124 |
Judgement Number | 2 BvR 51/24 |
Date | 22 May 2024 |
Citation | BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 22. Mai 2024 - 2 BvR 51/24 -, Rn. 1-69, |
Court | Constitutional Court (Germany) |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 51/24 -
über
die Verfassungsbeschwerde
1. |
der Frau (…), | |
2. |
des Herrn (…), | |
3. |
des Herrn (…), |
- Bevollmächtigter:
- … -
gegen |
a) den Beschluss des Landgerichts Hagen vom 20. November 2023 - 1 T 163/22 -, |
|
b) den Beschluss des Amtsgerichts Schwelm vom 14. Dezember 2022 - 42 M 78/22 - |
hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Richterinnen Langenfeld,
Fetzer
und den Richter Offenloch
am 22. Mai 2024 einstimmig beschlossen:
- Der Beschluss des Landgerichts Hagen vom 20. November 2023 - 1 T 163/22 - verletzt die Beschwerdeführerin zu 1. und den Beschwerdeführer zu 3. in ihrem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes und den Beschwerdeführer zu 2. in seinem grundrechtsgleichen Recht aus Artikel 103 Absatz 1 des Grundgesetzes. Der Beschluss wird aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht Hagen zurückverwiesen.
- Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.
- Die einstweilige Aussetzung der Zwangsvollstreckung aus dem Urteil des Amtsgerichts Schwelm vom 14. September 2021 - 27 C 138/20 - wird, soweit die Beschwerdeführer zur Räumung und Herausgabe der von ihnen bewohnten, in der zweiten Etage des Hauses (…) gelegenen Wohnung, bestehend aus viereinhalb Zimmern, Arbeitsküche (in Zimmerzahl enthalten), einem Bad mit WC, einem Flur, einem Balkon und einem Kellerraum, verpflichtet sind, bis zu einer erneuten Entscheidung des Landgerichts über die sofortige Beschwerde der Beschwerdeführer verlängert.
- Das Land Nordrhein-Westfalen hat den Beschwerdeführern die notwendigen Auslagen einschließlich der im Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung entstandenen notwendigen Auslagen zu erstatten.
I.
Mit ihrer Verfassungsbeschwerde wenden sich die Beschwerdeführer gegen die Ablehnung eines weitergehenden Vollstreckungsschutzes.
1. a) Die Beschwerdeführer – Eheleute im Alter von jeweils 69 Jahren (die Beschwerdeführerin zu 1. und der Beschwerdeführer zu 2.) und ihr erwachsener Sohn (der Beschwerdeführer zu 3.) – bewohnen eine Mietwohnung in (…). Der Mietvertrag wurde wegen einer Hausfriedensstörung insbesondere des Beschwerdeführers zu 3. gekündigt. Aufgrund eines Urteils des Amtsgerichts Schwelm wird gegen die Beschwerdeführer nunmehr die Zwangsvollstreckung auf Räumung und Herausgabe der Wohnung betrieben.
b) Das Amtsgericht hat mit Beschluss vom 1. Februar 2023 für den Beschwerdeführer zu 3. aufgrund einer psychischen Erkrankung eine Betreuung unter anderem für den Aufgabenkreis der Wohnungsangelegenheiten eingerichtet.
2. Mit Schriftsatz vom 27. Oktober 2022 beantragten die Beschwerdeführer beim Amtsgericht Schwelm die Gewährung von Vollstreckungsschutz gemäß § 765a ZPO. Sie machten hierbei unter Vorlage zahlreicher Atteste für alle drei Beschwerdeführer vielfältige Erkrankungen geltend, die einer Räumung entgegenstünden. Im Falle der Räumung sei mit einer erheblichen Verschlechterung des Gesundheitszustands aller Beschwerdeführer bis hin zum Suizid zu rechnen. Das Amtsgericht Schwelm wies den Antrag mit angegriffenem Beschluss vom 14. Dezember 2022 zurück. Die vorgelegten Atteste ließen eine konkrete schwerwiegende Gefahr für Leib und Leben und Gesundheit der Beschwerdeführer durch die Räumung nicht erkennen.
3. a) Mit Schriftsatz vom 16. Dezember 2022 legten die Beschwerdeführer hiergegen sofortige Beschwerde ein. Der Räumungsschutzantrag sei mit gravierenden psychischen, aber auch körperlichen Einschränkungen der Beschwerdeführer begründet worden. Insbesondere seien auch suizidale Probleme thematisiert worden. Diese gesundheitlichen Beeinträchtigungen hätte das Amtsgericht – so die Beschwerdeführer – zum Anlass nehmen müssen, ein Sachverständigengutachten zur weiteren Aufklärung der mit einem Umzug verbundenen gesundheitlichen Folgen einzuholen. Ergänzend sei hervorzuheben, dass die Beschwerdeführerin zu 1. zwischenzeitlich an Demenz erkrankt sei. Auch dies könne zur Zuerkennung eines Räumungsschutzes führen.
b) Mit Beschluss vom 23. Dezember 2022 stellte das Landgericht Hagen die Zwangsvollstreckung einstweilen für die Dauer des Beschwerdeverfahrens ein, gab den Beschwerdeführern auf, ihre Bemühungen um Ersatzwohnraum laufend nachzuweisen, und ordnete die Beweiserhebung über eine akute Suizidgefährdung der Beschwerdeführer durch Einholung eines Sachverständigengutachtens an. Wenngleich auch schwere gesundheitliche Probleme einer Räumung nicht grundsätzlich entgegenstünden, was auch für das Vorbringen der Beschwerdeführerin zu 1. gelte, sie sei nunmehr an einer Demenz erkrankt, bestehe für alle drei Beschwerdeführer der Bedarf einer weiteren Aufklärung hinsichtlich der mit einer Räumung verbundenen Gefahr für ihr Leben. So sei die Perspektive der Obdachlosigkeit für die Beschwerdeführerin zu 1. ein hochpotenter Angstauslöser. Dabei scheine der Bestand und das Zusammenleben ihrer Kernfamilie ein wesentlicher Aspekt zu sein, aufkommenden Suizidgedanken nicht nachzugehen. Auch der Beschwerdeführer zu 2. habe ausweislich eines aktuellen Attestes nunmehr täglich suizidale Gedanken. Für den Beschwerdeführer zu 3. seien seine Eltern nach fachärztlicher Einschätzung der Lebensanker; er könne auf keinen Fall ohne sie leben. Unter Berücksichtigung des persönlichen Eindrucks vom Beschwerdeführer zu 3. könne eine Suizidgefahr im Falle der Räumung nicht ausgeschlossen werden. Da allerdings nach den vorgelegten Unterlagen wesentlicher Auslöser für die Suizidgefahr der Beschwerdeführer nicht der Wohnungswechsel an sich, sondern die im Falle einer Räumung drohende Obdachlosigkeit und eine gegebenenfalls hierdurch erfolgende Trennung der Familie sei, sei den Beschwerdeführern aufzugeben, ihre Bemühungen um Ersatzwohnraum laufend nachzuweisen. Diesen werde bei der letztlich zu treffenden Interessenabwägung eine gewichtige Rolle zukommen.
c) Das fachpsychiatrische Gutachten des beauftragten Sachverständigen wurde unter dem 16. Oktober 2023 erstattet. In diesem führte der Gutachter unter anderem aus:
aa) Die Beschwerdeführerin zu 1. leide an einer fortgeschrittenen, schwergradigen Demenzerkrankung. Infolge dieser Erkrankung verfüge sie kaum über entsprechende Möglichkeiten für eine Selbsttötung. Eine akute Suizidgefahr sei ohnehin als gering zu bewerten. Vielmehr gebe es Hinweise darauf, dass der Verbleib in der Wohnung zu einer effektiven Belastung führe. Ein Wechsel der Wohnumgebung könne so langfristig zu einer Verbesserung der Symptomatik führen. Zur Minimierung eines Suizidrisikos könne auf die Möglichkeit des Verbleibs im familiären Umfeld verwiesen werden. Sie bedürfe auch ständiger Fürsorge und Leitung im Alltag, welche durch ständige Anwesenheit einer familiären oder professionellen Präsenzkraft oder durch eine stationäre Heimunterbringung gewährleistet werden müsse.
bb) Im Rahmen der Exploration des Beschwerdeführers zu 2. habe dieser einen sozialen Rückzug beschrieben. Nachfragen hinsichtlich der Wohnsituation hätten aufgezeigt, dass keine besondere persönliche Beziehungskonstellation zur Wohnung selbst vorliege. Betreffend die Konsequenzen einer Wohnungsräumung habe der Beschwerdeführer zu 2. zunächst keine konkreten Absichten erklärt, sondern auf die Krankheiten der Beschwerdeführerin zu 1. und des Beschwerdeführers zu 3., insbesondere die Demenzerkrankung der Beschwerdeführerin zu 1., verwiesen. Er wolle noch ein bis zwei Jahre in der Wohnung bleiben. Auf wiederholte Nachfragen zu der konkreten Wohnungsräumung habe der Beschwerdeführer zu 2. dann Suizidfantasien geäußert.
Aus der Exploration ergebe sich, dass der Beschwerdeführer zu 2. an einer depressiven Störung erkrankt sei. Akzessorisch hierzu sei unter anderem ein sozialer Rückzug festzustellen. Symptome einer Angststörung könnten nicht gesichert festgestellt werden. Eine akute Suizidalität bestehe in einem geringen Ausmaß. Zur derzeit bewohnten Wohnung bestehe keine persönliche Beziehungskonstellation, einzig habe der Beschwerdeführer zu 2. eine Gewöhnung an sein Lebensumfeld assoziiert. Eine Zwangsräumung führe lediglich zu einer vernachlässigbaren Erhöhung des Suizidrisikos. Zur Risikoverringerung bestehe die Möglichkeit, die Räumungsfrist um einen Zeitraum von sechs Monaten – nicht jedoch, wie vom Beschwerdeführer zu 2. selbst begehrt, für einen weiteren Zeitraum – zu verlängern. Ebenso sei eine Therapie zielführend. Zur Beseitigung der vom Beschwerdeführer zu 2. wahrgenommenen Hilflosigkeit wäre daher auch eine gesetzliche Betreuung erwägenswert.
cc) Der Beschwerdeführer zu 3. leide an einer schizotypen Störung. Hervorzuheben sei hierbei eine „eigentümliche und seltsame Denk- und Sprechweise“, die äußere Erscheinung und das Verhaltensbild seien auffällig und „als exzentrisch und seltsam“ zu bewerten. Es falle ein ungewöhnlicher sozialer Rückzug auf, während der Beschwerdeführer zu 3. im direkten Kontakt „expansiv“ in Erscheinung trete. Die Suizidalität des Beschwerdeführers zu 3. sei als sehr gering zu bewerten. Im Zuge einer Zwangsräumung sei nur mit einer zu vernachlässigenden Erhöhung des Suizidrisikos zu rechnen. Die Räumung führe zu einer Aufhebung der territorialen Autonomie des Beschwerdeführers zu 3., für die ein störungsspezifischer Kontext erkennbar sei. Eine diesbezügliche affektive Reaktion führe jedoch mit weit...
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