Beschluss vom 22. März 2016 - 2 BvR 566/15
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2016:rk20160322.2bvr056615 |
Date | 22 Marzo 2016 |
Citation | BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 22. März 2016 - 2 BvR 566/15 - Rn. (1-30), |
Judgement Number | 2 BvR 566/15 |
Court | Constitutional Court (Germany) |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 566/15 -
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn G... , |
- Bevollmächtigter:
-
Rechtsanwalt Claudius F. Wagner,
Gartenstraße 17, 55494 Rheinböllen -
gegen |
a) |
den Beschluss des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 10. Februar 2015 - 3 Ws 1038/14 (StVollz) -, |
b) |
den Beschluss des Landgerichts Gießen vom 22. Oktober 2014 - 2 StVK-Vollz.-133/14 - |
hat die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Richter Landau
und die Richterinnen Kessal-Wulf,
König
am 22. März 2016 einstimmig beschlossen:
- Der Beschluss des Landgerichts Gießen vom 22. Oktober 2014 - 2 StVK-Vollz.-133/14 - und der Beschluss des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 10. Februar 2015 - 3 Ws 1038/14 (StVollz) - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 19 Absatz 4 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes
- Die Beschlüsse werden aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht Gießen zurückverwiesen
- Das Land Hessen hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Frage der Verfassungsgemäßheit der vorübergehenden Unterbringung eines Strafgefangenen in einem Einzelhaftraum mit einer Fläche von mindestens 4,49 m2 und höchstens 6,16 m2 .
I.
1. Der Beschwerdeführer verbüßt eine lebenslange Freiheitsstrafe in der Justizvollzugsanstalt Butzbach. Aus organisatorischen Gründen wurde er entweder am 14. März 2014 oder am 21. März 2014 in eine sogenannte „Schlauchzelle“ verlegt, deren Grundfläche nach dem Vortrag des Beschwerdeführers 4,49 m2 und nach den fachgerichtlichen Feststellungen etwa 6 m2 betrug. Am 14. April 2014 bezog der Beschwerdeführer einen Haftraum mit einer Fläche von ca. 9 m2 .
2. Bereits am 23. März 2014 hatte der Beschwerdeführer einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung gestellt und die Verlegung in einen größeren Haftraum beantragt. Die Unterbringung in der „Schlauchzelle“, die 2,48 m lang und 1,81 m breit sei und somit eine Fläche von 4,49 m² aufweise, verletze ihn in seiner Menschenwürde. Nachdem er am 14. April 2014 in einen größeren Haftraum verlegt worden war, beantragte die Justizvollzugsanstalt, den Antrag für erledigt zu erklären und dem Beschwerdeführer die Verfahrenskosten aufzuerlegen. Der verfahrensgegenständliche Haftraum habe eine Fläche von etwa 6 m² und genüge noch den gesetzlichen Anforderungen. Außerdem sei zu berücksichtigen, dass der Beschwerdeführer nur vorübergehend dort untergebracht worden sei. Daraufhin beantragte der Beschwerdeführer die Feststellung, dass die Unterbringung in der „Schlauchzelle“ rechtswidrig gewesen sei. Ein Feststellungsinteresse sei gegeben, da eine gewichtige Grundrechtsverletzung vorliege. Zudem bestehe Wiederholungsgefahr, da die „Schlauchzellen“ in der Justizvollzugsanstalt Butzbach weiterhin genutzt würden. Die Angaben der Anstalt zu der Haftraumgröße seien falsch. Darüber hinaus treffe es nicht zu, dass die Unterbringung des Beschwerdeführers in der „Schlauchzelle“ von vornherein als vorübergehend geplant gewesen sei. Vielmehr sei er nur in einen größeren Haftraum verlegt worden, weil er einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung gestellt habe. Andere Gefangene, die den Rechtsweg nicht beschritten hätten, seien noch immer in „Schlauchzellen“ untergebracht. An Werktagen sei der Beschwerdeführer in der Anstalt einer Beschäftigung nachgegangen; an den Wochenenden habe er jedoch täglich 23 Stunden in seinem Haftraum verbringen müssen. Nach Aufforderung durch das Landgericht legte die Justizvollzugsanstalt Lichtbilder vor, die den verfahrensgegenständlichen Haftraum zeigen sollen, und erklärte, dass dieser etwa 1,94 m breit und 3,18 m lang sei und somit eine Grundfläche von etwa 6,16 m2 aufweise.
3. Mit Beschluss vom 22. Oktober 2014 verwarf das Landgericht den Feststellungsantrag als unzulässig. Der verfahrensgegenständliche Haftraum habe eine Größe von etwa 6 m2 . Es sei kein Feststellungsinteresse gegeben, da weder Wiederholungsgefahr noch ein tiefgreifender Grundrechtseingriff vorlägen. Eine vorübergehende Unterbringung in Hafträumen wie dem verfahrensgegenständlichen genüge noch den gesetzlichen Anforderungen. Insoweit verwies das Landgericht auf eine Entscheidung des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main (Beschluss vom 28. Oktober 2003 - 3 Ws 957/03 -, juris), in der eine Grundfläche von 6,11 m2 als mit Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 3 EMRK noch vereinbar angesehen worden war. Zwar sei dem Beschwerdeführer zuzugeben, dass der Haftraum ausgesprochen klein sei, „ungeachtet ob er nun eine Breite von 1,94 m oder 1,81 m“ habe. Dies sei auch auf den vorgelegten Lichtbildern erkennbar. Darüber hinaus habe sich der erkennende Richter „eine Schlauchzelle“ angesehen und könne bestätigen, dass diese Hafträume klein seien. Gleichwohl fänden darin ein Bett, ein Tisch und ein Stuhl Platz, so dass bei einer nur vorübergehenden Unterbringung keine tiefgreifende Grundrechtsbeeinträchtigung festzustellen sei.
4. In seiner Rechtsbeschwerde rügte der Beschwerdeführer, dass die Unterbringung in der „Schlauchzelle“ gegen die Menschenwürde und das Verbot der unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung aus Art. 3 EMRK verstoßen habe. Da ein schwerwiegender Grundrechtseingriff vorliege, verletze die Verneinung des Feststellungsinteresses den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 GG. Darüber hinaus habe das Landgericht seine Amtsaufklärungspflicht verletzt. Es habe den Vortrag der Justizvollzugsanstalt, wonach die Größe des Haftraums etwa 6 m2 betrage, als zutreffend unterstellt, obwohl der Beschwerdeführer vorgetragen habe, dass der Haftraum 1,81 m mal 2,48 m messe und seine Grundfläche somit etwa 4,49 m2 betrage. Der erkennende Richter habe sich zwar eine „Schlauchzelle“ angesehen; dabei habe es sich jedoch nicht um den verfahrensgegenständlichen Haftraum gehandelt. Um seiner Amtsaufklärungspflicht nachzukommen, hätte das Gericht ein Sachverständigengutachten einholen oder die Baupläne der Anstalt beiziehen müssen. Der angegriffene Beschluss beruhe auch auf der Aufklärungspflichtverletzung, da das Landgericht anderenfalls die Rechtswidrigkeit der Unterbringung festgestellt hätte.
5. Mit Beschluss vom 10. Februar 2015 verwarf das Oberlandesgericht die Rechtsbeschwerde als unzulässig. Die Verfahrensrüge sei nicht in einer Weise ausgeführt worden, die den Anforderungen des „§ 118 Abs. 3 S. 2 StVollzG“ genüge. Das Landgericht habe seine Amtsaufklärungspflicht nicht verletzt. Die Entscheidung beruhe auf einer ausreichenden Beurteilungsgrundlage, da die eingeholten Lichtbilder einen hinreichenden Eindruck von dem verfahrensgegenständlichen Haftraum vermittelten und sich die Kammer zudem einen persönlichen Eindruck von einem baugleichen Haftraum verschafft habe. Ob die Grundfläche des Haftraums 4,49 m2 oder ca. 6 m2 betrage, sei vor diesem Hintergrund unerheblich. Selbst wenn der Haftraum lediglich 4,49 m2 groß gewesen sei, habe die Unterbringung den Beschwerdeführer nicht in seiner Menschenwürde verletzt. Bei der Beurteilung der Frage, ob eine Unterbringung menschenunwürdig sei, sei eine Gesamtschau der Umstände des Einzelfalls vorzunehmen. Dabei seien neben der Größe des Haftraums die Anzahl der darin untergebrachten Gefangenen, die Ausgestaltung der sanitären Einrichtungen, die Gesamtdauer der Unterbringung und die täglichen Einschlusszeiten zu berücksichtigen. Eine Orientierung biete die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, die im Hinblick auf die Haftraumgröße von einem Regelwert von 4 m2 pro Inhaftiertem ausgehe. Hierzu verwies der Senat auf ein Urteil des Gerichtshofs vom 12. Juli 2007 (EGMR, Testa v. Kroatien, Nr. 20877/04, EuGRZ 2008, S. 21). Dieser Regelwert sei eingehalten worden. Außerdem sei in den Blick zu nehmen, dass der Haftraum in akzeptabler Weise mit Mobiliar ausgestattet, der Beschwerdeführer nur...
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