Beschluss vom 22. September 2021 - 2 BvR 955/17
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2021:rk20210922.2bvr095517 |
Judgement Number | 2 BvR 955/17 |
Citation | BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 22. September 2021 - 2 BvR 955/17 -, Rn. 1-36, |
Date | 22 Septiembre 2021 |
Court | Constitutional Court (Germany) |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 955/17 -
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn (…) , |
- Bevollmächtigte:
- (…) -
gegen |
a) den Beschluss des Bundesgerichtshofs |
|
vom 16. März 2017 - V ZB 147/16 -, |
||
b) den Beschluss des Landgerichts Frankfurt am Main |
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vom 21. Oktober 2016 - 2-29 T 214/16 -, |
||
c) den Beschluss des Amtsgerichts Frankfurt am Main |
||
vom 19. Oktober 2016 - 934 XIV 1284/16 B - |
und | Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand |
hat die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Richter Huber
und die Richterinnen Kessal-Wulf,
Wallrabenstein
am 22. September 2021 einstimmig beschlossen:
- Dem Beschwerdeführer wird Wiedereinsetzung in die Verfassungsbeschwerdefrist gewährt
- Der Beschluss des Amtsgerichts Frankfurt am Main vom 19. Oktober 2016 - 934 XIV 1284/16 B - und der Beschluss des Landgerichts Frankfurt am Main vom 21. Oktober 2016 - 2-29 T 214/16 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes
- Die Beschlüsse werden aufgehoben, und die Sache wird an das Amtsgericht Frankfurt am Main zurückverwiesen
- Der Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 16. März 2017 - V ZB 147/16 - wird damit gegenstandslos.
- Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.
- Das Land Hessen hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Behandlung eines Rechtsschutzantrags, der sich gegen eine richterlich angeordnete Unterbringung im Transitbereich eines Flughafens richtete.
I.
1. Auf Antrag der Bundespolizei ordnete das Amtsgericht Frankfurt am Main (nachfolgend: das Amtsgericht) mit Beschluss vom 14. September 2016 im Wege einstweiliger Anordnung auf Grundlage von § 427 des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (nachfolgend: FamFG) in Verbindung mit § 15 Abs. 6 Satz 2 bis 5, Abs. 5 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes (nachfolgend: AufenthG) die vorläufige Unterbringung des Beschwerdeführers im Transitbereich des Flughafens Frankfurt am Main bis zum 26. Oktober 2016 an. Mit Schriftsatz vom 10. Oktober 2016 beantragte der Beschwerdeführer, die Haftanordnung „aufzuheben und den Betroffenen sofort in Freiheit zu setzen“. Weiter beantrage er, „festzustellen, dass der angefochtene Beschluss den Betroffenen seit Stellung des Haftaufhebungsantrags in seinen Rechten verletzt hat“. Am Ende des Schriftsatzes heißt es: „Nach Akteneinsicht wird die Beschwerde begründet“.
2. Mit angegriffenem Beschluss vom 19. Oktober 2016 half das Amtsgericht der „nicht näher begründeten Beschwerde “ (Hervorhebung nur hier) aus den zutreffenden Gründen des angefochtenen Beschlusses nicht ab. Darüber hinaus werde darauf hingewiesen, dass „die Beschwerde verfristet sein dürfte“ (Hervorhebung nur hier).
3. Der Beschwerdeführer teilte gegenüber dem Amtsgericht mit, er verstehe den Nichtabhilfebeschluss nicht. Er habe keine Beschwerde eingelegt; sie wäre in der Tat verfristet. Vielmehr habe er einen „eigenständigen Haftaufhebungsantrag“ gestellt.
Das Landgericht Frankfurt am Main (nachfolgend: das Landgericht) antwortete ihm daraufhin, dass man den Schriftsatz vom 10. Oktober 2016 aufgrund der Formulierung „Nach Akteneinsicht wird die Beschwerde begründet“ als Beschwerde ansehe. Die Beschwerde sei indessen offensichtlich verfristet. Man frage daher an, ob die Beschwerde zurückgenommen werde.
Der Beschwerdeführer bemerkte nunmehr mit Schriftsatz vom 20. Oktober 2016 nochmals, dass er im Schriftsatz vom 10. Oktober 2016 einen Haftaufhebungsantrag gestellt und nicht Beschwerde eingelegt habe. Seine Formulierung, wonach er „die Beschwerde“ begründe, sei unerheblich. Relevant seien vielmehr die in diesem Schriftsatz ausdrücklich gestellten Anträge.
4. Mit angegriffenem Beschluss vom 21. Oktober 2016 verwarf das Landgericht „die Beschwerde“ als unzulässig. Im Sachbericht seiner Entscheidung referiert das Landgericht das Begehren aus dem Schriftsatz vom 10. Oktober 2016 dahingehend, dass sich der Beschwerdeführer „unter Antragstellung“ gegen den Haftanordnungsbeschluss gewandt habe. Dabei habe er ausgeführt, dass nach Akteneinsicht die Beschwerde begründet werde. Zur Begründung führt das Landgericht aus, dass es sich bei dem Schriftsatz vom 10. Oktober 2016 um eine Beschwerde handele. Dies ergebe sich aus der Formulierung im Antrag, wo es heiße, „… festzustellen, dass der angefochtene Beschluss den Betroffenen …“ und insbesondere aus der Formulierung, dass nach Akteneinsicht die Beschwerde begründet werde. Die Beschwerde sei verfristet.
Der Entscheidung des Landgerichts ist eine Rechtsbehelfsbelehrung beigefügt. Darin heißt es, die Entscheidung könne mit der Rechtsbeschwerde angefochten werden.
Nach dieser Beschlussfassung leitete das Landgericht die Akte dem Amtsgericht zu. Das Amtsgericht möge über den durch den Schriftsatz vom 20. Oktober 2016 gesondert gestellten Haftaufhebungsantrag entscheiden. Das Amtsgericht traf eine gesonderte Entscheidung über den Haftaufhebungsantrag indessen nicht. Es ging davon aus, das Verfahren sei durch die Beschwerdeentscheidung des Landgerichts insgesamt abgeschlossen.
5. Die gegen die landgerichtliche Entscheidung erhobene Rechtsbeschwerde wies der Bundesgerichtshof mit angegriffenem Beschluss vom 16. März 2017, zugestellt am 11. April 2017, zurück. Die Rechtsbeschwerde sei nach § 70 Abs. 4 FamFG nicht statthaft. Allerdings beanstande der Beschwerdeführer zu Recht, dass das Landgericht von einer Beschwerde gegen die Haftanordnung des Amtsgerichts ausgegangen sei. Der Schriftsatz vom 10. Oktober 2016 enthalte „eindeutig (nur) einen Antrag auf Aufhebung der Haft“.
II.
Mit der am 25. April 2017 eingegangenen Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG sowie eine Verletzung von Art. 19 Abs. 4 GG. Die Grundrechtsverletzungen beruhten darauf, dass das Amts- und das Landgericht den „unstreitig“ gestellten Haftaufhebungsantrag nicht als solchen behandelt hätten. Außerdem habe der Bundesgerichtshof die Rechtsbeschwerde zu Unrecht als unstatthaft angesehen. Ein Fall des § 70 Abs. 4 FamFG habe hier „schon vom Wortlaut her“ nicht vorgelegen.
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