Beschluss vom 23. März 2022 - 2 BvC 22/19
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2022:cs20220323.2bvc002219 |
Citation | BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 23. März 2022 - 2 BvC 22/19 -, Rn. 1-77, |
Date | 23 Marzo 2022 |
Judgement Number | 2 BvC 22/19 |
Court | Constitutional Court (Germany) |
Leitsätze
zum Beschluss des Zweiten Senats vom 23. März 2022
- 2 BvC 22/19 -
- § 28 BWahlG trägt den Anforderungen an die Rechtfertigung der mit der Norm verbundenen Eingriffe in die Wahl- und Parteienfreiheit bei verfassungskonformer Auslegung Rechnung
- Bei der Konkretisierung des Begriffs der „Anforderungen“ im Sinne von § 28 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 BWahlG ist dem Umstand Rechnung zu tragen, dass die Nichtzulassung einer Landesliste einen schwerwiegenden Eingriff in die Wahl- und Parteienfreiheit darstellt
- Eine Landesliste, an deren Aufstellung unter Verstoß gegen § 21 Abs. 3 Satz 4 BWahlG verfrüht gewählte Delegierte nicht mitgewirkt haben, darf regelmäßig nicht allein aus diesem Grund zurückgewiesen werden
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvC 22/19 -
über
die Wahlprüfungsbeschwerde
1. |
der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD), Landesverband Berlin, (…), | |
2. |
des Herrn (…), | |
sowie weiterer 17 Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer, |
- Bevollmächtigter:
- (…) -
gegen |
den Beschluss des Deutschen Bundestages vom 21. Februar 2019 - WP 14/17 - |
hat das Bundesverfassungsgericht - Zweiter Senat -
unter Mitwirkung der Richterinnen und Richter
Vizepräsidentin König,
Huber,
Hermanns,
Müller,
Kessal-Wulf,
Maidowski,
Langenfeld,
Wallrabenstein
am 23. März 2022 beschlossen:
- Die Wahlprüfungsbeschwerde wird verworfen, soweit sie sich gegen die Gültigkeit der Wahl des 19. Deutschen Bundestages im Land Berlin richtet.
- Die Nichtzulassung der Landesliste der Beschwerdeführerin zu 1. für die Wahl des 19. Deutschen Bundestages im Land Berlin verletzt die Beschwerdeführerin zu 1. in ihrer Parteienfreiheit aus Artikel 21 Absatz 1 Satz 1 und 2 des Grundgesetzes und die Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer zu 2. bis 19. in ihrem Wahlrecht aus Artikel 38 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes.
- Die Bundesrepublik Deutschland hat den Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführern ihre notwendigen Auslagen zu erstatten.
- Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 50.000 (in Worten: fünfzigtausend) Euro festgesetzt.
A.
Die Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer wenden sich mit ihrer Wahlprüfungsbeschwerde gegen die Entscheidung des Deutschen Bundestages vom 21. Februar 2019, mit der ihr Einspruch gegen die Wahl des 19. Deutschen Bundestages am 24. September 2017 im Land Berlin, der sich auf die Nichtzulassung der Landesliste der Beschwerdeführerin zu 1. stützte, zurückgewiesen wurde.
I.
1. a) Am 8. Oktober 2016 führte die Beschwerdeführerin zu 1. einen Landesparteitag in Berlin durch. Im Anschluss fand die besondere Vertreterversammlung zur Aufstellung einer Landesliste der Beschwerdeführerin zu 1. für die Bundestagswahl 2017 im Land Berlin statt.
b) Die Vertreter des Kreisverbandes (…) waren bereits am 12. Februar 2016 und damit 27 Monate und elf Tage nach Beginn der laufenden Legislaturperiode des Deutschen Bundestages gewählt worden. Sie versicherten am 28. Juli 2017 gegenüber dem Landeswahlausschuss an Eides statt, an der besonderen Vertreterversammlung zur Aufstellung einer Landesliste für die Bundestagswahl im Land Berlin am 8. Oktober 2016 nicht teilgenommen zu haben. Der zuvor durchgeführte Landesparteitag habe sehr lange gedauert, sie hätten deswegen schon vor Beginn der Aufstellungsversammlung die Rückreise angetreten.
2. Mit Beschluss vom 28. Juli 2017 lehnte der Landeswahlausschuss die Zulassung der von der Beschwerdeführerin zu 1. eingereichten Landesliste ab. Zur Begründung führte er aus, dass die Liste wegen der zu früh erfolgten Wahl von Vertretern für die Vertreterversammlung nicht den wahlrechtlichen Bestimmungen entspreche. Eine solche Wahl habe erst ab dem 23. März 2016 stattfinden dürfen. Einzelne Vertreter seien aber bereits am 12. Februar 2016 und damit einen Monat zu früh gewählt worden. Wegen der besonderen Formenstrenge des Wahlrechts habe dieser Fehler zur Zurückweisung der gesamten Liste gezwungen.
3. Die hiergegen gerichtete Beschwerde wies der Bundeswahlausschuss in seiner Sitzung vom 3. August 2017 zurück.
a) Nach § 28 Abs. 1 Satz 2 BWahlG habe der Landeswahlausschuss Landeslisten zurückzuweisen, wenn sie den Anforderungen nicht entsprächen, die durch das Bundeswahlgesetz oder die Bundeswahlordnung aufgestellt seien. Gemäß § 27 Abs. 5 in Verbindung mit § 21 Abs. 3 Satz 4 BWahlG dürften Wahlen für die Delegierten einer Vertreterversammlung frühestens 29 Monate nach Beginn der Wahlperiode des Deutschen Bundestages stattfinden. Dies sei im Hinblick auf die aus dem Kreisverband (…) entsandten Delegierten nicht der Fall gewesen.
b) Der Gesetzgeber habe mit dem 15. Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom 27. April 2001 in § 21 Abs. 3 BWahlG die Frist zwischen der Bewerberaufstellung und dem Wahltag bewusst um sechs Monate verkürzt. Damit habe eine angemessene Repräsentation der Parteibasis und ihrer aktuellen Meinung gewährleistet und ein Anspruch auf Teilnahme an der Kandidatenaufstellung auch für neue Parteimitglieder gesichert werden sollen. Ein Wahlvorschlag, der unter Missachtung einer – für eine demokratische Bewerberaufstellung konstitutiven – Wahlrechtsregelung zustande gekommen sei, müsse vom zuständigen Wahlausschuss ohne Rücksicht darauf zurückgewiesen werden, ob der Rechtsverstoß für die Bewerberaufstellung erheblich sei.
c) Hielten Parteien die ihnen in § 21 BWahlG abverlangten demokratischen Mindestregeln einer parteiinternen Kandidatenaufstellung nicht ein, berühre dies die Voraussetzungen einer Wahl im Sinne des § 21 Abs. 1 BWahlG. Fehle an einer Stelle des Aufstellungsverfahrens die demokratische Legitimation der Delegierten, sei der Wahlvorschlag ungültig.
II.
Mit Beschluss vom 21. Februar 2019 wies der Deutsche Bundestag den mit Schreiben vom 27. September 2017 erhobenen Wahleinspruch gemäß der Beschlussempfehlung des Wahlprüfungsausschusses vom 14. Februar 2019 (BTDrucks 19/7660) als zulässig, aber unbegründet zurück. Dem Vortrag der Einspruchsführer lasse sich keine Verletzung von Wahlrechtsvorschriften und mithin kein Wahlfehler entnehmen.
1. Die Zurückweisung der Landesliste sei rechtmäßig gewesen. Gemäß § 28 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 BWahlG habe der Landeswahlausschuss Landeslisten unter anderem dann zurückzuweisen, wenn sie den Anforderungen dieses Gesetzes und der Bundeswahlordnung nicht entsprächen, es sei denn, dass in diesen Vorschriften etwas Anderes bestimmt sei.
2. Die Landesliste der Einspruchsführer habe den gesetzlichen Bestimmungen nicht entsprochen.
a) Nach § 27 Abs. 5 in Verbindung mit § 21 Abs. 1 BWahlG könnten Landeslisten von Parteien im Rahmen von besonderen Vertreterversammlungen aufgestellt werden. Gemäß § 21 Abs. 3 BWahlG würden die Vertreter für die Vertreterversammlungen in geheimer Abstimmung gewählt, wobei die Wahlen frühestens 29 Monate nach Beginn der Wahlperiode des Deutschen Bundestages stattfinden dürften. Damit hätten Vertreter für Vertreterversammlungen zur Aufstellung von Landeslisten für die Wahl zum 19. Deutschen Bundestag frühestens am 23. März 2016 gewählt werden dürfen. Die Vertreter des Kreisverbandes (…) seien jedoch bereits am 12. Februar 2016 gewählt worden. Die Wahl sei auch nicht wiederholt worden, um diesen Fehler zu heilen, obwohl dies angesichts des zeitlichen Abstands zur besonderen Vertreterversammlung am 8. Oktober 2016 durchaus möglich gewesen wäre.
b) Dieser Fehler habe sich in der besonderen Vertreterversammlung fortgesetzt. Dabei komme es nicht darauf an, dass die Vertreter des Kreisverbandes (…) tatsächlich nicht an der Wahl der Kandidaten für die Landesliste teilgenommen hätten und sich ihre Stimmen mithin nicht auf das Wahlergebnis hätten auswirken können. Ziel der Regelung des Bundeswahlgesetzes sei es, die Parteimitglieder und ihre Meinungen bei der Listenaufstellung angemessen zu repräsentieren. Die Regelung diene der Absicherung einer demokratischen Bewerberaufstellung; ihre Beachtung sei hierfür konstitutiv. Der Verstoß gegen die gesetzliche Vorgabe sei zum Zeitpunkt der besonderen Vertreterversammlung bereits eingetreten gewesen; er habe sich nicht in der konkreten Teilnahme an der Wahl verfestigen oder gar eine Auswirkung auf das Wahlergebnis haben müssen.
c) Wenn in Ausnahmefällen Wahlvorschläge trotz Verstoßes gegen die Vorgaben des § 21 BWahlG vom Deutschen Bundestag und vom Bundesverfassungsgericht, insbesondere bei einer versehentlich unberechtigten Teilnahme einzelner Personen an der Vertreterversammlung, zugelassen worden seien, weil eine Zurückweisung des Wahlvorschlags unverhältnismäßig gewesen wäre, so sei dies nicht auf alle weiteren Verstöße gegen § 21 BWahlG übertragbar. Dies gelte insbesondere vor dem Hintergrund, dass solche Fehler nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nur hinzunehmen seien, wenn die zuständigen Parteigremien organisatorisch alle zumutbaren Vorkehrungen zur Wahrung der elementaren Wahlrechtsregelungen für die Bewerberaufstellung getroffen hätten. Im Hinblick auf die Fristenregelungen des § 21 Abs. 3 Satz 4 BWahlG sei für Verhältnismäßigkeitserwägungen...
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