Beschluss vom 23. September 2024 - 1 BvL 9/21
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2024:ls20240923.1bvl000921 |
Judgement Number | 1 BvL 9/21 |
Date | 23 September 2024 |
Citation | BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 23. September 2024 - 1 BvL 9/21 -, Rn. 1-60, |
Court | Constitutional Court (Germany) |
Leitsätze
zum Beschluss des Ersten Senats vom 23. September 2024
- 1 BvL 9/21 -
- Der Anspruch auf existenzsichernde Leistungen nach Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) sichert die menschenwürdige Existenz derjenigen, die hierzu selbst nicht in der Lage sind, und ist auf die dazu unbedingt notwendigen Mittel beschränkt. Er besteht nicht, wenn diese Bedürftigkeit etwa durch Aufnahme einer existenzsichernden Erwerbstätigkeit beendet oder vermieden werden kann, auch wenn dann die Ausübung bestimmter grundrechtlicher Freiheiten wie die nach Art. 12 Abs. 1 GG geschützte Durchführung eines Hochschulstudiums nicht möglich sein sollte
- Das Recht der Hochschulzugangsberechtigten aus Art. 12 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 GG auf gleiche Teilhabe am staatlichen Studienangebot gewährleistet eine gleichheitsgerechte Verteilung der tatsächlich zur Verfügung gestellten Ausbildungskapazitäten, umfasst aber kein Recht auf staatliche Leistungen zur Beseitigung von den gesellschaftlichen Verhältnissen geschuldeten Hindernissen für den Zugang zum Studium
- a) Aus dem Sozialstaatsprinzip können mit Blick auf den weiten Gestaltungsspielraum, der dem Gesetzgeber nach dem Demokratieprinzip und dem Grundsatz der Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 2 und 3 GG) bei der infolge der Begrenztheit der finanziellen Mittel notwendigen Priorisierung der vielfältigen Aufgaben zusteht, grundsätzlich keine subjektiven Ansprüche auf staatliche Leistungen zur Beseitigung sozialer Ungleichheiten hergeleitet werden
- b) Die Ermöglichung des Studiums mittelloser Hochschulzugangsberechtigter erscheint im Verhältnis schon zu anderen Sozialbedarfen nicht derart unverzichtbar, dass die dafür notwendigen Mittel ausnahmsweise durch die Anerkennung eines entsprechenden Leistungsrechts aus Art. 12 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip den Verteilungsentscheidungen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers dauerhaft entzogen werden können.
- Angesichts der besonderen Bedeutung sozialer Durchlässigkeit der Bildungs- und Ausbildungswege folgt aus Art. 12 Abs. 1 GG und dem Sozialstaatsprinzip ein Auftrag des Staates zur Förderung gleicher Bildungs- und Ausbildungschancen. Dieser Förderauftrag verdichtet sich zu einer objektiv-rechtlichen Handlungspflicht, wenn ganze Bevölkerungsgruppen faktisch keine Chance auf Zugang zu bestimmten Ausbildungs- und Berufsfeldern haben.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvL 9/21 -
zur verfassungsrechtlichen Prüfung,
ob § 13 Absatz 1 Nummer 2 des Bundesgesetzes über individuelle Förderung der Ausbildung (Bundesausbildungsförderungsgesetz – BAföG) in der Fassung der Bekanntmachung der Neufassung vom 7. Dezember 2010 (Bundesgesetzblatt I Seite 1952), das für den hier relevanten Zeitraum (Oktober 2014 bis Februar 2015) zuletzt geändert worden ist für die Zeit bis zum 31. Dezember 2014 durch Artikel 5 des Gesetzes vom 29. August 2013 (Bundesgesetzblatt I Seite 3484, 3488) und für die nachfolgende Zeit durch das Fünfundzwanzigste Gesetz zur Änderung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes vom 23. Dezember 2014 (Bundesgesetzblatt I Seite 2475), mit Artikel 12 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 3 Absatz 1 Grundgesetz und dem Sozialstaatsprinzip des Artikel 20 Absatz 1 Grundgesetz vereinbar ist | ||
-Aussetzungs- und Vorlagebeschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 20. Mai 2021 (BVerwG 5 C 11.18) - |
hat das Bundesverfassungsgericht – Erster Senat –
unter Mitwirkung der Richterinnen und Richter
Präsident Harbarth,
Ott,
Christ,
Radtke,
Härtel,
Wolff,
Eifert,
Meßling
am 23. September 2024 beschlossen:
- § 13 Absatz 1 Nummer 2 des Bundesgesetzes über individuelle Förderung der Ausbildung (Bundesausbildungsförderungsgesetz – BAföG) in der Fassung der Bekanntmachung der Neufassung vom 7. Dezember 2010 (Bundesgesetzblatt I Seite 1952), das für den hier relevanten Zeitraum von Oktober 2014 bis Februar 2015 zuletzt geändert worden ist für die Zeit bis zum 31. Dezember 2014 durch Artikel 5 des Gesetzes vom 29. August 2013 (Bundesgesetzblatt I Seite 3484, 3488) und für die nachfolgende Zeit durch das Fünfundzwanzigste Gesetz zur Änderung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes vom 23. Dezember 2014 (Bundesgesetzblatt I Seite 2475), ist, soweit die Regelung Auszubildende in staatlichen Hochschulen betrifft, mit dem Grundgesetz vereinbar.
A.
Die Vorlage des Bundesverwaltungsgerichts betrifft die Grundpauschale gemäß § 13 Abs. 1 Nr. 2 des Gesetzes über individuelle Förderung der Ausbildung (Bundesausbildungsförderungsgesetz – BAföG) in der Neufassung vom 7. Dezember 2010 (BGBl I S. 1952), hier maßgeblich zuletzt geändert durch Art. 5 des Gesetzes vom 29. August 2013 (BGBl I S. 3484, 3488) und durch das Fünfundzwanzigste Gesetz zur Änderung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes vom 23. Dezember 2014 (BGBl I S. 2475). Die Vorschrift legte den monatlichen Bedarf für den hier maßgeblichen Zeitraum von Oktober 2014 bis Februar 2015 unter anderem für Auszubildende in Hochschulen (nachfolgend „Studierende“) auf 373 Euro fest.
I.
1. Mit dem 1971 verabschiedeten Bundesausbildungsförderungsgesetz wurde erstmals ein Rechtsanspruch auf Förderung der Ausbildung an Hochschulen, Höheren Fachschulen, Akademien und an bestimmten Schulen geschaffen. Ziel der Ausbildungsförderung war und ist die individuelle Ermöglichung beruflicher Chancengleichheit und die Hebung gesellschaftlicher Bildungspotenziale im Interesse der Allgemeinheit (BTDrucks VI/1975, S. 19). Vorläufer des Bundesausbildungsförderungsgesetzes war das zum Wintersemester 1957/58 eingeführte sogenannte Honnefer Modell, das Studierende an Universitäten und gleichgestellten Hochschulen mit besonders guten Leistungen förderte.
Mit dem Bundesausbildungsförderungsgesetz hat der Gesetzgeber den fachrechtlichen Anspruch auf individuelle Ausbildungsförderung im maßgeblichen Zeitraum im Wesentlichen wie folgt ausgestaltet: Der Anspruch besteht für eine der Neigung, Eignung und Leistung entsprechende Ausbildung, wenn Studierenden die für ihren Lebensunterhalt und ihre Ausbildung erforderlichen Mittel anderweitig nicht zur Verfügung stehen (§ 1 BAföG). Die Höhe des Bedarfs für die Ausbildung an Hochschulen ergibt sich aus der Grundpauschale nach § 13 Abs. 1 BAföG, der Unterkunftspauschale nach § 13 Abs. 2 BAföG (beide Absätze in der Fassung vom 7. Dezember 2010, BGBl I S. 1952; im Folgenden a.F.), dem Kranken- und Pflegeversicherungszuschlag nach § 13a BAföG a.F. sowie Zusatzleistungen für Auszubildende mit Kind nach § 14b BAföG a.F. Auf den Bedarf sind Einkommen und Vermögen der Auszubildenden sowie Einkommen ihrer Ehegatten oder Lebenspartner und ihrer Eltern anzurechnen (§ 11 Abs. 2 BAföG a.F.). Insoweit bestehen Freibeträge; der Freibetrag vom Einkommen für Auszubildende betrug im hier relevanten Zeitraum 255 Euro (§ 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BAföG a.F.) und derzeit 353 Euro. Der monatliche Förderungsbetrag wird gemäß § 17 Abs. 2 Satz 1 BAföG a.F. zur Hälfte als Zuschuss und zur Hälfte als Darlehen geleistet, das höchstens bis zu einer Gesamtsumme von 10.000 Euro zurückzuzahlen ist. Die Darlehen sind nur zu verzinsen, soweit ein Zahlungsrückstand besteht (§ 18 Abs. 2 BAföG a.F.).
Daneben besteht ein Anspruch auf Kindergeld für Kinder in Ausbildung und damit auch während des Studiums bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres. Anspruchsberechtigt sind grundsätzlich die Eltern. Allerdings kann das Kindergeld an das Kind selbst ausgezahlt werden, wenn die Eltern ihrer Unterhaltsverpflichtung nicht nachkommen (§ 74 EStG). Das Kindergeld wird bei der Berechnung des Einkommens der Eltern oder der Auszubildenden nicht berücksichtigt (vgl. § 21 Abs. 1 Satz 1 BAföG a.F. i.V.m. § 2 Abs. 1 und 2 EStG).
Auszubildende, deren Ausbildung im Rahmen des Bundesausbildungsförderungsgesetzes dem Grunde nach förderungsfähig ist, haben gemäß § 7 Abs. 5 Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) in der hier maßgeblichen Fassung vom 20. Dezember 2011 (BGBl I S. 2854; SGB II a.F.) keinen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Gemäß § 27 Abs. 3 Satz 1 SGB II a.F. können Auszubildende jedoch Aufwendungen für Unterkunft zuschussweise und nach § 27 Abs. 4 SGB II a.F. darlehensweise alle Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für bestimmte Bedarfe geltend machen, sofern der Leistungsausschluss eine besondere Härte bedeutet. Dies gilt nach § 22 Abs. 1 Sätze 1 und 2 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch in der Fassung vom 20. Dezember 2011 (SGB XII a.F.) auch für Leistungen nach dem Dritten Kapitel (Hilfe zum Lebensunterhalt) und nach dem Vierten Kapitel (Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung) des SGB XII. Ferner besteht nach § 20 Abs. 2 Satz 1 Wohngeldgesetz in der Fassung vom 20. Dezember 2011 (WoGG a.F.) kein Anspruch auf Wohngeld, wenn allen Haushaltsmitgliedern ein Anspruch auf Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz dem Grunde nach zusteht.
Insgesamt erhält etwa ein Sechstel bis ein Fünftel der Studierenden Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz. Nach Angaben des Statistischen Bundesamts ging die Zahl der geförderten Personen zwischen 1991 und 2021 trotz deutlich steigender Studierendenzahlen um 23 % zurück. Dennoch sind die Ausgaben für die Ausbildungsförderung gestiegen, vor allem weil ein wachsender Anteil der Geförderten den...
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