L e i t s a t z
zum Beschluß des Ersten Senats vom 26. April 1994
- 1 BvR 1299/89 und 1 BvL 6/90 -
- Mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) ist es nicht vereinbar, daß die Frist für die Anfechtung der Ehelichkeit durch das volljährig gewordene Kind nach § 1598 zweiter Halbsatz BGB auch dann zwei Jahre nach Eintritt der Volljährigkeit abläuft, wenn das Kind von den Umständen, die für seine Nichtehelichkeit sprechen, keine Kenntnis hat, und dem Kind insoweit auch eine spätere Klärung seiner Abstammung ausnahmslos verwehrt wird.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 1299/89 -
- 1 BvL 6/90 -
I. |
über die Verfassungsbeschwerde |
der Frau I. ..., |
- Bevollmächtigter: Rechtsanwalt Hans-Dieter Ziegele, Epplestraße 81, Stuttgart -
1. |
unmittelbar gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 31. August 1989 - 16 U 31/87 -, |
|
2. |
mittelbar gegen § 1598 zweiter Halbsatz BGB |
- 1 BvR 1299/89 -,
II. |
zur verfassungsrechtlichen Prüfung, ob § 1598 zweiter Halbsatz BGB, soweit er die Anfechtung der Ehelichkeit durch das Kind nach Eintritt der Volljährigkeit an eine zweijährige, kenntnisunabhängige Anfechtungsfrist bindet, mit Art. 1, Art. 2 Abs. 1 und Art. 3 GG vereinbar ist, |
- Aussetzungs- und Vorlagebeschluß des Amtsgerichts Frankfurt am Main vom 2. März 1990 (Hö 3 C 4453/89) - |
- 1 BvL 6/90 -
hat das Bundesverfassungsgericht - Erster Senat - unter Mitwirkung
des Präsidenten Herzog,
der Richter Henschel,
Seidl,
Grimm,
Söllner,
Kühling,
der Richterinnen Seibert,
Jaeger
am 26. April 1994 beschlossen:
- § 1598 zweiter Halbsatz in Verbindung mit § 1596 Absatz 1 Nummer 1 bis 3 und § 1593 des Bürgerlichen Gesetzbuchs in der Fassung des Gesetzes zur Vereinheitlichung und Änderung familienrechtlicher Vorschriften (Familienrechtsänderungsgesetz) vom 11. August 1961 (Bundesgesetzbl. I Seite 1221) ist mit Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes unvereinbar, soweit danach die Anfechtungsfrist auch dann zwei Jahre nach Eintritt der Volljährigkeit abläuft, wenn das Kind von den die Anfechtung ermöglichenden Umständen keine Kenntnis hat, und dem Kind nach Ablauf dieser Frist auch eine gerichtliche Klärung seiner Abstammung ausnahmslos verwehrt ist
- Das Urteil des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 31. August 1989 - 16 U 31/87 - verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes. Das Urteil wird aufgehoben. Die Sache wird an das Oberlandesgericht zurückverwiesen
- Das Land Baden-Württemberg hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen zu erstatten
A.
Die Verfahren betreffen die Frage, ob es mit dem Grundgesetz vereinbar ist, daß die Frist für die Anfechtung der Ehelichkeit durch das volljährig gewordene Kind (§ 1598 BGB) ausnahmslos mit dem Eintritt der Volljährigkeit beginnt, das Gesetz also nicht auf die Kenntnis der Anfechtungsgründe abstellt.
I.
1. Ein Kind, das in eine Ehe hineingeboren wird, gilt als ehelich. Seine Nichtehelichkeit kann nur geltend gemacht werden, wenn die Ehelichkeit angefochten und die Nichtehelichkeit rechtskräftig festgestellt worden ist (§ 1593 BGB). Außer dem Ehemann der Mutter ist unter den in § 1596 Abs. 1 BGB genannten Voraussetzungen das Kind anfechtungsberechtigt. § 1598 BGB gewährt dem volljährig gewordenen Kind ein eigenständiges Anfechtungsrecht. Die Vorschrift lautet:
Hat der gesetzliche Vertreter eines minderjährigen Kindes in den Fällen des § 1596 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 die Ehelichkeit nicht rechtzeitig angefochten, so kann das Kind, sobald es volljährig geworden ist, seine Ehelichkeit selbst anfechten; die Anfechtung ist nicht mehr zulässig, wenn seit dem Eintritt der Volljährigkeit zwei Jahre verstrichen sind.
2. Die Regelung über das Anfechtungsrecht des Kindes wurde durch das Gesetz zur Vereinheitlichung und Änderung familienrechtlicher Vorschriften (Familienrechtsänderungsgesetz) vom 11. August 1961 (BGBl. I S. 1221) geschaffen. Der Regierungsentwurf enthielt noch keine Vorschrift über ein selbständiges Anfechtungsrecht des volljährig gewordenen Kindes. Diese wurde auf Vorschlag des Bundesrates eingefügt, der dem Kind bei nicht rechtzeitiger Anfechtung durch den gesetzlichen Vertreter das Recht einräumen wollte, die Ehelichkeit in gleicher Weise anzufechten, wie wenn es ohne gesetzlichen Vertreter gewesen wäre (BTDrucks. III/530, S. 37).
Die Gesetz gewordene Fassung des § 1598 BGB beruht auf der Empfehlung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages. Dieser war der Ansicht, daß das Kind nach Erlangung der Volljährigkeit die Möglichkeit haben sollte, seine Ehelichkeit persönlich anzufechten. Die für die Anfechtung vorgesehene Frist von zwei Jahren hielt er für erforderlich, um den Status des Kindes innerhalb eines angemessenen Zeitraums zu klären (zu BTDrucks. III/2812, S. 5).
II.
1. Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen ein Urteil, in dem eine Anfechtungsklage wegen Ablaufs der Zweijahresfrist des § 1598 zweiter Halbsatz BGB als unzulässig angesehen wurde. Die Ehe der Mutter der 1958 geborenen Beschwerdeführerin wurde 1964 geschieden. Mit ihrer 1987 erhobenen Anfechtungsklage machte sie geltend, sie habe im Oktober 1985 - im Zusammenhang mit der Geburt ihres ersten Kindes - von ihrer Mutter erfahren, daß nicht deren früherer Ehemann, sondern ein anderer ihr Vater sei.
Das Oberlandesgericht wies mit der angegriffenen Entscheidung die Berufung der Beschwerdeführerin gegen das klagabweisende Urteil des Amtsgerichts zurück: Die Frist zur Anfechtung der Ehelichkeit sei 1978 abgelaufen. Das gelte unabhängig davon, ob die Beschwerdeführerin zu diesem Zeitpunkt von den Umständen, die für ihre Nichtehelichkeit sprächen, Kenntnis gehabt habe. § 1598 BGB sei mit dem Grundgesetz vereinbar. Es verstoße nicht gegen den Gleichheitssatz, daß die dem Ehemann der Mutter eingeräumte Anfechtungsfrist erst mit dessen Kenntnis von den Umständen beginne, die für die Nichtehelichkeit sprechen, die Anfechtungsfrist für das volljährige Kind dagegen ab Eintritt der Volljährigkeit laufe. Dem Interesse des Kindes an der Kenntnis seiner Abstammung stehe das Interesse an Rechtssicherheit gegenüber. Beim Anfechtungsrecht des Ehemannes konkurrierten das Interesse an Rechtssicherheit und die Vermögensinteressen des Ehemannes miteinander. Diesen habe der Gesetzgeber größeres Gewicht zumessen dürfen.
2. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung ihrer Grundrechte aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 und aus Art. 3 Abs. 1 GG.
Das Anfechtungsrecht des Kindes solle dem Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung Rechnung tragen. Die Beschränkung durch eine kenntnisunabhängige Frist sei nicht durch sachliche Gründe gerechtfertigt. Die Erwägung, das Kind müsse sich die Kenntnis der Mutter zurechnen lassen, reiche hierzu nicht aus, da es sich beim Recht auf Kenntnis um ein höchstpersönliches Recht des Kindes handele. Es sei unverhältnismäßig, die Ausübung dieses Rechts zu versagen, wenn sie wegen fehlender Kenntnis der Umstände, die für die Nichtehelichkeit sprechen, nicht früher möglich gewesen sei.
Mit dem Gleichheitssatz sei es nicht vereinbar, daß § 1594 Abs. 2 BGB für die Anfechtung durch den Ehemann auf den Zeitpunkt abstelle, in dem dieser Kenntnis von den maßgeblichen Umständen erlangt habe, § 1598 zweiter Halbsatz BGB aber für die Anfechtung durch das volljährige Kind eine kenntnisunabhängige Frist vorsehe. Die vom Oberlandesgericht genannten Erwägungen könnten die Ungleichbehandlung nicht rechtfertigen. Auch bei der Anfechtungsklage des Kindes könne es um Vermögensinteressen gehen. Vor allem aber wiege das Recht des Kindes auf Kenntnis seiner Abstammung mindestens ebenso schwer wie Vermögensinteressen.
III.
Der Kläger in dem Verfahren, das zur Vorlage geführt hat, wurde 1965 geboren. Die Ehe seiner Mutter wurde 1975 geschieden. 1989 begehrte er Prozeßkostenhilfe für eine Anfechtungsklage, zu deren Begründung er vortrug, er habe 1988 in einem Gespräch mit dem früheren Ehemann der Mutter von Zweifeln an seiner Ehelichkeit erfahren.
Das Amtsgericht wies den Antrag auf...