Beschluss vom 27.01.2022 - BVerwG 1 B 91.21

JurisdictionGermany
Judgment Date27 Enero 2022
Neutral CitationBVerwG 1 B 91.21
ECLIDE:BVerwG:2022:270122B1B91.21.0
Subject MatterAsylrecht
Registration Date14 Abril 2022
CourtDas Bundesverwaltungsgericht
Record Number270122B1B91.21.0

BVerwG 1 B 91.21

  • VG Minden - 05.02.2020 - AZ: VG 10 K 1131/19.A
  • OVG Münster - 01.10.2021 - AZ: OVG 11 A 913/20.A

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 27. Januar 2022
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Berlit, den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dollinger und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Fenzl
beschlossen:

  1. Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Beschluss des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 1. Oktober 2021 wird zurückgewiesen
  2. Die Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens
Gründe

1 Die auf die Zulassungsgründe eines Verfahrensmangels (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) (I.), der grundsätzlichen Bedeutung (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) (II.) und der Divergenz (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) (III.) gestützte Beschwerde hat keinen Erfolg.

2 I. Die Revision ist nicht wegen eines Verfahrensmangels zuzulassen.

3 1. Das Berufungsgericht hat nicht verfahrensfehlerhaft ohne mündliche Verhandlung entschieden. Soweit mit dem Vorbringen, das Oberverwaltungsgericht sei erst im Kontext der angegriffenen Entscheidung auf die Anregung zur Ansetzung eines Verhandlungstermins eingegangen, sinngemäß eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO) durch eine Überraschungsentscheidung hat gerügt werden sollen, liegt ein solcher Verfahrensmangel jedenfalls nicht vor.

4 1.1 Eine Überraschungsentscheidung ist nur gegeben, wenn das Gericht, das auf den Inhalt der beabsichtigten Entscheidung regelmäßig nicht vorab hinweisen muss, auf eine rechtliche Sichtweise oder auf eine bestimmte Bewertung des Sachverhalts abstellt, mit der auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen nicht zu rechnen braucht (BVerwG, Beschlüsse vom 8. August 2018 - 1 VR 9.18 - juris Rn. 3 und vom 5. November 2018 - 1 B 77.18 - juris Rn. 6).

5 Dies ist hier nicht der Fall. Die Beklagte musste mit Blick auf das Urteil des Senats vom 20. Juli 2021 - 11 A 1674/20.A - (juris) damit rechnen, dass das Berufungsgericht an seiner früheren Rechtsprechung zur Bewertung der Möglichkeiten von rückkehrenden Asylbewerbern oder Schutzberechtigten, dort ohne eine Verletzung ihrer durch Art. 4 GRC garantierten Rechte (über-)leben zu können, nicht festhalten würde. Sie hatte auch Gelegenheit, zu dem Ergebnis der Beweisaufnahme in zwei Parallelverfahren Stellung zu nehmen.

6 1.2 Das Berufungsgericht hat das rechtliche Gehör der Beklagten auch nicht dadurch verletzt, dass es im vereinfachten Berufungsverfahren ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss nach § 130a Satz 1 VwGO entschieden hat.

7 a) Der - wie hier - wirksam erklärte Verzicht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung (§ 101 Abs. 2 VwGO) ist als Prozesserklärung grundsätzlich nicht widerruflich (vgl. BVerwG, Urteil vom 24. Oktober 1968 - 3 C 83.67 - NJW 1969, 252 und Beschluss vom 17. Januar 1977 - 6 B 22.76 - Buchholz 232 § 159 BBG Nr. 6) und ermächtigt das Gericht auch ohne Hinweis auf das voraussichtliche Entscheidungsergebnis, ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden. Der Anspruch auf rechtliches Gehör gebietet es allerdings im Falle eines solchen Verzichts auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung, einen neuen, unbedingt gestellten Beweisantrag entsprechend einem in der mündlichen Verhandlung gestellten Beweisantrag zu behandeln und ihn vor der Sachentscheidung zu bescheiden (wie BVerwG, Urteil vom 28. November 1962 - 4 C 113.62 - BVerwGE 15, 175 ). Die Einverständniserklärung mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung kann allerdings auch durch eine grundlegend geänderte Prozesslage infolge einer Entscheidung des Gerichts, z.B. durch eine Anhörung nach § 125 VwGO (BVerwG, Beschluss vom 2. Oktober 2003 - 1 B 33.03 - InfAuslR 2004, 130 ), einen Auflagen- oder Beweisbeschluss (BVerwG, Beschluss vom 5. Juli 2016 - 4 B 21.16 - juris Rn. 9) oder die Einführung neuer Erkenntnismittel durch das Gericht (BVerwG, Beschluss vom 29. Dezember 1995 - 9 B 199.95 - Buchholz 310 § 101 VwGO Nr. 21 S. 3), "verbraucht" werden.

8 Ein solcher "Verbrauch" liegt hier vor, da das Oberverwaltungsgericht nach dem Einverständnis der Beklagten mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung in dem Verfahren 11 A 1674/20.A (juris) zum Nachteil der Beklagten geurteilt hat.

9 b) Das Recht der Beklagten auf rechtliches Gehör ist nicht durch die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts verletzt worden, im vorliegenden Rechtsstreit nach § 130a Satz 1 VwGO ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss zu entscheiden.

10 aa) Nach § 130a Satz 1 VwGO kann das Oberverwaltungsgericht über die Berufung durch Beschluss entscheiden, wenn es sie einstimmig für begründet oder einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die Beteiligten sind vorher zu hören (§ 130a Satz 2 i.V.m. § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO). Ist das sich auf die Begründetheit oder Unbegründetheit der Berufung beziehende Einstimmigkeitserfordernis erfüllt, steht die Entscheidung, ob ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss befunden wird, im weiten Ermessen des Gerichts. Das Revisionsgericht ist darauf beschränkt, die Entscheidung über die Durchführung des vereinfachten Berufungsverfahrens darauf zu überprüfen, ob das Oberverwaltungsgericht von seinem Ermessen fehlerfrei Gebrauch gemacht hat. Ein Absehen von einer mündlichen Verhandlung ist seitens des Revisionsgerichts nur zu beanstanden, wenn es auf sachfremden Erwägungen oder einer groben Fehleinschätzung des Berufungsgerichts beruht oder wenn im konkreten Fall Art. 6 EMRK beziehungsweise Art. 47 GRC die Durchführung einer mündlichen Verhandlung gebieten (BVerwG, Beschluss vom 21. Januar 2020 - 1 B 2.20 - Buchholz 310 § 130a VwGO Nr. 92 Rn. 4). Bei seiner Ermessensentscheidung gemäß § 130a Satz 1 VwGO hat das Gericht zu berücksichtigen, dass das Gebot, im Rahmen einer mündlichen Verhandlung die Rechtssache auch im Interesse der Ergebnisrichtigkeit mit den Beteiligten zu erörtern, umso stärker wird, je schwieriger die vom Gericht zu treffende Entscheidung ist. Die Grenzen von § 130a Satz 1 VwGO sind erreicht, wenn ohne mündliche Verhandlung entschieden wird, obwohl die Sache in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht außergewöhnliche Schwierigkeiten aufweist. Maßgeblich sind insoweit die Gesamtumstände des Einzelfalles (BVerwG, Beschluss vom 21. Januar 2020 - 1 B 2.20 - Buchholz 310 § 130a VwGO Nr. 92 Rn. 5).

11 bb) Daran gemessen war die Durchführung des vereinfachten Berufungsverfahrens nach § 130a VwGO hier nicht ermessensfehlerhaft.

12 Das Berufungsgericht hat die Beteiligten zu seiner Absicht, durch Beschluss nach § 130a Satz 1 VwGO zu entscheiden, mit Verfügung vom 17. August 2021, konkretisiert durch Verfügung vom 18. August 2021, vorab gehört. Dabei hat es auf sein in der Datenbank juris veröffentlichtes Urteil vom 20. Juli 2021 - 11 A 1674/20.A - Bezug genommen. Die Beklagte hat daraufhin zwar einer Entscheidung im vereinfachten Berufungsverfahren widersprochen, die Durchführung einer mündlichen Verhandlung indes lediglich angeregt. Sie hat weiteren Aufklärungsbedarf hinsichtlich der Frage geltend gemacht, ob für eine junge, gesunde und erwerbsfähige anerkannt Schutzberechtigte mit hoher Wahrscheinlichkeit bei einer Rückkehr nach Italien keine Möglichkeit bestehe, sich aus eigenen durch Erwerbstätigkeit zu erzielenden Mitteln mit den für ein Überleben notwendigen Gütern zu versorgen, zur Begründung dieses geltend gemachten Aufklärungsbedarfs auf in dem vorbezeichneten Urteil vom 20. Juli 2021 nicht berücksichtigte Quellen zum italienischen Arbeitsmarkt und dessen Entwicklung verwiesen und hieraus den Schluss gezogen, es sei unrealistisch anzunehmen, dass eine arbeitsfähige und -willige Person im gesamten Land keine Beschäftigung finden könne. Einen konkreten Beweisantrag zu einer bestimmten Beweistatsache hat sie indes nicht formuliert und auch nicht angekündigt, in der mündlichen Verhandlung einen solchen zu stellen (vgl. hierzu BVerwG, Beschluss vom 30. Oktober 2007 - 5 B 157.07 - juris Rn. 12). Entgegen der Darstellung der Beschwerdebegründung hat das Oberverwaltungsgericht das Vorbringen der Beklagten zur Entwicklung des italienischen Arbeitsmarkts nicht nur zur Kenntnis genommen, sondern auch erwogen und auf seine Rechtserheblichkeit geprüft, ohne indes von seiner in dem in Bezug genommenen Verfahren gebildeten Überzeugung abzugehen. In Anbetracht dessen musste sich das Berufungsgericht nicht veranlasst sehen, von einer Entscheidung nach § 130a Satz 1 VwGO abzusehen. Dies entspricht auch der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, wonach dann keine neue mündliche Verhandlung durchgeführt werden muss, wenn die Rechtssache keine Tatsachen- oder Rechtsfragen aufwirft, die sich nicht unter Heranziehung der Akten und der schriftlichen Erklärungen der Parteien angemessen lösen lassen. Für die Berufungsinstanz gelten jedenfalls keine strengeren Maßstäbe (BVerwG, Beschluss vom 21. Januar 2020 - 1 B 2.20 - Buchholz 310 § 130a VwGO Nr. 92 Rn. 8 m.w.N.).

13 Ebenso wenig gebot Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK vorliegend die Durchführung einer mündlichen Verhandlung. Die Norm findet auf den vorliegenden Rechtsstreit keine direkte Anwendung. Davon unberührt bleibt, dass die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu Art. 6 Abs. 1 EMRK entwickelten Anforderungen...

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