Beschluss vom 27. April 2004 - 2 BvR 1318/03
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2004:rk20040427.2bvr131803 |
Date | 27 April 2004 |
Judgement Number | 2 BvR 1318/03 |
Citation | BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 27. April 2004 - 2 BvR 1318/03 - Rn. (1-24), |
Court | Constitutional Court (Germany) |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 1318/03 -
über
die Verfassungsbeschwerde
der türkischen Staatsangehörigen K ... ,
Wittelsbacherstraße 6, 93049 Regensburg -
gegen a) | das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts Regensburg vom 8. Juli 2002 - RO 13 K 02.30506 -, |
b) | den Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 27. Juni 2003 - 11 ZB 02.31263 - |
und | Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung |
hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Richter Broß,
Di Fabio,
Gerhardt
gemäß § 93c in Verbindung mit § 93a Absatz 2 Buchstabe b BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 27. April 2004 einstimmig beschlossen:
Das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts Regensburg vom 8. Juli 2002 - RO 13 K 02.30506 – verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 16a Absatz 1 GG. Es wird aufgehoben.
Der Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 27. Juni 2003 - 11 ZB 02.31263 – ist damit gegenstandslos.
Der Freistaat Bayern hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die fachgerichtliche Feststellung und Beurteilung des Charakters einer staatlichen Maßnahme als politische Verfolgung.
I.
Die Beschwerdeführerin, eine türkische Staatsangehörige, begehrt ihre Anerkennung als Asylberechtigte.
1. a) Bei ihrer Anhörung vor dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge im September 2001 machte sie im Wesentlichen geltend, dass sie 1981 als angebliches Mitglied der Devrimci-Yol verhaftet, schwer misshandelt und als Grundschullehrerin suspendiert worden sei. Sie habe bis 1986 eine Freiheitsstrafe verbüßt und sei nach Istanbul verzogen. Dort habe sie an verschiedenen Demonstrationen und Veranstaltungen teilgenommen. Sie sei immer wieder von der Polizei aufgesucht und in Gewahrsam genommen worden, weil man ihr unterstellt habe, weiterhin für Devrimci-Yol tätig zu sein. Aus demselben Grund sei ihr Sohn 1996 verhaftet worden. Er befinde sich seitdem in Untersuchungshaft. Der auf sie ausgeübte Druck sei 1994 unerträglich geworden, nachdem sie versucht habe, ihre Versorgungsbezüge einzuklagen. Damit sei sie 1995 gescheitert. Die Polizei habe sie bis zu ihrer Ausreise immer wieder behelligt, belästigt und misshandelt und sie aufgefordert, als Spitzel zu arbeiten. Sie habe Angst gehabt, dass die Sicherheitskräfte ihre Drohungen wahr machten, sie zu töten.
b) Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge lehnte den Asylantrag ab, weil kein ursächlicher Zusammenhang zwischen der allein in Betracht kommenden behaupteten Verfolgung in den Jahren 1981 bis 1986 und der Ausreise bestehe. Die nach diesem Zeitraum angegebenen körperlichen Übergriffe durch die Sicherheitskräfte seien asylrechtlich unerheblich, weil ihnen keine politische Betätigung der Beschwerdeführerin zugrunde liege.
2. a) Mit ihrer vor dem Verwaltungsgericht erhobenen Klage ergänzte und vertiefte die Beschwerdeführerin ihr Vorbringen. Sie habe 1994 mit alten politischen Freunden eine Zeitung gegründet und sei unter einem Decknamen journalistisch tätig gewesen. Sie habe sich von der Zeitung getrennt, nachdem einige der Journalisten die einen gewalttätigen Kampf gegen den türkischen Staat befürwortende Dev-Yol-Erneuerungspartei (Dev-Yol-Yeniden-Yapilana) gegründet hätten. Für diese Partei habe auch ihr Sohn gearbeitet. Während der über Jahre hinweg immer häufigeren und immer längeren polizeilichen Vernehmungen sei sie gefoltert worden. Man habe sie beschimpft, geschlagen und gezwungen, sich nackt auszuziehen. Sie sei mit kaltem Wasser überschüttet und mit elektrischem Strom im Intimbereich gequält worden. Die Sicherheitskräfte hätten ihr Unterstützung der Dev-Yol-Erneuerungspartei vorgeworfen und Informationen über diese Partei von ihr haben wollen.
b) Das Verwaltungsgericht wies die Klage ab. Es verneinte eine Ursächlichkeit zwischen Verfolgung und Ausreise, weil sich die genannten Verfolgungsmaßnahmen auf den Zeitraum von 1981 bis 1995 beschränkten. Die bei der behördlichen Anhörung zunächst angegebenen Behelligungen...
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