Beschluss vom 28. Juli 2016 - 1 BvR 1644/15
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2016:rk20160728.1bvr164415 |
Judgement Number | 1 BvR 1644/15 |
Date | 28 July 2016 |
Citation | BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 28. Juli 2016 - 1 BvR 1644/15 - Rn. (1-24), |
Court | Constitutional Court (Germany) |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 1644/15 -
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn Z…, |
- Bevollmächtigter:
- Rechtsanwalt Dirk Thenhausen
in Sozietät Rechtsanwälte Schneider, Lindrath, Thenhausen,
Herforder Straße 74, 33602 Bielefeld -
gegen | a) | den Beschluss des Oberlandesgerichts München vom 10. Juni 2015 - 1 W 925/15 -, |
b) | den Beschluss des Landgerichts Augsburg vom 20. April 2015 - 011 O 4106/14 - |
hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Vizepräsidenten Kirchhof,
den Richter Masing
und die Richterin Baer
am 28. Juli 2016 einstimmig beschlossen:
- Der Beschluss des Landgerichts Augsburg vom 20. April 2015 - 011 O 4106/14 - und der Beschluss des Oberlandesgerichts München vom 10. Juni 2015 - 1 W 925/15 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Anspruch auf Rechtsschutzgleichheit aus Artikel 3 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes und werden aufgehoben.
- Die Sache wird zur erneuten Entscheidung an das Landgericht Augsburg zurückverwiesen.
- Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.
- Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.
- Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit für das Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 25.000 € (in Worten: fünfundzwanzigtausend Euro) festgesetzt.
I.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Zurückweisung eines Antrags auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für eine Amtshaftungsklage gegen den Freistaat Bayern wegen menschenunwürdiger Unterbringung in Strafhaft.
1. Mit Schriftsatz an das Landgericht A. vom 5. November 2014 übersandte der Beschwerdeführer einen Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe nebst Klageentwurf für eine Amtshaftungsklage gegen den Freistaat Bayern. Er machte geltend, im Zeitraum vom 9. Oktober 2013 bis zum 28. November 2013 insgesamt 51 Tage lang unter menschenunwürdigen Bedingungen in der Justizvollzugsanstalt L. in Haft gewesen zu sein. Vom 9. Oktober 2013 bis zum 6. November 2013 sei er gemeinsam mit drei weiteren Gefangenen im Haftraum Nr. 510 untergebracht gewesen, der eine Gesamtgrundfläche von 18 m2 gehabt habe; ein Holzverschlag habe die Toilette vom Haftraum getrennt, wobei ein Ventilator die Luft aus der Toilette in den Haftraum hineingeblasen habe. Vom 7. November 2013 bis zum 28. November 2013 sei der Beschwerdeführer mit zwei Mitgefangenen im Haftraum Nr. 76 untergebracht gewesen, der bei 16,65 m2 Grundfläche mit einer gleichartigen Toilette ausgestattet gewesen sei.
Der Beschwerdeführer monierte unter anderem den Verlust jeglicher Privatsphäre und unzumutbare Belastungen der Gefangenen, die aus dem erzwungenen engen körperlichen Kontakt rührten.
2. Mit angegriffenem Beschluss vom 20. April 2015 verweigerte das Landgericht dem Beschwerdeführer die Prozesskostenhilfe. Die Klage habe keine Aussicht auf Erfolg. Unter Bezugnahme auf Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofs führte das Landgericht - soweit hier erheblich - aus, dass sich nicht abstrakt-generell klären lasse, ob der Vollzug einer Strafhaft als menschenunwürdig anzusehen sei; vielmehr bedürfe es jeweils einer Gesamtschau der Umstände des Einzelfalls. Dabei kämen als Faktoren, die eine aus den räumlichen Haftbedingungen resultierende Verletzung der Menschenwürde indizierten, in erster Linie die Bodenfläche pro Gefangenen und die Situation der sanitären Anlagen in Betracht, namentlich Abtrennung und Belüftung der Toilette. Eine Menschenwürdeverletzung sei danach nicht festzustellen.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte gehe bei der Anwendung von Art. 3 EMRK als Leitlinie für die für jeden Gefangenen erforderliche Fläche von 4 m2 aus. Dieser Richtwert sei eingehalten. Darüber hinaus hätten dem Beschwerdeführer täglich umfangreiche Aufschlusszeiten und Freizeitangebote zur Verfügung gestanden.
Ein etwaiger Anspruch auf Entschädigung sei auch deswegen ausgeschlossen, weil der Beschwerdeführer die Beeinträchtigung seiner Menschenwürde nicht durch Gebrauch eines Rechtsmittels abgewendet habe. Gemäß § 839 Abs. 3 BGB führe dies zum Anspruchsverlust.
3. Mit Schriftsatz vom 18. Mai 2015 legte der Beschwerdeführer sofortige Beschwerde ein, die das Oberlandesgericht mit angegriffenem Beschluss vom 10. Juni 2015 zurückwies.
Die sofortige Beschwerde sei unbegründet, da nach der gebotenen Gesamtschau der Umstände des Einzelfalls eine Verletzung der Menschenwürde nicht vorliege. Wie die vom Freistaat vorgelegten Fotos belegten, seien die Toiletten der Hafträume nicht nur durch einen „Holzverschlag“, sondern baulich vollständig vom restlichen Raum getrennt und mit einem Aktivkohlefilter ausgestattet gewesen. Die dem Beschwerdeführer nach eigenem Vortrag im Haftraum Nr. 510 zur Verfügung stehenden 4,5 m2 anteiliger Fläche seien in Anbetracht der täglichen Aufschlusszeiten und der Arbeitstätigkeit des Beschwerdeführers ebenso ausreichend gewesen wie die 5,55 m2 anteiliger Fläche im Haftraum Nr. 76.
4. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer unter anderem eine Verletzung seines Anspruchs auf Rechtsschutzgleichheit aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.
5. Dem Justizministerium des Freistaats Bayern sowie der Präsidentin des Bundesgerichtshofs wurde Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben....
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