Beschluss vom 28. September 2022 - 1 BvR 2354/13
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2022:rs20220928.1bvr235413 |
Citation | BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 28. September 2022 - 1 BvR 2354/13 -, Rn. 1-167, |
Date | 28 Septiembre 2022 |
Judgement Number | 1 BvR 2354/13 |
Court | Constitutional Court (Germany) |
L e i t s ä t z e
zum Beschluss des Ersten Senats vom 28. September 2022
- 1 BvR 2354/13 -
(Bundesverfassungsschutzgesetz – Übermittlungsbefugnisse)
- Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes aus Art. 73 Abs. 1 Nr. 10 GG erstreckt sich nicht nur auf die Zusammenarbeit des Bundes und der Länder, sondern auch auf die der Länder untereinander. Sie umfasst hingegen nicht die Regelung der Zusammenarbeit zwischen Behörden desselben Landes
- Die Normenklarheit setzt der Verwendung gesetzlicher Verweisungsketten Grenzen, steht dieser aber nicht grundsätzlich entgegen. Bei der Normierung sicherheitsrechtlicher Datenverarbeitungen kann es zweckdienlich sein, auf Fachgesetze zu verweisen, in deren Kontext Auslegungsfragen – anders als bei heimlichen Maßnahmen – im Wechselspiel von Anwendungspraxis und gerichtlicher Kontrolle verbindlich geklärt werden können. Ob eine Verweisung mit dem Gebot der Normenklarheit vereinbar ist, hängt von einer wertenden Gesamtbetrachtung unter Berücksichtigung möglicher Regelungsalternativen ab. Das Erfassen des Normgehaltes wird insbesondere durch Verweisungsketten erleichtert, die die in Bezug genommenen Vorschriften vollständig aufführen
- Die Übermittlung mit nachrichtendienstlichen Mitteln erhobener personenbezogener Daten und Informationen durch den Verfassungsschutz zur Gefahrenabwehr kann als Übermittlungsschwelle grundsätzlich auch an die Gefahr der Begehung solcher Straftaten anknüpfen, bei denen die Strafbarkeitsschwelle durch die Pönalisierung von Vorbereitungshandlungen oder bloßen Rechtsgutgefährdungen in das Vorfeld von Gefahren verlagert wird. Der Gesetzgeber muss dann aber sicherstellen, dass in jedem Einzelfall eine konkrete oder konkretisierte Gefahr für das durch den Straftatbestand geschützte Rechtsgut vorliegt. Diese ergibt sich nicht notwendiger Weise bereits aus der Gefahr der Tatbestandsverwirklichung selbst
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 2354/13 -
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn (…), |
- Bevollmächtigter:
- (…) -
gegen |
§ 19 Absatz 1 Satz 1, § 20 Absatz 1 Satz 1 und 2 sowie § 21 Absatz 1 Satz 1 des Gesetzes über die Zusammenarbeit des Bundes und der Länder in Angelegenheiten des Verfassungsschutzes und über das Bundesamt für Verfassungsschutz (Bundesverfassungsschutzgesetz –BVerfSchG) – unter Bezugnahme auf das Rechtsextremismus-Datei-Gesetz (RED-G) |
hat das Bundesverfassungsgericht – Erster Senat –
unter Mitwirkung der Richterinnen und Richter
Präsident Harbarth,
Baer,
Britz,
Ott,
Christ,
Radtke,
Härtel,
Wolff
am 28. September 2022 beschlossen:
- § 20 Absatz 1 Satz 1 und 2 und § 21 Absatz 1 Satz 1 in Verbindung mit § 20 Absatz 1 Satz 1 und 2 des Gesetzes über die Zusammenarbeit des Bundes und der Länder in Angelegenheiten des Verfassungsschutzes und über das Bundesamt für Verfassungsschutz (Bundesverfassungsschutzgesetz) in der Fassung vom 20. Dezember 1990 (Bundesgesetzblatt I Seite 2954, 2970) sind mit Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes nicht vereinbar, soweit sie zur Übermittlung personenbezogener Daten verpflichten, die mit nachrichtendienstlichen Mitteln erhoben wurden.
- Bis zu einer Neuregelung, längstens jedoch bis zum 31. Dezember 2023, gelten die für mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärten Vorschriften mit der Maßgabe fort, dass eine Übermittlung von mit nachrichtendienstlichen Mitteln erhobenen personenbezogenen Daten nur zum Schutz eines Rechtsguts von herausragendem öffentlichem Interesse zulässig ist; dem entspricht eine Begrenzung auf besonders schwere Straftaten. Außerdem müssen die nach Maßgabe der Gründe an die jeweilige Übermittlungsschwelle zu stellenden Anforderungen erfüllt sein.
- Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde verworfen.
- Die Bundesrepublik Deutschland hat dem Beschwerdeführer drei Viertel seiner notwendigen Auslagen aus dem Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.
A.
Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen die allgemeinen Befugnisse des Bundesamtes für Verfassungsschutz sowie der Verfassungsschutzbehörden der Länder zur Übermittlung personenbezogener Daten und Informationen nach dem Gesetz über die Zusammenarbeit des Bundes und der Länder in Angelegenheiten des Verfassungsschutzes und über das Bundesamt für Verfassungsschutz (Bundesverfassungsschutzgesetz – BVerfSchG), soweit die Vorschriften des Gesetzes zur Errichtung einer standardisierten zentralen Datei von Polizeibehörden und Nachrichtendiensten von Bund und Ländern zur Bekämpfung des gewaltbezogenen Rechtsextremismus (Rechtsextremismus-Datei-Gesetz – RED-G) auf sie Bezug nehmen.
Der Beschwerdeführer wandte sich mit seiner im August 2013 erhobenen Verfassungsbeschwerde zunächst gegen § 19 Abs. 1 Satz 1 BVerfSchG in der Fassung vom 5. Januar 2007 (BGBl I S. 2), der eine Generalklausel zur ermessensabhängigen Übermittlung personenbezogener Daten durch das Bundesamt für Verfassungsschutz an inländische öffentliche Stellen enthielt. Weiter griff er § 20 Abs. 1 Satz 1 und 2 sowie § 21 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 20 Abs. 1 Satz 1 und 2 BVerfSchG jeweils in der Fassung vom 20. Dezember 1990 (BGBl I S. 2954) an, die die Übermittlungspflicht des Bundesamtes für Verfassungsschutz und der Verfassungsschutzbehörden der Länder an Polizeien und Staatsanwaltschaften zur Verhinderung und Verfolgung von Staatsschutzdelikten normieren.
Die angegriffenen Vorschriften werden durch § 8 RED-G in der Fassung vom 20. August 2012 (BGBl I S. 1798) in Bezug genommen, der für die Übermittlungen von Erkenntnissen aufgrund eines Ersuchens nach § 6 Abs. 1 Satz 1 RED-G zwischen den beteiligten Behörden auf die jeweils geltenden Übermittlungsvorschriften der Fachgesetze verweist.
Nach Erhebung der Verfassungsbeschwerde wurde § 19 Abs. 1 Satz 1 BVerfSchG durch das am 21. November 2015 in Kraft getretene Gesetz zur Verbesserung der Zusammenarbeit im Bereich des Verfassungsschutzes vom 17. November 2015 (BGBl I S. 1938) geändert.
I.
1. Die angegriffenen Regelungen betreffen die allgemeine Befugnis zur Übermittlung personenbezogener Daten durch das Bundesamt für Verfassungsschutz sowie die Übermittlungspflicht des Bundesamtes für Verfassungsschutz und der Verfassungsschutzbehörden der Länder an Strafverfolgungs- und Sicherheitsbehörden in Angelegenheiten des Staats- und Verfassungsschutzes. Daneben finden sich im Bundesverfassungsschutzgesetz und in anderen Fachgesetzen verschiedene auf spezifische Erhebungstatbestände abgestimmte Übermittlungsvorschriften, die nicht angegriffen wurden.
§ 19 Abs. 1 Satz 1 BVerfSchG ermöglichte in seiner ursprünglichen Fassung die Übermittlung personenbezogener Daten durch das Bundesamt für Verfassungsschutz an inländische öffentliche Stellen, wenn dies zur Erfüllung seiner Aufgaben erforderlich war oder der Empfänger die Daten zum Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder sonst für Zwecke der öffentlichen Sicherheit benötigte.
Mit dem Gesetz zur Verbesserung der Zusammenarbeit im Bereich des Verfassungsschutzes vom 17. November 2015 wurde diese Übermittlungsbefugnis umgestaltet. Das Ziel der Novelle war insbesondere, den Vorgaben des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 24. April 2013 zum Antiterrordateigesetz (BVerfGE 133, 277) Rechnung zu tragen. Deshalb sollten im Hinblick auf das informationelle Trennungsprinzip die Voraussetzungen klarstellend normiert werden, die für die Übermittlung von Erkenntnissen, die mit besonderen Mitteln nachrichtendienstlich gewonnen worden sind, an operativ tätige Behörden gelten (vgl. BTDrucks 18/4654, S. 32 f.). Die Übermittlung von mit nachrichtendienstlichen Mitteln nach § 8 Abs. 2 BVerfSchG erhobenen personenbezogenen Daten an diese Stellen wurde deshalb in § 19 Abs. 1 Satz 1 BVerfSchG neu geregelt, während die Datenübermittlung im Übrigen in § 19 Abs. 1 Satz 2 BVerfSchG n.F. verortet wurde. Zudem ergänzte der Gesetzgeber die Übermittlungsvariante „[wenn der Empfänger die Daten] sonst für Zwecke der öffentlichen Sicherheit benötigt“ um das Erfordernis „erheblicher“ Zwecke, um bagatellarische Sachverhalte auszuscheiden (vgl. BTDrucks 18/4654, S. 34).
§ 20 Abs. 1 Satz 1 BVerfSchG regelt als lex specialis (vgl. § 19 Abs. 1 Satz 1 a.E. BVerfSchG n.F.) die Übermittlung von Informationen einschließlich personenbezogener Daten durch das Bundesamt für Verfassungsschutz an die Staatsanwaltschaften und Polizeien in Angelegenheiten des Staats- und Verfassungsschutzes. Im Gegensatz zur ermessensabhängigen Übermittlungsbefugnis des § 19 BVerfSchG verpflichtet die Vorschrift das Bundesamt für Verfassungsschutz zur Informationsweitergabe. § 20 Abs. 1 Satz 2 BVerfSchG definiert die Staatsschutzdelikte unter Bezugnahme auf die Kataloge der §§ 74a und 120 des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) und enthält eine Generalklausel für sonstige Straftaten, die gegen die in Art. 73 Abs. 1 Nr. 10 Buchstabe b oder c GG genannten Schutzgüter gerichtet sind. An deren Schutz bestehe – zumal vor kriminellen Angriffen – ein herausragendes öffentliches Interesse (vgl. BTDrucks 18/4654, S. 34). § 21 Abs. 1 Satz 1 BVerfSchG erstreckt die Übermittlungspflichten des § 20 Abs. 1 Satz 1 und 2 BVerfSchG entsprechend auf die Verfassungsschutzbehörden der Länder.
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