Beschluss vom 30. September 2024 - 2 BvR 150/24
ECLI | ECLI:DE:BVerfG:2024:rk20240930.2bvr015024 |
Judgement Number | 2 BvR 150/24 |
Date | 30 September 2024 |
Citation | BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 30. September 2024 - 2 BvR 150/24 -, Rn. 1-46, |
Court | Constitutional Court (Germany) |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 150/24 -
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn (…), |
- Bevollmächtigte:
- (…) -
gegen | den Beschluss des Landgerichts Dortmund - Nebenstelle Amtsgericht Castrop-Rauxel - | |
vom 21. Dezember 2023 - 68 StVK 1030/23 - |
und | Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung von Professorin (…) |
hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Vizepräsidentin König
und die Richter Offenloch,
Wöckel
am 30. September 2024 einstimmig beschlossen:
- Der Beschluss des Landgerichts Dortmund - Nebenstelle Amtsgericht Castrop-Rauxel - vom 21. Dezember 2023 - 68 StVK 1030/23 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes.
- Der Beschluss wird aufgehoben und die Sache an das Landgericht Dortmund zurückverwiesen.
- Das Land Nordrhein-Westfalen hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen im Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten. Damit erledigt sich der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung der Bevollmächtigten des Beschwerdeführers.
- Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 15.000 (in Worten: fünfzehntausend) Euro festgesetzt.
Der inhaftierte Beschwerdeführer wendet sich gegen einen in einem Eilrechtsschutzverfahren ergangenen Beschluss betreffend seine Verlegung in eine andere Justizvollzugsanstalt.
I.
1. Der Beschwerdeführer wurde mit Urteil des Landgerichts Dortmund vom 10. Mai 2013 zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Zur Vollstreckung der Freiheitsstrafe befand er sich seit dem 25. Januar 2023 im offenen Vollzug der Justizvollzugsanstalt Castrop-Rauxel. Dort wurde er in einem anstaltsinternen Kammerbetrieb beschäftigt, wo er eine Vergütung von rund 400 Euro monatlich erhielt. Zudem ist er Student der Rechtswissenschaft an einer Fernuniversität.
2. Mit Schreiben vom 10. November 2023 wandte sich die Justizvollzugsanstalt Castrop-Rauxel offenbar wegen einer möglichen Verlegung des Beschwerdeführers an die Justizvollzugsanstalt Bielefeld-Senne. Hierauf antwortete Letztere mit Schreiben vom 16. November 2023, sie könne einen Verlegungsgrund im Sinne des § 11 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 des Strafvollzugsgesetzes Nordrhein-Westfalen (StVollzG NRW) nicht erkennen. Gleichwohl solle auch nach ihrer Ansicht eine Verlegung des Beschwerdeführers in den geschlossenen Vollzug vorerst vermieden werden. Er könne daher, zunächst für einen Zeitraum von drei Monaten, in die Justizvollzugsanstalt Bielefeld-Senne verlegt werden. Gegebenenfalls könne er sich dort ausreichend konsolidieren und bewähren, sodass er in Zukunft wieder besser durch den Vollzug erreichbar sein werde. Ob eine dauerhafte Unterbringung in der Justizvollzugsanstalt Bielefeld-Senne möglich sei, werde deren Leiterin kurz vor Ablauf der drei Monate entscheiden. Es werde gebeten, den Beschwerdeführer zu informieren, dass er für das Zugangsverfahren zunächst im Hafthaus Ummeln und im Anschluss voraussichtlich in der Außenstelle Pavenstädt untergebracht werde.
3. Den Angaben des Beschwerdeführers zufolge eröffnete ihm die Justizvollzugsanstalt Castrop-Rauxel am 27. November 2023 gegen 8:15 Uhr, dass er in den offenen Vollzug der Justizvollzugsanstalt Bielefeld-Senne verlegt werde. Hierzu sei ihm deren Schreiben vom 16. November 2023 übergeben worden. Ein Telefonat sei ihm verweigert worden, ebenso die Mitnahme seines Telefons und seines Bargelds. Lediglich ein kleines Handgepäckstück habe er mitnehmen dürfen. Gegen 9:00 Uhr sei er per Einzeltransport in das Hafthaus Ummeln der Justizvollzugsanstalt Bielefeld-Senne und von dort aus am 28. November 2023 in die Außenstelle Pavenstädt gebracht worden.
4. Mit Schreiben vom 29. November 2023 stellte der Beschwerdeführer bei der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Dortmund einen „Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen die JVA Castrop-Rauxel“. Wörtlich beantragte er, die Justizvollzugsanstalt im Wege einer einstweiligen Anordnung anzuweisen, ihn „unverzüglich wieder in der JVA [Castrop-Rauxel] aufzunehmen, bis die StVK in der Hauptsache über die Verlegung entschieden hat“. Die Justizvollzugsanstalt Castrop-Rauxel habe ihm keine Gründe für die Verlegung mitgeteilt. Er sei hierdurch erheblich beschwert, weil er die Zulassung für vollzugsöffnende Maßnahmen verloren habe. Die Justizvollzugsanstalt Bielefeld-Senne werde erst in vier bis acht Wochen darüber entscheiden, ob und welche Lockerungen er künftig erhalte. Sein Fernstudium könne er durch die Verlegung auf unbestimmte Zeit nicht fortsetzen. Außerdem sei kein persönlicher Kontakt zu seinen Eltern und Bekannten, den er durch die vollzugsöffnenden Maßnahmen gehalten habe, möglich, weil diese Personen ihn wegen der Entfernung und der Bindung an den öffentlichen Personennahverkehr nicht besuchen könnten. Zudem sei er zum Sachverhalt, der die Verlegung rechtfertigen müsste, nicht angehört worden. Durch die sofortige Durchführung der Verlegung und die Verweigerung eines Telefonats sei ihm die Möglichkeit sofortigen Rechtsschutzes verwehrt worden. Die Justizvollzugsanstalt müsse an der sofortigen Umsetzung der Maßnahme ein Interesse haben, das seinem Interesse an der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes vorgehe. Es sei nicht erkennbar, ob sie solche Erwägungen angestellt habe. Gegen eine Eilbedürftigkeit spreche, dass die Justizvollzugsanstalt Castrop-Rauxel ihr Ersuchen schon am 10. November 2023 an die Justizvollzugsanstalt Bielefeld-Senne gerichtet und am 16. November 2023 die Zusage erhalten habe. Der die Verlegung begründende Sachverhalt liege somit mindestens drei Wochen zurück.
5. Darüber hinaus stellte der Beschwerdeführer mit Schreiben vom 3. Dezember 2023 einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung gemäß § 109 Abs. 1 StVollzG, der am 6. Dezember 2023 bei Gericht einging. Zur Begründung wiederholte er im Wesentlichen sein Vorbringen aus dem Antrag vom 29. November 2023. Ergänzend führte er bezüglich seines Fernstudiums aus, in Pavenstädt gebe es keinen Online-Zugang; Ausgänge für das Studium habe er nicht mehr. Seine Studienunterlagen befänden sich in der Justizvollzugsanstalt Castrop-Rauxel und würden erfahrungsgemäß erst in acht bis zwölf Wochen nachgeliefert. Seinen 81- und 84-jährigen Eltern sei es nicht möglich, nach Pavenstädt zu kommen. Bis zu seiner Verlegung habe er 35 Begleitausgänge und 25 Ausgänge beanstandungsfrei absolviert. Infolge der Verlegung gingen die vollzugsöffnenden Maßnahmen jedoch verloren.
6. Mit Schriftsatz vom 8. Dezember 2023 zeigte die Bevollmächtigte des Beschwerdeführers dessen Vertretung in den beiden fachgerichtlichen Verfahren an. Mit Blick auf den Eilantrag „nach § 114 Abs. 2 S. 1 StVollzG“ werde beantragt, sämtliche gegebenenfalls vorliegenden Stellungnahmen der Justizvollzugsanstalt umgehend zu übersenden. Bisher sei keine Begründung für die Verlegung ersichtlich. Eine rechtsgrundlose Verlegung sei rechtswidrig. Sie greife zudem in das Grundrecht des Beschwerdeführers auf Resozialisierung ein. Er sei von seinem Lebensumfeld, insbesondere seinen in Dortmund lebenden Eltern, die aufgrund ihres Lebensalters über eine eingeschränkte Mobilität verfügten, „wegverlegt“ worden. Außerdem könne er sein Fernstudium nicht weiterbetreiben; insoweit werde auf die eigenen Schriftsätze des Beschwerdeführers im Eil- und Hauptsacheverfahren verwiesen. Infolge der Verlegung drohe ihm ein irreparabler Schaden betreffend sein Studium, seinen Resozialisierungsprozess und seine familiären Beziehungen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts müsse ihm umgehend Eilrechtsschutz gewährt werden (unter Verweis auf BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 24. März 2023 - 2 BvR 116/23 -, Rn. 17 ff.). Eine entsprechende Abwägung könne derzeit nur zu seinen Gunsten ausfallen.
7. Mit Schreiben vom 14. Dezember 2023 teilte das Landgericht der Bevollmächtigten des Beschwerdeführers mit, außer dessen Schriftsätzen liege bislang nichts vor. Die Stellungnahmefrist für die Justizvollzugsanstalt laufe noch bis zum 20. Dezember 2023. Eine Vorwegnahme der Hauptsache ohne Stellungnahme der Antragsgegnerin komme nicht in Betracht. Am 20. Dezember 2023 informierte das Landgericht die Bevollmächtigte des Beschwerdeführers außerdem darüber, die Justizvollzugsanstalt kontaktiert zu haben, da eine Stellungnahme von dort bislang nicht eingegangen sei. Das Gericht habe mitgeteilt, spätestens am 22. Dezember 2023 über den Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz zu entscheiden; bis dahin werde zumindest eine summarische Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt erwartet.
8. Am 21. Dezember 2023 gab die Justizvollzugsanstalt Castrop-Rauxel eine Stellungnahme ab und beantragte, den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung als unzulässig zu verwerfen, hilfsweise als unbegründet zurückzuweisen.
Der Antrag sei unzulässig. Gemäß § 114 Abs. 2 Satz 2 StVollzG in Verbindung mit § 123 Abs. 1 VwGO könne das Gericht eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen, wenn dies zur Abwendung wesentlicher Nachteile oder aus anderem Grund nötig erscheine. Eine Vorwegnahme der Hauptsache im Verfahren der einstweiligen Anordnung sei dabei jedoch grundsätzlich unzulässig. Eine Ausnahme gelte bei besonders schweren,...
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