Urteil Nr. B 1 KR 9/18 R des Bundessozialgericht, 2020-05-26

Judgment Date26 Mayo 2020
ECLIDE:BSG:2020:260520UB1KR918R0
Judgement NumberB 1 KR 9/18 R
CourtDer Bundessozialgericht (Deutschland)
Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 15. Februar 2018 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Versorgung des Klägers mit dem Arzneimittel Fampyra.

Der Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. B. beantragte für den bei der beklagten Krankenkasse (KK) versicherten Kläger am 24.2.2016 die Versorgung mit dem Arzneimittel Fampyra im Off-Label-Use zur Behandlung seiner zerebellaren Ataxie bei kernspintomographisch nachgewiesener Kleinhirnatrophie. Ein vorausgegangener Therapieversuch aufgrund privatärztlicher Verordnung habe die Gangstörung deutlich verbessert. Fampyra ist nur zur Behandlung der Gangstörung bei Multipler Sklerose zugelassen. Die Beklagte veranlasste eine Begutachtung durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) und teilte dies dem Kläger unter dem 26.2.2016 mit. Die Beklagte lehnte aufgrund des MDK-Gutachtens vom 26.4.2016 die beantragte Versorgung des Klägers mit Bescheid vom 17.5.2016 und Widerspruchsbescheid vom 12.1.2017 ab. Die Voraussetzungen eines Off-Label-Use seien nicht gegeben. Das SG hat unter Aufhebung dieser Bescheide die Beklagte verurteilt, den Kläger entsprechend ärztlicher Verordnung mit Fampyra zu versorgen (Gerichtsbescheid vom 5.9.2017). Das LSG hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Der Kläger habe aus der fingierten Genehmigung seines hinreichend bestimmten, zulässigen Antrags einen Anspruch auf Versorgung mit Fampyra. Diese sei weder durch die rechtswidrige nachträgliche Ablehnung des Antrags entfallen noch habe sie sich auf andere Weise erledigt. Die Beklagte habe den Antrag des Klägers nicht innerhalb der hier maßgeblichen gesetzlichen Frist von fünf Wochen beschieden. Der Kläger habe die Versorgung mit Fampyra aufgrund der Stellungnahme seines Arztes auch subjektiv für erforderlich halten dürfen (Urteil vom 15.2.2018).

Die Beklagte rügt mit ihrer Revision die Verletzung von § 13 Abs 3a SGB V. Die Regelung begründe keinen Naturalleistungsanspruch des Versicherten auf Versorgung mit einem Arzneimittel im Rahmen des Off-Label-Use. Sie sei zudem auf Ansprüche, die - wie hier - eine Dauermedikation zum Gegenstand hätten, nicht anwendbar. Auch fehle es an einem fiktionsfähigen Antrag.

Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 15. Februar 2018 sowie den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Speyer vom 5. September 2017 aufzuheben und die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 15. Februar 2018 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision der beklagten KK ist im Sinne der Zurückverweisung der Sache an das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).

Der Kläger begehrt die Versorgung mit dem Arzneimittel Fampyra als Dauermedikation. Er stützt sich dabei in erster Linie auf eine eingetretene Genehmigungsfiktion (§ 13 Abs 3a Satz 6 SGB V). Er verfolgt dieses Ziel in zulässiger Weise mit einer allgemeinen Leistungsklage und einer gegen die Ablehnungsentscheidung der Beklagten gerichteten isolierten Anfechtungsklage, denn für die Zulässigkeit der allgemeinen Leistungsklage kann sich der Kläger weiterhin auf die bisherige ständige Rechtsprechung des erkennenden Senats berufen (vgl nur BSG vom 11.7.2017 - B 1 KR 26/16 R - BSGE 123, 293 = SozR 4-2500 § 13 Nr 36, RdNr 8 ff). Die verfassungsrechtliche Garantie effektiven Rechtsschutzes lässt es nicht zu, eine im Zeitpunkt ihrer Erhebung zulässige Leistungsklage im Revisionsurteil als unzulässig anzusehen, wenn das Revisionsgericht im Revisionsurteil - wie im vorliegenden Fall - seine im Zeitpunkt der Revisionseinlegung noch maßgebliche Rechtsprechung insoweit aufgibt.

Der Kläger hat keinen Leistungsanspruch auf die Versorgung mit dem Arzneimittel Fampyra allein aufgrund eingetretener Genehmigungsfiktion. Seine hierauf gestützte allgemeine Leistungsklage ist unbegründet. Die Genehmigungsfiktion nach § 13 Abs 3a Satz 6 SGB V vermittelt keinen eigenständigen Anspruch auf Versorgung mit einer Naturalleistung, sondern nur ein Recht auf Selbstbeschaffung bei Ablauf der in § 13 Abs 3a SGB V genannten Fristen mit Anspruch auf Erstattung der Beschaffungskosten. Insoweit gibt der Senat seine bisherige Rechtsprechung auf (dazu 1.). Kosten der Selbstbeschaffung sind nach Eintritt der Genehmigungsfiktion auch dann erstattungsfähig, wenn das Recht der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) einen entsprechenden Anspruch nicht vorsieht, es sei denn, dass der Versicherte dies im Zeitpunkt der Selbstbeschaffung der Leistung wusste oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht wusste (dazu 2.). Der Kläger kann dagegen im Wege der Anfechtungsklage die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung der Beklagten über den ursprünglichen Antrag nicht bereits wegen der Genehmigungsfiktion verlangen. Die Genehmigungsfiktion nach § 13 Abs 3a Satz 6 SGB V ist kein fingierter Verwaltungsakt. Auch insoweit gibt der erkennende Senat seine bisherige Rechtsprechung auf (dazu 3.). Soweit der Kläger sein Begehren hilfsweise auf § 27 Abs 1 Satz 2 Nr 3 iVm § 31 SGB V und die Grundsätze über den Off-Label-Use stützt, verfolgt er dieses Begehren zulässigerweise mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage. Ob die danach als zulässig anzusehende Klage begründet ist, kann der Senat wegen fehlender Feststellungen des LSG nicht abschließend entscheiden (dazu 4.).

1. Eine fingierte Genehmigung nach dem Leistungsrecht der GKV (§ 13 Abs 3a Satz 6 SGB V) begründet keinen eigenständigen Naturalleistungsanspruch (Aufgabe von BSG vom 8.3.2016 - B 1 KR 25/15 R - BSGE 121, 40 = SozR 4-2500 § 13 Nr 33 RdNr 25; zuletzt BSG vom 27.8.2019 - B 1 KR 36/18 R - SozR 4-2500 § 13 Nr 48 RdNr 16; gegen einen Naturalleistungsanspruch auch Hessisches LSG vom 10.12.2015 - L 1 KR 413/14 - juris RdNr 31 ff; Bayerisches LSG vom 7.9.2016 - L 20 KR 597/15 - juris RdNr 28 ff; LSG Nordrhein-Westfalen vom 6.4.2017 - L 16 KR 202/16 - juris RdNr 42 ff; Helbig in jurisPK-SGB V, 4. Aufl 2020, § 13 RdNr 141 ff; Knispel, SGb 2014, 374 ff; ders, GesR 2017, 749, 753; von Koppenfels-Spies, NZS 2016, 601, 603 f; Rieker, NZS 2015, 294, 297; Heinig in NK-GesundhR, 2. Aufl 2018, § 13 SGB V RdNr 34; Barkow von Creytz, KrV 2020, 6, 9; für einen Naturalleistungsanspruch Noftz in Hauck/Noftz, SGB V, Stand Juli 2019, § 13 RdNr 58r; Schifferdecker in Kasseler Komm, SGB V, Stand August 2019, § 13 RdNr 134 und 145; Ulmer in Eichenhofer/von Koppenfels-Spies/Wenner, SGB V, 3. Aufl 2018, § 13 RdNr 81; ders, SGb 2017, 567, 568 f). Sie vermittelt dem Versicherten eine Rechtsposition sui generis. Diese erlaubt es ihm, sich die Leistung (bei Gutgläubigkeit, dazu siehe 2.) selbst zu beschaffen und verbietet es der KK nach erfolgter Selbstbeschaffung, eine beantragte Kostenerstattung mit der Begründung abzulehnen, nach dem Recht der GKV bestehe kein Rechtsanspruch auf die Leistung. Dies folgt aus Entstehungsgeschichte (dazu b), Binnensystematik der Vorschrift (dazu c) und der Fortentwicklung des Genehmigungsfiktionsrechts in der parallelen Vorschrift des § 18 Abs 1 bis 6 SGB IX (dazu d). Der Wortlaut der Vorschrift (dazu a) erlaubt diese Auslegung. Sie steht auch im Einklang mit dem Regelungszweck (dazu e). § 13 Abs 3a Satz 6 und 7 SGB V stehen nach dieser Auslegung auch in Einklang mit höherrangigem Recht. Art 3 Abs 1 GG wird nicht verletzt (dazu f).

a) § 13 Abs 3a SGB V regelt die Fiktion der Genehmigung eines nicht fristgerecht beschiedenen Antrags und deren Rechtsfolgen. Die Vorschrift ist durch Art 2 Nr 1 Gesetz zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten (PatRVerbG) vom 20.2.2013 (BGBl I 277) mit Wirkung vom 26.2.2013 ins SGB V eingefügt und zuletzt durch Art 1 Nr 2a Gesetz für bessere und unabhängigere Prüfungen (MDK-Reformgesetz) vom 14.12.2019 (BGBl I 2789) mit Wirkung vom 1.1.2020 geändert worden. Sie hat - soweit hier relevant - folgenden Wortlaut:
"Satz 1> Die Krankenkasse hat über einen Antrag auf Leistungen zügig, spätestens bis zum Ablauf von drei Wochen nach Antragseingang oder in Fällen, in denen eine gutachtliche Stellungnahme, insbesondere des Medizinischen Dienstes, eingeholt wird, innerhalb von fünf Wochen nach Antragseingang zu entscheiden. Satz 2> Wenn die Krankenkasse eine gutachtliche Stellungnahme für erforderlich hält, hat sie diese unverzüglich einzuholen und die Leistungsberechtigten hierüber zu unterrichten. (…) Satz 5> Kann die Krankenkasse Fristen nach Satz 1 oder Satz 4 nicht einhalten, teilt sie dies den Leistungsberechtigten unter Darlegung der Gründe rechtzeitig schriftlich mit. Satz 6> Erfolgt keine Mitteilung eines hinreichenden Grundes, gilt die Leistung nach Ablauf der Frist als genehmigt. Satz 7> Beschaffen sich Leistungsberechtigte nach Ablauf der Frist eine erforderliche Leistung selbst, ist die Krankenkasse zur Erstattung der hierdurch entstandenen Kosten verpflichtet. (…)."

Aus dem Wortlaut der Vorschrift ergibt sich nur, dass mit Eintritt der Genehmigungsfiktion nach Ablauf der Frist Versicherte die Möglichkeit der Selbstbeschaffung mit Anspruch auf Kostenerstattung haben. Sie regelt aber weder die Rechtsnatur der Genehmigungsfiktion iS eines Verwaltungsakts noch ordnet sie einen Naturalleistungsanspruch sui generis als ihre Rechtsfolge ausdrücklich an.

b) Die Gesetzesmaterialien bestätigen diesen Wortlautbefund. Danach wollte der Gesetzgeber mit § 13 Abs 3a Satz 6 und 7 SGB V nur einen eigenständigen Kostenerstattungsanspruch schaffen. Der Entwurf der Bundesregierung eines PatRVerbG (BT-Drucks 17/10488) sah ein Verfahren zur Beschleunigung der Bewilligungsverfahren bei den KKn vor. Es sollte zur schnellen Klärung von Leistungsansprüchen führen und...

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