Urteil Nr. B 1 KR 1/18 R des Bundessozialgericht, 2018-09-11
Judgment Date | 11 Septiembre 2018 |
ECLI | DE:BSG:2018:110918UB1KR118R0 |
Judgement Number | B 1 KR 1/18 R |
Court | Der Bundessozialgericht (Deutschland) |
Ein Versicherter hat gegen seine Krankenkasse, die eine fiktiv genehmigte Krankenbehandlung rechtswidrig ablehnt, Anspruch auf Erstattung der Kosten, die ihm aufgrund privater Selbstbeschaffung im Ausland entstehen.
TenorAuf die Revision des Klägers werden die Urteile des Hessischen Landessozialgerichts vom 9. November 2017 und des Sozialgerichts Gießen vom 7. März 2017 sowie der Bescheid der Beklagten vom 13. Januar 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. Juni 2015 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger 4200 Euro zu zahlen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits in allen Rechtszügen.
Die Beteiligten streiten über die Erstattung der Kosten einer Hautstraffungsoperation an Bauch (Abdominalplastik) und Brust in der Türkei.
Der bei der beklagten Krankenkasse (KK) versicherte Kläger beantragte befundgestützt die Versorgung mit einer Hautstraffungsoperation im Bauch- und Brustbereich nach vorausgegangener massiver Gewichtsabnahme (27.11.2014). Die Beklagte kündigte eine Überprüfung durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) an und forderte den Kläger auf, weitere Unterlagen vorzulegen (2.12.2014). Nach deren Eingang beauftragte sie den MDK mit der Erstellung eines Gutachtens und unterrichtete den Kläger, dass er benachrichtigt werde, sobald das Gutachten vorliege (29.12.2014). Der MDK hielt die beantragte Hautstraffungsoperation für nicht notwendig (7.1.2015). Gestützt hierauf lehnte die Beklagte die beantragte Versorgung ab (Bescheid vom 13.1.2015; Widerspruchsbescheid vom 24.6.2015). Der Kläger hat sich die Hautstraffungsoperation in der Türkei auf eigene Kosten selbst beschafft (7.8.2015; 4200 Euro). Er ist mit seiner auf Kostenerstattung gerichteten Klage ohne Erfolg geblieben (Urteil des SG vom 7.3.2017). Das LSG hat die Berufung zurückgewiesen. Der Kläger habe zwar dem Grunde nach einen Anspruch auf Versorgung mit einer derartigen Operation wegen des Eintritts einer Genehmigungsfiktion nach § 13 Abs 3a SGB V. Er habe diesen aber nicht durch die selbst beschaffte Operation realisieren können, da sein Anspruch während des Aufenthaltes in der Türkei gemäß § 16 Abs 1 S 1 Nr 1 SGB V geruht habe (Urteil vom 9.11.2017).
Der Kläger rügt mit seiner Revision die Verletzung von § 13 Abs 3a S 7 iVm § 16 Abs 1 S 1 Nr 1 SGB V. Der Sanktionscharakter der Genehmigungsfiktion spreche gegen ein Ruhen des vom Versicherten erworbenen Anspruchs bei einer Selbstbeschaffung im Ausland.
Der Kläger beantragt,
die Urteile des Hessischen Landessozialgerichts vom 9. November 2017 und des Sozialgerichts Gießen vom 7. März 2017 sowie den Bescheid der Beklagten vom 13. Januar 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. Juni 2015 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger 4200 Euro zu erstatten.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
EntscheidungsgründeDie zulässige Revision des Klägers ist begründet (§ 170 Abs 1 S 1 SGG). Zu Unrecht hat das LSG die Berufung des Klägers gegen das klageabweisende SG-Urteil zurückgewiesen. Die nunmehr ausschließlich auf Kostenerstattung gerichtete Klage ist zulässig (dazu 1.) und begründet. Der Kläger hat aufgrund fingierter Genehmigung seines Antrags und der Ablehnung der beklagten KK, ihm die beantragte Leistung im System der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) zu gewähren, Anspruch auf Erstattung der Kosten, die ihm für die selbst beschaffte Hautstraffungsoperation entstanden (dazu 2.). Die Ablehnungsentscheidung der beklagten KK (Bescheid vom 13.1.2015; Widerspruchsbescheid vom 24.6.2015) ist rechtswidrig (dazu 3.).
1. Gegenstand des Rechtsstreits sind zwei in einer Klage im Wege der objektiven Klagehäufung (§ 56 SGG) zusammen verfolgte zulässige Klagebegehren: Die allgemeine Leistungsklage auf Kostenerstattung (dazu a) und die (isolierte) Anfechtungsklage gegen die Ablehnungsentscheidung (dazu b).
a) Die von dem Kläger erhobene allgemeine Leistungsklage ist zulässig. Nach § 54 Abs 5 SGG kann die Verurteilung zu einer Leistung, auf die ein Rechtsanspruch besteht, auch dann begehrt werden, wenn ein Verwaltungsakt nicht zu ergehen hatte. Hierfür genügt es, dass ein bindender Verwaltungsakt (§ 77 SGG) vorliegt, der Leistungsträger aber gleichwohl nicht leistet (vgl BSGE 50, 82, 83 = SozR 1500 § 54 Nr 40 S 22 f; s ferner Zeihe in Zeihe/Hauck, SGG, Stand April 2018, § 54 RdNr 43b). Ist die Genehmigung einer beantragten Leistung kraft Fiktion erfolgt, steht dies der Bewilligung der beantragten Leistung durch einen Leistungsbescheid gleich. Die Genehmigungsfiktion bewirkt ohne Bekanntgabe (§§ 37, 39 Abs 1 SGB X) einen in jeder Hinsicht voll wirksamen Verwaltungsakt iS von § 31 S 1 SGB X. Durch den Eintritt der Fiktion verwandelt sich der hinreichend inhaltlich bestimmte Antrag in den Verfügungssatz des fingierten Verwaltungsakts. Er hat zur Rechtsfolge, dass das in seinem Gegenstand durch den Antrag bestimmte Verwaltungsverfahren beendet ist und dem Versicherten unmittelbar ein Anspruch auf Versorgung mit der Leistung zusteht (vgl zum Ganzen BSG SozR 4-2500 § 13 Nr 36 RdNr 8 mwN, auch für BSGE vorgesehen; BSG SozR 4-2500 § 13 Nr 39 RdNr 9, auch zur Veröffentlichung in BSGE vorgesehen). Beschafft sich der Versicherte während des Verfahrens die Leistung selbst und begehrt Erstattung der hierdurch entstandenen Kosten, ändert sich die statthafte Klageart nicht (zur Zulässigkeit der Umstellung eines Sachleistungsbegehrens auf einen Kostenerstattungsanspruch vgl zB BSG Urteil vom 24.4.2018 - B 1 KR 10/17 R - Juris RdNr 8 mwN, für BSGE und SozR 4 vorgesehen).
Die allgemeine Leistungsklage tritt nicht hinter die Feststellungsklage zurück (§ 55 Abs 1 Nr 1 SGG). Mit der allgemeinen Leistungsklage kann ein Kläger effektiven Rechtsschutz (Art 19 Abs 4 S 1 GG) erlangen, wenn sich eine KK - wie hier - weigert, eine durch Verwaltungsakt zuerkannte Leistung zu erbringen. Ihm bleibt nur die Leistungsklage, um einen Vollstreckungstitel zu erhalten (§ 199 Abs 1 Nr 1 SGG). Eine Vollstreckung aus Verwaltungsakten gegen die öffentliche Hand ist nicht vorgesehen (vgl BSGE 50, 82, 83 = SozR 1500 § 54 Nr 40 S 23; BSGE 75, 262, 265 = SozR 3-8560 § 26 Nr 2 S 15). Die allgemeine Leistungsklage und nicht eine kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 4 SGG) ist statthaft. Denn der Kläger stützt sein Begehren gerade auf den Eintritt der fingierten Genehmigung seines Antrags (§ 13 Abs 3a S 6 SGB V), auf einen fingierten Leistungsbescheid, der in Bestandskraft erwachsen ist. § 86 SGG findet keine Anwendung.
b) Die gegen die Ablehnungsentscheidung neben der allgemeinen Leistungsklage erhobene isolierte Anfechtungsklage ist zulässig (vgl BSG SozR 4-2500 § 13 Nr 36 RdNr 10 mwN, auch für BSGE vorgesehen; BSG SozR 4-2500 § 13 Nr 39 RdNr 11, auch zur Veröffentlichung in BSGE vorgesehen). Die Beklagte setzte mit ihrer Leistungsablehnung nicht das mit Eintritt der Genehmigungsfiktion beendete, ursprüngliche Verwaltungsverfahren fort, sondern eröffnete ein neues eigenständiges Verfahren.
2. Der Kläger hat Anspruch auf Erstattung der geltend gemachten, ihm entstandenen Kosten für die auf der Grundlage einer fingierten Genehmigung seines Antrags auf Versorgung mit einer Abdominalplastik und Bruststraffung durchgeführte stationäre Behandlung in der Türkei. Die Voraussetzungen des geltend gemachten Kostenerstattungsanspruchs aus § 13 Abs 3a S 7 SGB V entsprechend dem Rechtsgedanken von § 13 Abs 3 S 1 Alt 2 SGB V (anzuwenden idF des Art 5 Nr 7 Buchst b SGB IX - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen vom 19.6.2001, BGBl I 1046; zu den Grundsätzen vgl BSG SozR 4-2500 § 13 Nr 37 RdNr 24 mwN) sind erfüllt. Die Rechtsnorm bestimmt: Hat die KK eine Leistung zu Unrecht abgelehnt und sind dadurch Versicherten für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden, sind diese von der KK in der entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war. Der Anspruch auf Kostenerstattung (§ 13 Abs 3 S 1 Alt 2 SGB V) ist demnach nur gegeben, wenn folgende Voraussetzungen erfüllt sind: Bestehen eines Primärleistungs(Naturalleistungs-)anspruchs des Versicherten und dessen rechtswidrige Nichterfüllung, Ablehnung der Naturalleistung durch die KK, Selbstbeschaffung der entsprechenden Leistung durch den Versicherten, Ursachenzusammenhang zwischen Leistungsablehnung und Selbstbeschaffung, Notwendigkeit der selbst beschafften Leistung und (rechtlich wirksame) Kostenbelastung durch die Selbstbeschaffung (vgl zum Ganzen: BSG SozR 4-2500 § 13 Nr 20 RdNr 25; E. Hauck in H. Peters, Handbuch der Krankenversicherung, Teil II, Bd 1, 19. Aufl, Stand: 1.4.2018, § 13 SGB V RdNr 233 ff). So liegt es hier: Die Beklagte lehnte es zu Unrecht ab, dem Kläger die beantragte stationäre Behandlung zu gewähren (dazu 3.). Dem Kläger entstanden dadurch, dass er sich eine der abgelehnten entsprechende, entsprechend der fingierten Genehmigung notwendige Leistung - Abdominalplastik und Bruststraffung - selbst verschaffte, die von ihm geltend gemachten Kosten (dazu 4.).
3. Der Antrag des Klägers auf Versorgung mit einer Abdominalplastik und Bruststraffung aufgrund stationärer Behandlung galt mangels rechtzeitiger Entscheidung der Beklagten ohne hinreichende Information des Klägers als genehmigt. Gilt eine beantragte Leistung als genehmigt, erwächst dem Antragsteller hieraus ein Naturalleistungsanspruch als eigenständig durchsetzbarer Anspruch. Der Anspruch ist entsprechend den allgemeinen Grundsätzen auf Freistellung von der Zahlungspflicht gerichtet, wenn die fingierte Genehmigung eine Leistung betrifft, die nicht als Naturalleistung erbracht werden kann (vgl hierzu BSG SozR 4-2500 § 13 Nr 39 RdNr 16 ff, auch zur Veröffentlichung in BSGE vorgesehen; BSG SozR 4-2500 § 13 Nr 36 RdNr 12 mwN, auch zur Veröffentlichung in BSGE vorgesehen; BSGE 121, 40 = SozR 4-2500 § 13 ...
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