Urteil Nr. B 1 KR 21/17 R des Bundessozialgericht, 2019-02-26
Judgment Date | 26 Febrero 2019 |
ECLI | DE:BSG:2019:260219UB1KR2117R0 |
Judgement Number | B 1 KR 21/17 R |
Court | Der Bundessozialgericht (Deutschland) |
Auf die Revision der Klägerin werden das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 18. Mai 2017 und der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Kassel vom 19. Januar 2016 sowie der Bescheid der Beklagten vom 18. Oktober 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. März 2014 aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin 11 400 Euro zu zahlen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits in allen Rechtszügen.
Die Beteiligten streiten über die Erstattung der Kosten für selbstbeschaffte Liposuktionen.
Die bei der beklagten Krankenkasse (KK) versicherte Klägerin beantragte befundgestützt die Versorgung mit Liposuktionen an beiden Ober- und Unterschenkeln sowie Armen und Gesäß (19.9.2013). Die Beklagte holte - ohne die Klägerin hierüber zu unterrichten - eine gutachtliche Stellungnahme des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) ein und lehnte die Versorgung der Klägerin mit Liposuktionen ab: Es handele sich um eine unkonventionelle Methode, für die der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) noch keine Empfehlung ausgesprochen habe (Bescheid vom 18.10.2013 und Widerspruchsbescheid vom 13.3.2014). Mit ihrer Klage auf Erstattung der Kosten von 11 400 Euro für die inzwischen selbstbeschafften Operationen an Ober- und Unterschenkeln sowie Armen hat die Klägerin weder beim SG (Gerichtsbescheid vom 19.1.2016) noch beim LSG Erfolg gehabt. Das LSG hat zur Begründung ausgeführt, die von der Klägerin selbstbeschafften Liposuktionen gehörten nicht zum Leistungskatalog der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Auch die Voraussetzungen einer Genehmigungsfiktion (§ 13 Abs 3a SGB V) seien nicht erfüllt. Die Beauftragung des MDK habe die - eingehaltene - Fünf-Wochen-Frist ausgelöst, obwohl die Beklagte die Klägerin nicht hierüber informiert habe (Urteil vom 18.5.2017).
Die Klägerin rügt mit ihrer Revision die Verletzung von § 13 Abs 3a SGB V. Weder habe der MDK die Drei-Wochen-Frist (§ 13 Abs 3a S 3 SGB V) eingehalten noch habe die Beklagte die Klägerin über die Einholung eines MDK-Gutachtens unterrichtet.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 18. Mai 2017, den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Kassel vom 19. Januar 2016 sowie den Bescheid der Beklagten vom 18. Oktober 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. März 2014 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin die Kosten der selbstbeschafften Liposuktionen an Armen, Ober- und Unterschenkeln in Höhe von 11 400 Euro zu erstatten.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtenen Entscheidungen für zutreffend.
EntscheidungsgründeDie zulässige Revision der Klägerin ist begründet (§ 170 Abs 2 S 1 SGG). Das LSG hat die Berufung der Klägerin gegen den die Klage abweisenden Gerichtsbescheid des SG zu Unrecht zurückgewiesen. Die Entscheidung der Vorinstanz verletzt materielles revisibles Recht. Die zulässige Klage auf Versorgung mit den beantragten Leistungen und auf die isolierte Anfechtung der Ablehnungsentscheidung (§ 56 SGG; stRspr, vgl zB BSG SozR 4-2500 § 13 Nr 37 RdNr 9 ff; BSG Urteil vom 11.9.2018 - B 1 KR 1/18 R - Juris RdNr 9 ff, zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen) ist begründet. Die Klägerin hat Anspruch auf Zahlung von 11 400 Euro Kosten selbstbeschaffter ambulanter Liposuktionen aus § 13 Abs 3a S 7 SGB V (in der seit dem 26.2.2013 geltenden Fassung des Art 2 Nr 1 Gesetz zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten
1. Die Voraussetzungen der Rechtsgrundlage sind erfüllt. Der Anwendungsbereich der Regelung des § 13 Abs 3a S 7 SGB V ist eröffnet (dazu a). Die von der Klägerin beantragten Liposuktionen gelten als von der Beklagten genehmigt (dazu b). Die Klägerin beschaffte sich daraufhin die erforderlichen Leistungen selbst, während sie als genehmigt galten. Hierdurch entstanden ihr 11 400 Euro Kosten (dazu c).
a) Der zeitliche und sachliche Anwendungsbereich der Regelung des § 13 Abs 3a S 7 SGB V ist eröffnet. Nach dem maßgeblichen intertemporalen Recht (vgl zB BSGE 99, 95 = SozR 4-2500 § 44 Nr 13, RdNr 15; BSG SozR 4-2500 § 275 Nr 4 RdNr 13 f mwN) greift die Regelung lediglich für Anträge auf künftig zu erbringende Leistungen, die Berechtigte ab dem 26.2.2013 stellen (vgl BSGE 121, 40 = SozR 4-2500 § 13 Nr 33, RdNr 9; BSGE 123, 293 = SozR 4-2500 § 13 Nr 36, RdNr 15). Die Klägerin stellte am 19.9.2013 bei der Beklagten einen Antrag auf Bewilligung künftig zu leistender Liposuktionen.
Die Regelung ist auch sachlich anwendbar. Denn die Klägerin verlangt weder unmittelbar eine Geldleistung noch Erstattung für Leistungen zur medizinischen Rehabilitation, sondern Erstattung für selbstbeschaffte Krankenbehandlung (stRspr, vgl nur BSGE 121, 40 = SozR 4-2500 § 13 Nr 33, RdNr 11 ff; BSG Urteil vom 11.9.2018 - B 1 KR 1/18 R - Juris RdNr 12 ff, zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen).
b) Grundvoraussetzung des Erstattungsanspruchs aufgrund Genehmigungsfiktion ist nach der Rspr des erkennenden Senats, dass die beantragte Leistung im Sinne des Gesetzes nach Ablauf der Frist als genehmigt gilt (§ 13 Abs 3a S 6 SGB V). Das folgt aus Wortlaut und Binnensystem der Norm, Entstehungsgeschichte und Regelungszweck (vgl zB BSGE 121, 40 = SozR 4-2500 § 13 Nr 33, RdNr 19 f). Gilt eine beantragte Leistung als genehmigt, erwächst dem Antragsteller hieraus ein Naturalleistungsanspruch als eigenständig durchsetzbarer Anspruch. Der Anspruch ist entsprechend den allgemeinen Grundsätzen auf Freistellung von der Zahlungspflicht gerichtet, wenn die fingierte Genehmigung eine Leistung betrifft, die nicht als Naturalleistung erbracht werden kann (stRspr, vgl zB BSGE 121, 40 = SozR 4-2500 § 13 Nr 33, RdNr 25; BSGE 123, 293 = SozR 4-2500 § 13 Nr 36, RdNr 12). Ein solcher Anspruch auf Leistung, den ein Versicherter aufgrund fingierter Genehmigung erlangt, gehört zum Leistungskatalog der GKV (vgl BSG SozR 4-2500 § 13 Nr 39 LS 1, auch zur Veröffentlichung in BSGE vorgesehen; Noftz in Hauck/Noftz, SGB V, Stand August 2018, K § 13 RdNr 58l Anm 7; aA, aber ohne neue Argumente Schneider, NZS 2018, 753, 756 ff; Felix, KrV 2018, 177, 182; Uyanik, KrV 2018, 53, 57 ff).
Die von der Klägerin beantragten Liposuktionen galten in diesem Sinne wegen Fristablaufs als genehmigt. Denn die leistungsberechtigte Klägerin (dazu aa) stellte bei der Beklagten einen hinreichend bestimmten Antrag (dazu bb) auf Leistung von Liposuktionen zur Behandlung ihres Lipödems, die sie für erforderlich halten durfte und die nicht offensichtlich außerhalb des Leistungskatalogs der GKV liegen (dazu cc). Diesen Antrag beschied die Beklagte nicht innerhalb der Frist des § 13 Abs 3a S 1 SGB V, ohne der Klägerin hinreichende Gründe für die Überschreitung der Frist mitzuteilen (dazu dd).
aa) Die Klägerin ist nach den für den Senat bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) als bei der Beklagten Versicherte leistungsberechtigt im Sinne der Regelung. "Leistungsberechtigter" ist derjenige, der berechtigt ist, Leistungen nach dem SGB V zu beanspruchen. Hierzu zählen ua in der GKV Versicherte im Verhältnis zu ihrer jeweiligen KK (stRspr, vgl zB BSGE 121, 40 = SozR 4-2500 § 13 Nr 33, RdNr 22; BSGE 123, 293 = SozR 4-2500 § 13 Nr 36, RdNr 16 mwN).
bb) Die Klägerin beantragte hinreichend bestimmt die Gewährung von Liposuktionen zur Behandlung ihres Lipödems. Damit eine Leistung als genehmigt gelten kann, bedarf es eines fiktionsfähigen Antrags. Der Antrag hat eine Doppelfunktion als Verfahrenshandlung und als materiell-rechtliche Voraussetzung (stRspr, vgl zur Doppelfunktion zB BSGE 96, 161 = SozR 4-2500 § 13 Nr 8, RdNr 14; BSG SozR 4-2500 § 13 Nr 39 RdNr 20, auch zur Veröffentlichung in BSGE vorgesehen; BSG Urteil vom 11.9.2018 - B 1 KR 1/18 R - Juris RdNr 17, zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen). Die Fiktion kann nur dann greifen, wenn der Antrag so bestimmt gestellt ist, dass die auf Grundlage des Antrags fingierte Genehmigung ihrerseits im Sinne von § 33 Abs 1 SGB X hinreichend bestimmt ist (stRspr, vgl zB BSGE 121, 40 = SozR 4-2500 § 13 Nr 33, RdNr 23; BSGE 123, 293 = SozR 4-2500 § 13 Nr 36, RdNr 17). Ein Verwaltungsakt ist - zusammengefasst - inhaltlich hinreichend bestimmt (§ 33 Abs 1 SGB X), wenn sein Adressat objektiv in der Lage ist, den Regelungsgehalt des Verfügungssatzes zu erkennen und der Verfügungssatz ggf eine geeignete Grundlage für seine zwangsweise Durchsetzung bildet. So liegt es, wenn der Verfügungssatz in sich widerspruchsfrei ist und den Betroffenen bei Zugrundelegung der Erkenntnismöglichkeiten eines verständigen Empfängers in die Lage versetzt, sein Verhalten daran auszurichten. Die Anforderungen an die notwendige Bestimmtheit richten sich im Einzelnen nach den Besonderheiten des jeweils anzuwendenden materiellen Rechts (stRspr, vgl zB BSG SozR 4-2500 § 13 Nr 37 RdNr 18 mwN; BSG Urteil vom 11.9.2018 - B 1 KR 1/18 R - Juris RdNr 17, zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen).
Der Antrag der Klägerin genügte diesen Anforderungen. Er richtete sich entsprechend der von ihr vorgelegten ärztlichen Stellungnahme auf die Versorgung mit Liposuktionen ua an Armen und Beinen (Ober- und Unterschenkeln). Die Klägerin untermauerte hiermit ihr Begehren, ohne dieses auf die Erbringung durch nicht zugelassene Ärzte oder eine privatärztliche...
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