Urteil Nr. B 1 KR 18/19 R des Bundessozialgericht, 2019-12-17

Judgment Date17 Diciembre 2019
ECLIDE:BSG:2019:171219UB1KR1819R0
Judgement NumberB 1 KR 18/19 R
CourtDer Bundessozialgericht (Deutschland)
Krankenversicherung - Heilmittelversorgung - Anspruch auf neue Heilmittel grds nur, wenn therapeutischer Nutzen vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) anerkannt - gesetzes- und verfassungskonforme Prüfung eines neuen Heilmittels durch G-BA als hinreichender Sachgrund zur Verweigerung der Versorgung bis zum Prüfende - hier: podologische Behandlung der Füße bei schwerer sensomotorischer Polyneuropathie mit ausgeprägten trophischen Störungen und Wundheilungsstörungen
Leitsätze

1. Versicherte haben verfassungskonform grundsätzlich nur Anspruch auf verordnete neue Heilmittel, deren therapeutischen Nutzen der Gemeinsame Bundesausschuss mit Empfehlungen für die Sicherung der Qualität der Leistungserbringung anerkannt hat.

2. Die gesetzes- und verfassungskonforme Prüfung eines neuen Heilmittels durch den Gemeinsamen Bundesausschuss ist ein hinreichender Sachgrund, Versicherten bis zum Prüfende Versorgung mit dem geprüften Heilmittel zu verweigern.

Tenor

Auf die Revision der Beklagten werden die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 28. März 2019 und des Sozialgerichts Münster vom 28. Februar 2018 aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen.

Kosten sind in allen Rechtszügen nicht zu erstatten.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über Kostenerstattung und künftige Versorgung mit podologischen Behandlungen.

Die 1970 geborene, bei der beklagten Krankenkasse (KK) versicherte Klägerin ist körperlich behindert (insbesondere genetisch bedingte Ataxie mit okulomotorischer Apraxie Typ II). Sie leidet an einer schweren sensomotorischen Polyneuropathie mit ausgeprägten trophischen Störungen und Wundheilungsstörungen im Bereich der Füße und einer chronischen Wunde im Bereich der zweiten und dritte Zehe links mit rezidivierenden Wundrosen und Wundinfektionen. Wegen ihrer körperlichen Einschränkungen kann sie die Pflege der Fußnägel nicht selbst vornehmen. Sie beantragte, gestützt auf eine vertragsärztliche Verordnung, sie mit drei podologischen Komplexbehandlungen zu versorgen (1.10.2015). Ihre behandelnde Internistin hielt dies zur Vermeidung von drohenden Nagelwall- und Nagelbettschädigungen sowie Hautschädigungen wie Fissuren, Ulzera und Entzündungen für notwendig. Die Beklagte lehnte den Antrag ab (Bescheid vom 1.10.2015; Widerspruchsbescheid vom 3.5.2015). Die Klägerin ließ auf eigene Kosten podologische Fußbehandlungen durchführen (25.2.2016 bis 15.8.2018). Das SG hat die Beklagte verurteilt, "der Klägerin aufgrund der ärztlichen Verordnung die Kosten für eine podologische Komplexbehandlung iHv insgesamt 120 Euro (…) zu zahlen, sowie künftig die Kosten für notwendige und verordnete podologische Komplexbehandlungen der aktuell gültigen Vertragssätze entsprechend zu übernehmen" (Urteil vom 28.2.2018). Das LSG hat das SG-Urteil abgeändert und die Beklagte verurteilt, ihr 285 Euro abzüglich gesetzlich zu leistender Zuzahlungen zu erstatten. Es hat festgestellt, "dass die Beklagte verpflichtet ist, die Kosten für ärztlich verordnete podologische Behandlungen der Klägerin zu übernehmen": Die Beschränkung der podologischen Behandlungen auf das diabetische Fußsyndrom sei wegen Verstoßes gegen den Gleichheitssatz (Art 3 Abs 1 GG) unwirksam (Urteil vom 28.3.2019).

Die Beklagte rügt mit ihrer Revision die Verletzung von § 27 Abs 1 Satz 1 SGB V: Danach seien Maßnahmen der podologischen Therapie nur zur Behandlung des diabetischen Fußsyndroms verordnungsfähig.

Die Beklagte beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 28. März 2019 und des Sozialgerichts Münster vom 28. Februar 2018 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision der Beklagten ist begründet (§ 170 Abs 1 Satz 2 SGG). Die angefochtenen Urteile der Vorinstanzen sind aufzuheben und die Klage ist abzuweisen. Die Klägerin hat keinen Anspruch gegen die beklagte KK auf künftige Kostenübernahme podologischer Behandlungen ihrer Füße (dazu 1.). Gleiches gilt im Ergebnis für den Anspruch auf Erstattung der in der Vergangenheit aufgewendeten Kosten (dazu 2.).

1. Im Ergebnis zutreffend gehen die Vorinstanzen davon aus, dass für das Begehren der Klägerin auf künftige Leistungen nur ein Anspruch auf Kostenübernahme in Betracht kommt, nicht aber ein Naturalleistungsanspruch. Die KK darf anstelle der Sach- oder Dienstleistung (§ 2 Abs 2 SGB V) Kosten nur erstatten, soweit es das SGB V oder das SGB IX vorsieht (vgl § 13 Abs 1 SGB V). Die Kostenübernahme umfasst die bloße Kostentragung in Form der Kostenfreistellung oder Kostenerstattung (vgl BSG SozR 4-2500 § 18 Nr 7 RdNr 19). Rechtsgrundlage des Kostenerstattungs- und -freistellungsanspruchs ist § 13 Abs 3 Satz 1 Fall 2 SGB V (hier anzuwenden in der seit 1.7.2001 geltenden Fassung des Art 5 Nr 7 Buchst b SGB IX - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen - vom 19.6.2001, BGBl I 1046). Die Rechtsnorm bestimmt: Hat die KK "eine Leistung zu Unrecht abgelehnt und sind dadurch Versicherten für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden, sind diese von der Krankenkasse in der entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war." Die Rspr des erkennenden Senats erstreckt den Anwendungsbereich der Regelung des § 13 Abs 3 Satz 1 Fall 2 SGB V über den ausdrücklich geregelten Kostenerstattungsanspruch hinaus auch auf Fälle der Kostenfreistellung (stRspr, vgl zB BSGE 113, 241 = SozR 4-2500 § 13 Nr 29, RdNr 10), wenn aufgrund Systemversagens eine Lücke im Naturalleistungssystem besteht, die verhindert, dass Versicherte sich die begehrte Leistung im üblichen Weg der Naturalleistung verschaffen können (vgl BSGE 117, 1 = SozR 4-2500 § 28 Nr 8, RdNr 11 mwN). Der Kostenerstattungs- und Übernahmeanspruch reicht nicht weiter als ein entsprechender Naturalleistungsanspruch; er setzt daher voraus, dass die selbst beschaffte Behandlung zu den Leistungen gehört, welche die KKn allgemein in Natur als Sach- oder Dienstleistung zu erbringen haben (stRspr, vgl zB BSGE 97, 190 = SozR 4-2500 § 27 Nr 12, RdNr 11 mwN LITT; BSGE 100, 103 = SozR 4-2500 § 31 Nr 9, RdNr 13; BSGE 111, 137 = SozR 4-2500 § 13 Nr 25, RdNr 15; vgl zum Ganzen: E. Hauck in H. Peters, Handbuch der Krankenversicherung, Bd 1, 19. Aufl, Stand: 1.1.2019, § 13 SGB V RdNr 233 ff). Hierfür genügt es auch, dass der Versicherte zwar keinen Natural- oder Sachleistungsanspruch nach Maßgabe des Leistungserbringungsrechts hat, wohl aber einen sachleistungsersetzenden Kostenerstattungs- oder -freistellungsanspruch wegen Systemversagens (vgl BSGE 117, 10 = SozR 4-2500 § 13 Nr 32, RdNr 8). Daran fehlt es.

a) Welche Leistungen die KKn allgemein in Natur als Sach- oder Dienstleistung zu erbringen haben, bemisst sich grundsätzlich nach dem Zusammenspiel von Leistungs- und Leistungserbringungsrecht. Versicherte haben aus § 27 SGB V nicht lediglich ein bloßes subjektiv-öffentlich-rechtliches Rahmenrecht oder einen bloßen Anspruch dem Grunde nach (so noch BSGE 73, 271 = SozR 3-2500 § 13 Nr 4 S 18), sondern einen konkreten Individualanspruch, dessen Reichweite und Gestalt sich aus dem Zusammenspiel mit weiteren gesetzlichen und untergesetzlichen Rechtsnormen ergibt (zum Individualanspruch Versicherter vgl BSG Beschluss vom 7.11.2006 - B 1 KR 32/04 R - juris RdNr 54 = GesR 2007, 276; BSGE 113, 241 = SozR 4-2500 § 13 Nr 29, RdNr 11 mwN; BSGE 117, 1 = SozR 4-2500 § 28 Nr 8, RdNr 14 mwN; E. Hauck in H. Peters, Handbuch der Krankenversicherung, Bd 1, 19. Aufl, Stand 1.1.2019, § 13 SGB V RdNr 53 f).

Nach § 27 Abs 1 Satz 1 SGB V (idF durch Art 1 Nr 14 Buchst a Gesetz zur Sicherung und Strukturverbesserung der gesetzlichen Krankenversicherung - Gesundheitsstrukturgesetz GSG> vom 21.12.1992, BGBl I 2266 mWv 1.1.1993) haben Versicherte - wie die Klägerin - Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Die Krankenbehandlung umfasst ua die Versorgung mit verordnungsfähigen Heilmitteln (§ 27 Abs 1 Satz 2 Nr 3 SGB V). Welche Heilmittel verordnungsfähig sind, regelt der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) in Richtlinien nach § 92 Abs 1 Satz 2 Nr 6 SGB V (§ 32 Abs 1 Satz 2 SGB V). Die an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Ärzte dürfen neue Heilmittel nur verordnen, wenn der GBA zuvor ihren therapeutischen Nutzen anerkannt und in den Richtlinien nach § 92 Abs 1 Satz 2 Nr 6 SGB V Empfehlungen für die Sicherung der Qualität bei der Leistungserbringung abgegeben hat (vgl § 138 SGB V).

Die podologische Behandlung der Füße bei schwerer sensomotorischer Polyneuropathie mit ausgeprägten trophischen Störungen und Wundheilungsstörungen im Bereich der Füße und einer chronischen Wunde im Bereich der zweiten und dritte Zehe links mit rezidivierenden Wundrosen und Wundinfektionen ist ein neues Heilmittel. Nach § 2 Abs 1 Satz 1 und 2 HeilM-RL sind Heilmittel persönlich zu erbringende medizinische Leistungen. Hierzu zählen auch die einzelnen Maßnahmen der podologischen Therapie nach § 28 Abs 4 Nr 1 bis 4 HeilM-RL als verordnungsfähige Heilmittel (vgl auch BSG Urteil vom 18.12.2018 - B 1 KR 34/17 R - juris RdNr 17 f, zur Veröffentlichung in SozR 4-2500 § 28 Nr 9 vorgesehen). Für die Frage, ob ein Heilmittel "neu" ist, kommt es grundsätzlich auf eine formelle Sichtweise an. Diese richtete sich ursprünglich nach dem Stand der Beschlüsse des Bundesausschusses bei Inkrafttreten des § 138 SGB V am 1.1.1989 (BSG SozR 3-2500 § 138 Nr 2 S 26, 28, 31; BSGE 94, 221 RdNr 24 = SozR 4-2400 § 89 Nr 3 RdNr 25). Schon Abschnitt A 2. Anlage 1 der Heil- und Hilfsmittel-RL idF vom 17.6.1992 (Beilage zu BAnz Nr 183) bestimmte im Übrigen, dass Maßnahmen dann "neu" sind, wenn sie zum Zeitpunkt der Prüfung durch den Bundesausschuss nach den Heilmittel-RL nicht verordnungsfähig sind oder zwar schon verordnet werden können, aber hinsichtlich ihres Indikationsbereiches wesentliche Änderungen oder Erweiterungen erfahren haben (vgl BSG SozR...

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