Urteil Nr. B 1 KR 20/22 R des Bundessozialgericht, 2023-06-29
Judgment Date | 29 Junio 2023 |
ECLI | DE:BSG:2023:290623UB1KR2022R0 |
Judgement Number | B 1 KR 20/22 R |
Court | Der Bundessozialgericht (Deutschland) |
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 24. Mai 2022 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt auch die Kosten des Revisionsverfahrens.
Der Streitwert für das Revisionsverfahren wird auf 1123,04 Euro festgesetzt.
Die Beteiligten streiten über die Vergütung stationärer Krankenhausbehandlung und in diesem Zusammenhang über den Anfall eines Verlegungsabschlages.
Das klagende Universitätsklinikum (im Folgenden: Universitätsklinikum) behandelte einen bei der beklagten Krankenkasse (im Folgenden: KK) versicherten Säugling vom 19. bis 20.9.2015 vollstationär. Der Versicherte war zuvor am 17.9.2015 im Krankenhaus N geboren worden und wurde am Tag der Entlassung aus dem Universitätsklinikum mit der Diagnose Z76.2 (Gesundheitsüberwachung und Betreuung eines anderen gesunden Säuglings und Kindes) erneut in dieses Krankenhaus aufgenommen, wo sich seine Mutter nach wie vor in stationärer Behandlung befand. Das Universitätsklinikum rechnete für die Behandlung des Versicherten 2221,20 Euro nach Maßgabe der Fallpauschale P67C ab und berücksichtigte dabei keinen Verlegungsabschlag. Die KK beglich die Rechnung zunächst und verrechnete am 29.12.2016 einen Betrag in Höhe von 1123,04 Euro mit anderen unstreitigen Forderungen des Universitätsklinikums. Sie machte geltend, es sei ein Verlegungsabschlag zu berücksichtigen.
Das SG hat die KK zur Zahlung des verrechneten Betrages nebst Zinsen in Höhe von zwei Prozentpunkten über dem Basiszinssatz ab dem 30.12.2016 verurteilt (Urteil vom 8.10.2020). Die hiergegen gerichtete Berufung der KK hat das LSG unter Verweis auf die Begründung des erstinstanzlichen Urteils zurückgewiesen. Zwar sei der Tatbestand einer Verlegung nach dem isolierten Wortlaut des § 1 Abs 1 Satz 4 Fallpauschalenvereinbarung (FPV) 2015 erfüllt. Die Auslegung der Vorschrift nach dem isolierten Wortlaut reiche bereits deshalb nicht aus, weil hieraus nicht hervorgehe, welche Person beziehungsweise in welchem Erkrankungs-, Gesundheits- oder Behandlungsstatus dies von der Vorschrift gemeint sei. Es werde nicht geregelt, ob die verlegte Person stationär behandlungsbedürftig sein müsse oder nicht, also etwa auch eine Begleitperson Regelungssubjekt sein könne. Die deshalb ergänzend vorzunehmende systematische Betrachtung zeige, dass sich die Regelung ausschließlich auf (stationär) behandlungsbedürftige Personen beziehe. Das LSG hat mit Einverständnis der Beteiligten durch den Vorsitzenden und Berichterstatter als Einzelrichter entschieden und die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen (Urteil vom 24.5.2022).
Mit ihrer Revision rügt die KK sinngemäß die Verletzung von § 1 Abs 1 Satz 4 FPV 2015. Eine Verlegung setze nach dem Wortlaut dieser Regelung und der Systematik nur voraus, dass ein Versicherter innerhalb von 24 Stunden aus einem Krankenhaus entlassen und in einem anderen Krankenhaus aufgenommen wird. Auf die stationäre Behandlungsbedürftigkeit komme es insoweit nicht an.
Die Beklagte beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 24. Mai 2022 und des Sozialgerichts Hildesheim vom 8. Oktober 2020 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie ist der Ansicht, die Revision sei über das elektronische Postfach für den Datenaustausch zwischen Behörden und Gerichten (beBPo) bereits nicht wirksam eingereicht worden, weil für Rechtsanwälte eine aktive Nutzungspflicht des besonderen elektronischen Anwaltspostfachs (beA) bestehe. Im Übrigen hält sie die angefochtene Entscheidung des LSG für zutreffend.
EntscheidungsgründeDie Revision der beklagten KK ist zulässig (dazu 1.) aber unbegründet (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG; dazu 3.). Verfahrenshindernisse stehen einer Sachentscheidung des Senats nicht entgegen (dazu 2.).
1. Die Revision der KK ist zulässig. Sie ist insbesondere formwirksam eingelegt worden. Der für die KK auftretende Syndikusrechtsanwalt konnte die Revisionsschrift wirksam über das beBPo der KK einreichen und musste hierfür nicht das für ihn persönlich eingerichtete beA nutzen.
a) Ab dem 1.1.2022 sind insbesondere Rechtsanwälte und Behörden verpflichtet, vorbereitende Schriftsätze und deren Anlagen sowie schriftlich einzureichende Anträge und Erklärungen als elektronisches Dokument zu übermitteln (vgl § 65d Satz 1 SGG idF von Art 4 Nr 4 des Gesetzes zur Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten vom 10.10.2013, BGBl I 3786 sowie BT-Drucks 17/12634 S 27 - zu Nr 4). Das elektronische Dokument muss von der verantwortenden Person entweder mit einer qualifizierten elektronischen Signatur (qeS) versehen worden sein (§ 65a Abs 3 Satz 1 Alt 1 SGG) oder von ihr (einfach) signiert und auf einem sicheren Übermittlungsweg eingereicht werden (§ 65a Abs 3 Satz 1 Alt 2 SGG). Zu den sicheren Übermittlungswegen zählen nach § 65a Abs 4 Nr 2 und 3 SGG ua die Übersendung aus dem beA nach § 31a Bundesrechtsanwaltsordnung und aus dem beBPo. Im Falle der Übersendung auf einem sicheren Übermittlungsweg bedarf es grundsätzlich keiner qeS (vgl BSG vom 27.9.2022 - B 7 AS 60/22 B - juris RdNr 8; BVerwG vom 4.5.2020 - 1 B 16.20 ua - Buchholz 310 § 55a VwGO Nr 4 = juris RdNr 5).
b) Ob und unter welchen Voraussetzungen die Verpflichtung zur elektronischen Einreichung nach § 65d Satz 1 SGG auch für Syndikusrechtsanwälte gilt, kann vorliegend dahingestellt bleiben (vgl dazu BAG vom 23.5.2023 - 10 AZB 18/22 - juris RdNr 9 ff mwN zum Streitstand; ferner Gädeke in jurisPK-ERV, 2. Aufl, § 65d SGG RdNr 21 ff, Stand 24.3.2023; H. Müller in jurisPK-ERV, 2. Aufl, § 65a SGG RdNr 278 ff, Stand 6.6.2023; Elking, NZA 2022, 1009 ff).
Denn ungeachtet der Frage, ob sich die aktive Nutzungspflicht vorliegend daraus ergab, dass die beklagte KK eine Behörde ist oder daraus, dass für diese ein Syndikusrechtsanwalt aufgetreten ist, verlangt § 65d Satz 1 SGG in beiden Fällen lediglich eine Übermittlung "als elektronisches Dokument", dh unter Nutzung entweder einer qeS oder eines sicheren Übermittlungsweges. Welcher der in § 65a Abs 4 SGG geregelten sicheren Übermittlungswege zu nutzen ist, schreibt die Vorschrift dagegen nicht vor. Syndikusrechtsanwälte, die - wie hier - für eine Behörde auftreten, können daher für die Übermittlung zumindest auch das beBPo der Behörde nutzen. Das steht auch im Einklang mit dem Normzweck des § 65d SGG, wie er in den Gesetzesmaterialien seinen Niederschlag gefunden hat. Danach soll die aktive Nutzungspflicht sicherstellen, dass der elektronische Rechtsverkehr (ua) durch Rechtsanwälte und Behörden genutzt wird und den Gerichten hierdurch soweit wie möglich Druck- und Scanaufwände durch den Medienbruch erspart bleiben (vgl BT-Drucks 17/12634 S 27 zu § 130d ZPO; vgl dazu auch BGH vom 24.11.2022 - IX ZB 11/22 - juris RdNr 19; BAG vom 23.5.2023 - 10 AZB 18/22 - juris RdNr 34). Dieser Zweck wird unabhängig davon erreicht, welcher der zugelassenen Wege für die Übermittlung elektronischer Dokumente genutzt wird.
2. An einer Sachentscheidung ist der Senat nicht dadurch gehindert, dass das LSG über die Berufung der Beklagten gemäß § 155 Abs 3 und 4 SGG durch den konsentierten Einzelrichter entschieden und die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen hat. Zwar ist in der Rechtsprechung des BSG überwiegend anerkannt, dass es grundsätzlich ermessensfehlerhaft ist, wenn das LSG durch den Einzelrichter entscheidet und selbst die Revision zum BSG wegen grundsätzlicher Bedeutung der entschiedenen Rechtssache zulässt. Die Entscheidung solcher Rechtssachen soll grundsätzlich dem LSG-Senat in seiner vollen Besetzung und mit ehrenamtlichen Richtern (§ 33 Abs 1 Satz 1 SGG) vorbehalten sein (vgl ua BSG vom 8.11.2007 - B 9/9a SB 3/06 R - BSGE 99, 189 = SozR 4-1500 § 155 Nr 2, RdNr 22; BSG vom 31.8.2011 - GS 2/10 - BSGE 109, 81 = SozR 4-1200 § 52 Nr 4, RdNr 7; BSG vom 7.8.2014 - B 13 R 37/13 R - juris RdNr 14 ff; BSG vom 29.1.2019 - B 2 U 5/18 R - juris RdNr 13 ff; BSG vom 1.6.2022 - B 3 KS 1/21 R - juris RdNr 9; BSG vom 27.9.2022 - B 7/14 AS 59/21 R - juris RdNr 16; BSG vom 21.12.2022 - B 9 SB 3/20 R - juris RdNr 8; BSG vom 13.12.2022 - B 12 KR 14/20 R - juris RdNr 8).
Eine Ausnahme von diesem Grundsatz ist aber ua für den Fall anerkannt...
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