Urteil Nr. B 1 KR 35/21 R des Bundessozialgericht, 2023-06-29

Judgment Date29 Junio 2023
ECLIDE:BSG:2023:290623UB1KR3521R0
Judgement NumberB 1 KR 35/21 R
CourtDer Bundessozialgericht (Deutschland)
Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 4. Februar 2021 aufgehoben und die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mainz vom 19. November 2020 zurückgewiesen.

Kosten des Rechtsstreits sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

Streitig ist die Versorgung mit dem Arzneimittel Translarna (Ataluren).

Der 2004 geborene, bei der beklagten Krankenkasse (KK) versicherte Kläger leidet an einer Duchenne-Muskeldystrophie (DMD) infolge Nonsense-Mutation des Dystrophin-Gens (nmDMD). Hierbei handelt es sich um eine genetisch bedingte, fortschreitende und typischerweise im frühen Erwachsenenalter tödliche Erkrankung. Der Kläger ist seit 2015 nicht mehr gehfähig. Am 4.7.2019 beantragte er die Kostenübernahme für das Arzneimittel Translarna. Dieses ist in der Europäischen Union (EU) für die Behandlung der DMD infolge einer Nonsense-Mutation im Dystrophin-Gen bei gehfähigen Patienten im Alter ab zwei (bis Juli 2018 ab fünf) Jahren zugelassen. Der pharmazeutische Unternehmer beantragte bei der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) am 29.8.2018 eine Erweiterung der Indikation von Translarna auf gehunfähige Patienten bei nmDMD. Die EMA empfahl durch den Ausschuss für Humanarzneimittel, den Antrag abzulehnen (Gutachten des Ausschusses für Humanarzneimittel CHMP> vom 27.6.2019). Nachdem auch ein weiterer Antrag ablehnend begutachtet wurde (Gutachten des CHMP vom 17.10.2019), verfolgte der pharmazeutische Unternehmer das Verfahren auf Zulassungserweiterung nicht weiter. Auf Empfehlung des CHMP wurde im Juli 2020 in der Fachinformation für Translarna die Aussage "Bei nicht gehfähigen Patienten wurde keine Wirksamkeit nachgewiesen" gestrichen. Nach der hierzu veröffentlichten Pressemitteilung des Herstellers sollte dies den behandelnden Ärzten ermöglichen, aufgrund ihrer klinischen Bewertung über die Weiterbehandlung ihrer Patienten zu entscheiden, die unter Translarna ihre Gehfähigkeit verloren hätten. Die Beklagte lehnte den Antrag des Klägers auf Kostenübernahme für Translarna ab (Bescheid vom 1.8.2019; Widerspruchsbescheid vom 28.1.2020).

Das SG hat die Klage auf Versorgung mit Translarna abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 19.11.2020). Das LSG hat die SG-Entscheidung aufgehoben und die Beklagte verurteilt, den Kläger unter Abgabe einer Kostenübernahmeerklärung mit Translarna zu versorgen. Der Anspruch ergebe sich aus § 2 Abs 1a SGB V. Die Versorgung des nicht mehr gehfähigen Klägers mit Translarna verspreche eine auf Indizien gestützte, nicht ganz fernliegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Verlauf der Erkrankung. Die Erweiterung der Indikation sei aufgrund einer nicht aussagekräftigen Datenlage abgelehnt worden, nicht aufgrund eines negativen Nutzen-Risiko-Verhältnisses. Die weitere wissenschaftliche Erforschung der Wirksamkeit von Translarna habe seither neue Hinweise auf eine positive Wirkung erbracht. Die Ablehnung der Indikationserweiterung entfalte daher keine Sperrwirkung (Urteil vom 4.2.2021).

Mit ihrer Revision rügt die Beklagte die Verletzung des § 2 Abs 1a SGB V. Nach der Rspr des BSG entfalte die Ablehnung einer Zulassungserweiterung eine Sperrwirkung; dem seien Fälle gleichgestellt, in denen der Hersteller - wie hier - einen Antrag auf Zulassungserweiterung im Hinblick auf ein negatives Gutachten des CHMP nicht weiterverfolge. Ein Anspruch nach § 2 Abs 1a SGB V scheide daher aus.

Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 4. Februar 2021 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mainz vom 19. November 2020 zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Er hält die angegriffene Entscheidung für zutreffend.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision der Beklagten ist begründet (§ 170 Abs 2 Satz 1 SGG). Der Kläger hat keinen Anspruch auf Versorgung mit Translarna. Der Anspruch besteht weder nach den für zugelassene Arzneimittel geltenden Vorschriften (§ 27 Abs 1 Satz 1 Nr 3 Alt 1 SGB V iVm § 31 Abs 1 Satz 1 SGB V, dazu A.), noch nach § 35c SGB V oder den allgemeinen Grundsätzen der Rspr zum Off-Label-Use (dazu B.), noch nach § 2 Abs 1a SGB V (dazu C.).

A. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Versorgung mit Translarna nach den für zugelassene Arzneimittel geltenden Vorschriften (§ 27 Abs 1 Satz 1 Nr 3 Alt 1 SGB V iVm § 31 Abs 1 Satz 1 SGB V).

Der Anspruch auf Versorgung mit zugelassenen Arzneimitteln setzt voraus, dass das Arzneimittel in demjenigen Indikationsgebiet eingesetzt werden soll, auf das sich die Arzneimittelzulassung erstreckt (stRspr; vgl zB BSG vom 13.12.2016 - B 1 KR 10/16 R - BSGE 122, 181 = SozR 4-2500 § 2 Nr 6, RdNr 12; BSG vom 4.4.2006 - B 1 KR 12/04 R - BSGE 96, 153 = SozR 4-2500 § 27 Nr 7, RdNr 22; BSG vom 26.9.2006 - B 1 KR 1/06 R - BSGE 97, 112 = SozR 4-2500 § 31 Nr 5, RdNr 15). Die arzneimittelrechtliche Zulassung kann sich aus innerstaatlichem Recht oder aus dem EU-Recht ergeben (vgl etwa §§ 21 Abs 1, 25b Abs 2, 3 Arzneimittelgesetz <AMG>, Art 3 EGV 726/2004 - Verordnung > Nr 726/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31.3.2004 zur Festlegung von Gemeinschaftsverfahren für die Genehmigung und Überwachung von Human- und Tierarzneimitteln und zur Errichtung einer Europäischen Arzneimittel-Agentur, ABl L 136, 1 vom 30.4.2004, zuletzt geändert durch Art Verordnung 2019/5 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11.12.2018, ABl L 4, 24 vom 7.1.2019). Die Arzneimittelzulassung kann sich aber nicht allein aus ausländischem Recht ergeben (vgl BSG vom 13.12.2016 - B 1 KR 10/16 R - BSGE 122, 181 = SozR 4-2500 § 2 Nr 6, RdNr 12; BSG vom 11.9.2018 - B 1 KR 36/17 R - juris RdNr 12). Arzneimittel, die als Arzneimittel für seltene Leiden nach der EGV 141/2000 (Verordnung Nummer 141/2000 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.12.1999 über Arzneimittel für seltene Leiden, ABl L 18, 1 vom 22.1.2000, zuletzt geändert durch Art 1 VO 2019/1243 vom 20.6.2019, ABl L 198, 241 vom 25.7.2019) ausgewiesen sind, bedürfen verpflichtend einer europäischen Genehmigung (Art 3 Abs 1 v iVm Nr 4 Anhang EGV 726/2004).

Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts, die den Senat mangels durchgreifender Verfahrensrügen binden (§ 163 SGG), ist Translarna in der EU seit Juli 2014 als Arzneimittel für seltene Leiden für die Behandlung der nmDMD bei gehfähigen Patienten (seit 2018 im Alter ab zwei Jahren) zugelassen, nicht jedoch für die Behandlung nicht gehfähiger Patienten. Ob mit der Empfehlung des CHMP und der darauf beruhenden Änderung der Fachinformation vom Juli 2020 eine Indikationserweiterung dahingehend eingetreten ist, dass die Behandlung von Patienten mit Translarna ermöglicht wird, die unter laufender Therapie mit dem Arzneimittel ihre Gehfähigkeit verloren haben, kann offenbleiben. Denn der Kläger war bereits zu Behandlungsbeginn gehunfähig und seine Erkrankung damit nicht vom Indikationsgebiet von Translarna erfasst.

B. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Versorgung mit Translarna im Off-Label-Use, weder nach § 35c SGB V, der die zulassungsüberschreitende Anwendung von Arzneimitteln aufgrund von Empfehlungen des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA) im Falle von klinischen Studien regelt, noch nach den allgemeinen Grundsätzen der Rspr zum Off-Label-Use.

Ein Anspruch nach § 35c SGB V scheidet aus, da für die beim Kläger bestehende Indikation keine Bewertung nach § 35c Abs 1 SGB V erfolgt ist und die Behandlung nicht im Rahmen einer ambulanten klinischen Studie erfolgen soll.

Ist - wie hier - ein nicht in der Arzneimittel-Richtlinie geregelter Off-Label-Use betroffen, bleiben die allgemeinen, vom Senat entwickelten Grundsätze für einen Off-Label-Use zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) unberührt (stRspr; vgl BSG vom 13.12.2016 - B 1 KR 10/16 R - BSGE 122, 181 = SozR 4-2500 § 2 Nr 6; BSG vom 8.11.2011 - B 1 KR 19/10 R - BSGE 109, 211 = SozR 4-2500 § 31 Nr 19, RdNr 16). Die nach diesen Grundsätzen erforderlichen Voraussetzungen sind ebenfalls nicht erfüllt. Ein Off-Label-Use kommt danach nur in Betracht, wenn es 1. um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung geht, wenn 2. keine andere Therapie verfügbar ist und wenn 3. aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann. Abzustellen ist dabei auf die im jeweiligen Zeitpunkt der Behandlung vorliegenden Erkenntnisse (vgl BSG vom 19.3.2020 - B 1 KR 22/18 R - juris RdNr 18; BSG vom 13.12.2016 - B 1 KR 10/16 R - BSGE 122, 181 = SozR 4-2500 § 2 Nr 6, RdNr 16; BSG vom 8.11.2011 - B 1 KR 19/10 R - BSGE 109, 211 = SozR 4-2500 § 31 Nr 19, RdNr 16 mwN; BSG vom 26.9.2006 - B 1 KR 1/06 R - BSGE 97, 112 = SozR 4-2500 § 31 Nr 5, RdNr 19; vgl zum Off-Label-Use aus der Rspr des für das Vertragsarztrecht zuständigen 6. Senats zB BSG vom 13.8.2014 - B 6 KA 38/13 R - SozR 4-2500 § 106 Nr 47 RdNr 31; zur Verfassungsmäßigkeit vgl BVerfG vom 30.6.2008 - 1 BvR 1665/07 - BVerfGK 14, 46, 48 f = SozR 4-2500 § 31 Nr 17 RdNr 10 f).

Vorliegend fehlt es an einer im Zeitpunkt der Behandlung aufgrund der Datenlage begründeten Erfolgsaussicht. Dafür müssten Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten lassen, dass das betroffene Arzneimittel für die relevante Indikation zugelassen werden kann. Es müssen also Erkenntnisse in der Qualität einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III (gegenüber Standard oder Placebo) veröffentlicht sein und einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen (vgl zB BSG vom 19.3.2020 - B 1 KR 22/18 R - juris RdNr 18; BSG vom 20.3.2018 - B 1 KR 4/17 R - SozR 4-2500 § 2 Nr 12 RdNr 16; BSG vom 8.11.2011 - B 1 KR 19/10 R - BSGE 109, 211 = SozR 4-2500 § 31 Nr 19, RdNr 17 mwN).

An solchen Erkenntnissen fehlt es hier. Nach den nicht mit zulässigen und begründeten Verfahrensrügen angegriffenen, den Senat...

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