Urteil Nr. B 1 KR 12/22 R des Bundessozialgericht, 2023-06-29

Judgment Date29 Junio 2023
ECLIDE:BSG:2023:290623UB1KR1222R0
Judgement NumberB 1 KR 12/22 R
CourtDer Bundessozialgericht (Deutschland)
Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 7. April 2022 wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt auch die Kosten des Revisionsverfahrens.

Der Streitwert für das Revisionsverfahren wird auf 157 166,44 Euro festgesetzt.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Erstattung anteiliger Kosten einer stationären Krankenhausbehandlung nebst Zinsen.

Der 1962 geborene N1 war bis September 2008 bei der Rechtsvorgängerin der beklagten Krankenkasse (KK) versichert. Er war zuletzt im Justizvollzug des klagenden Landes inhaftiert. Dort wurde er zunächst im Justizvollzugskrankenhaus stationär behandelt und am 8.9.2010 aufgrund der Schwere seiner Erkrankungen in ein Universitätsklinikum verlegt, wo er am 12.12.2010 verstarb. Ab 15.9.2010 wurde die Haftunterbrechung wegen Haftunfähigkeit angeordnet.

Das Universitätsklinikum stellte entsprechend der vom Kläger zuvor abgegebenen Kostenzusage am 7.1.2011 für den Behandlungszeitraum 8.9.2010 bis 12.12.2010 insgesamt 169 668,33 Euro in Rechnung. Der Kläger sah eine Zuständigkeit seines Justizvollzugs als Kostenträger ab der Haftunterbrechung nicht mehr als gegeben an. Er wandte sich zur Ermittlung eines Kostenträgers am 28.3.2011 zunächst erfolglos an das Universitätsklinikum, bevor er die Rechnung vollständig und vorbehaltlos beglich. Mit Schreiben vom 20.10.2011 machte er gegenüber einer anderen KK, der AOK Plus, einen Erstattungsanspruch geltend, den diese unter Hinweis auf eine spätere Versicherung bei einer weiteren KK, der DAK, ablehnte. Diese lehnte die Zahlung unter Hinweis auf die zuletzt bis September 2008 bei der Rechtsvorgängerin der beklagten KK bestehende Pflichtversicherung ab. Gegenüber der Beklagten machte der Kläger den Erstattungsanspruch am 4.10.2013 geltend. Die Beklagte lehnte eine Erstattung der Kosten ab.

Das SG hat die am 15.12.2013 erhobene Klage auf Zahlung von 157 166,44 Euro nebst Zinsen für die anteiligen Behandlungskosten ab der Haftunterbrechung abgewiesen. Das LSG hat die hiergegen gerichtete Berufung zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, ein Erstattungsanspruch nach § 105 SGB X bestehe zwar dem Grunde nach. Der Kläger habe als sachlich unzuständiger Leistungsträger Sozialleistungen - Hilfe bei Krankheit nach dem SGB XII - geleistet. Die stationäre Krankenbehandlung des Versicherten sei ihm für die Zeit ab der Haftunterbrechung als Sozialhilfeträger zuzurechnen. Er habe insoweit als zuständiger örtlicher und überörtlicher Sozialhilfeträger gehandelt. Der Erstattungsanspruch sei jedoch wegen Ablaufs der hierfür geltenden Jahresfrist nach § 111 Satz 1 SGB X ausgeschlossen. Ein Anspruch aus einer öffentlich-rechtlichen Geschäftsführung ohne Auftrag scheide aus, da der Kläger aufgrund seiner Kostenzusage eine eigene Verbindlichkeit erfüllt habe und ein Fremdgeschäftsführungswille nicht vorliege. Ein öffentlich-rechtlicher Erstattungsanspruch gegen die Beklagte scheitere am Vorrang der Leistungsbeziehung, da der Kläger die Rechnung des Universitätsklinikums aufgrund einer eigenen Verpflichtung beglichen habe. Andere Anspruchsgrundlagen kämen nicht in Betracht.

Mit seiner Revision rügt der Kläger eine Verletzung von §§ 105 und 111 SGB X. Die Zahlung sei keine Sozialleistung. Selbst wenn man die Zahlung als Leistung der Sozialhilfe qualifiziere, richte sich der Erstattungsanspruch nicht nach § 105 SGB X, sondern nach § 104 Abs 1 SGB X. Die Frist nach § 111 SGB X sei nicht versäumt. Der Erstattungsanspruch sei bei der AOK Plus innerhalb der Frist geltend gemacht worden. Die Ausschlussfrist greife nicht, wenn der erstattungsberechtigte Träger erst später als zwölf Monate nach Leistungserbringung Kenntnis vom letztlich erstattungspflichtigen Träger erlange, zuvor aber das ihm Mögliche und Zumutbare unternommen habe. Das LSG habe den tatsächlichen Ablauf nicht ausreichend ermittelt und verletze die Grenzen freier Beweiswürdigung, wenn es der Anfrage bei dem Universitätsklinikum mit Schreiben vom 28.3.2011 keinen Fremdgeschäftsführungswillen im Sinne einer Geschäftsführung ohne Auftrag entnehme. Die vorbehaltlose Zahlung stehe dem nicht entgegen. Auch habe das LSG keine ausreichenden eigenen Ermittlungen zur Feststellung des tatsächlichen objektiven Empfängerhorizonts unternommen.

Der Kläger beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 7. April 2022 und des Sozialgerichts Berlin vom 31. Januar 2019 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger 157 166,44 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 16. Dezember 2013 zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision ist nicht begründet. Das LSG hat die Berufung des Klägers gegen das klageabweisende Urteil des SG zu Recht zurückgewiesen.

1. Nachdem SG und LSG den Sozialrechtsweg zumindest stillschweigend bejaht haben, hat der Senat dessen Eröffnung nicht mehr nachzuprüfen (§ 17a Abs 5 GVG; vgl BSG vom 20.5.2003 - B 1 KR 7/03 R - SozR 4-1720 § 17a Nr 1, amtl Ls). Der Rechtsstreit ist unter allen in Betracht kommenden rechtlichen Gesichtspunkten zu entscheiden (§ 17 Abs 2 Satz 1 GVG).

2. Ob vorliegend die §§ 102 ff SGB X als Anspruchsgrundlage infrage kommen, kann letztlich dahinstehen. Selbst wenn Erstattungsansprüche zwischen Sozialleistungsträgern nach §§ 102 ff SGB X vorlägen (dazu a), wären sie aufgrund des Ablaufs der Jahresfrist ausgeschlossen (dazu b). Ein Anspruch aufgrund öffentlich-rechtlicher Geschäftsführung ohne Auftrag (dazu c) wie auch ein öffentlich-rechtlicher Erstattungsanspruch (dazu d) sind ausgehend von den bindenden Feststellungen des LSG nicht entstanden. Andere Anspruchsgrundlagen kommen nicht in Betracht (hierzu e).

a) Es ist bereits zweifelhaft, ob die §§ 102 ff SGB X überhaupt einschlägig sind.

Die Erstattungsansprüche von Leistungsträgern untereinander nach §§ 102 ff SGB X setzen voraus, dass anstelle des letztlich verpflichteten Leistungsträgers ein anderer Leistungsträger Sozialleistungen erbracht hat (vgl etwa BSG vom 28.3.2017 - B 1 KR 15/16 R - BSGE 123, 10 = SozR 4-1300 § 107 Nr 7, RdNr 16; BSG vom 30.7.2019 - B 1 KR 15/18 R - BSGE 128, 295 = SozR 4-2500 § 85 Nr 89, RdNr 11).

§ 11 Satz 1 SGB I definiert den Begriff der Sozialleistung für alle Sozialleistungsbereiche. Gegenstand der sozialen Rechte sind danach die im SGB vorgesehenen Dienst-, Sach- und Geldleistungen (Sozialleistungen). Sozialleistungen sind solche Leistungen, die der Verwirklichung eines der in §§ 3 bis 10 SGB I genannten sozialen Rechte dienen, im SGB geregelt sind und die dem Träger der sozialen Rechte dadurch zugutekommen, dass bei ihm eine vorteilhafte Rechtsposition begründet wird (vgl BSG vom 30.7.2019 - B 1 KR 15/18 R - BSGE 128, 295 = SozR 4-2500 § 85 Nr 89, RdNr 12; BSG vom 28.3.2017 - B 1 KR 15/16 R - BSGE 123, 10 = SozR 4-1300 § 107 Nr 7, RdNr 17). Den Begriff des Leistungsträgers definiert § 12 Satz 1 SGB I, wonach für die Sozialleistungen die in den §§ 18 bis 29 SGB I genannten Körperschaften, Anstalten und Behörden zuständig sind (Leistungsträger).

Als Träger des Justizvollzugs erbringt das klagende Land (Kläger) von vornherein keine Sozialleistungen. Zwar ist er zugleich (örtlicher und überörtlicher) Träger der Sozialhilfe. Als solcher hätte er auch Hilfe bei Krankheit nach § 48 SGB XII leisten können. Der Senat kann jedoch offenlassen, ob der Kläger mit der Übernahme der Krankenhausbehandlung im vorliegenden Fall tatsächlich eine Sozialleistung - konkret: Hilfe bei Krankheit - erbracht hat und insoweit als Leistungsträger tätig geworden ist. Die Erbringung einer Sozialleistung nach § 48 Satz 1 SGB XII durch den Kläger als Träger der Sozialhilfe ist im vorliegenden Fall grundsätzlich denkbar. Denn für eine sog Quasiversicherung durch einen laufenden Bezug von Leistungen nach dem SGB XII (vgl hierzu BSG vom 5.9.2019 - B 8 SO 15/18 R - SozR...

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